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Eine neue Generation deutschsprachiger Schriftsteller hat sich in den neunziger Jahren etabliert und sowohl die Literatur als auch das literarische Leben des vereinigten Deutschland wesentlich verändert. Helmut Böttiger, lange Jahre Redakteur der "Frankfurter Rundschau" und nun Autor und Kritiker in Berlin, wagt jetzt als Erster einen Überblick, der von der Wende bis in die Gegenwart reicht. Eine erste, überzeugende Bilanz der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit der Wende - pointiert und eloquent präsentiert.

Produktbeschreibung
Eine neue Generation deutschsprachiger Schriftsteller hat sich in den neunziger Jahren etabliert und sowohl die Literatur als auch das literarische Leben des vereinigten Deutschland wesentlich verändert. Helmut Böttiger, lange Jahre Redakteur der "Frankfurter Rundschau" und nun Autor und Kritiker in Berlin, wagt jetzt als Erster einen Überblick, der von der Wende bis in die Gegenwart reicht. Eine erste, überzeugende Bilanz der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit der Wende - pointiert und eloquent präsentiert.
Autorenporträt
Böttiger, HelmutHelmut Böttiger, geboren 1956 in Creglingen, studierte Germanistik in Freiburg. Bis 2001 Feuilletonredakteur der Frankfurter Rundschau, jetzt Kolumnist und Kritiker. Zuletzt erschienen: Rausch im Niemandsland. Es gibt ein Leben nach der DDR und bei Zsolnay Orte Paul Celans (1996) und Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (2004).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.03.2004

Ei, Ei, Eigensinn
Helmut Böttiger resümiert die deutsche Gegenwartsliteratur
Wie soll einer die deutschsprachige Gegenwartsliteratur übersehen? Ungefähr 850 Autoreneinträge verzeichnet allein das neue „Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945”. Wer eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur schreiben will, müsste all dies kennen, oder doch einen guten Teil davon, oder wenigstens Gründe, es nicht zu kennen oder kennen lernen zu wollen. Das aber kann man von niemandem verlangen, nicht einmal von den berufsmäßigen Lesern. Auch sie haben schließlich Vorlieben und Gewohnheiten. Unbeirrt folgt man der Spur des einen Autors über Jahre und lässt den anderen seitlich liegen, ohne recht zu wissen warum. Denn man kennt ihn ja nicht. Und spürt auch kein Verlangen, ihn kennen zu lernen.
Der Literaturkritiker Helmut Böttiger hat eine „Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur” in Einzelporträts geschrieben, in der auffällig viele namhafte deutschsprachige Gegenwartsautorinnen und -autoren nicht vorkommen. Wo sind Sebald und Hein, wo sind Maron und Kluge, wo sind Gstrein und Timm, um nur einmal sie zu nennen? Hat Böttiger etwa ihre Bücher nicht gelesen? Das kann man sich schwer vorstellen. Hat er vielleicht ihre Bücher nicht rezensiert? Das könnte schon eher sein, wäre aber gleichfalls keine Entschuldigung. Findet Böttiger sie nicht bedeutend genug? Dann wüsste man gern, warum. Aber sein Buch gibt keine Erklärung, es sei denn, die, es solle „um – mit einer Ausnahme – lebende Autoren gehen, deren Werk bereits erkennbar ist und deren Namen man auch in zwanzig Jahren noch kennt”.
Wenn das für Markus Werner und Ulrich Peltzer gilt (sie sind in diesem Buch vertreten), dann doch vielleicht auch für Alexander Kluge und W. G. Sebald? Man sieht schon: richtig solides literarisches Orientierungswissen, der heftig ersehnte Kanon gar oder Fingerzeige für ein Ranking der neuesten Literatur sind von Böttigers Buch nicht zu erwarten. Seine Perspektive ähnelt, weil sie nur Teilansichten liefert, der des Normallesers. Wissen wir nicht alle oft genug nicht, warum wir lesen, was wir lesen?
Keine regelrechte Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur liefert also dieses Buch, sondern eine Sammlung von klugen und gut geschriebenen Essays über Autorinnen und Autoren, mit denen Böttiger etwas anfangen kann. Ein- und ausgeleitet wird es von Ausführungen zur literarischen Lage. Gegen die schon wieder halb vergessene „Popliteratur” und namentlich gegen ihren theoretischen Vordenker Moritz Baßler bringt Böttiger das Kriterium der Subjektivität in Stellung. „Die Literatur, um die es hier geht, dient nicht in erster Linie der Verfilmbarkeit. Sie beharrt auf ihrem Eigensinn”, schreibt Böttiger, und an anderer Stelle heißt es: „Das Ich ist immer noch das ‚gezeichnete‘ Ich Gottfried Benns.” Die Güte der Literatur bemisst sich bei Böttiger an der Radikalität ihres Ich-Sagens. Schreiben ist für ihn ein existenzieller Selbstversuch mit langer Laufzeit und hohem Risiko.
Das Wissen, die Leere, das Ich
Wenn Böttiger weiterhin auf das „,gezeichnete‘ Ich” setzt, dann tut er dies einerseits zwar in Abgrenzung von einer journalistisch und sonst wie medial inspirierten (Pop)-Literatur, andererseits doch in Anerkennung der Tatsache, dass auch das „Gezeichnete”, das Existenzielle und Subjektive, einem unaufhörlichen Gestaltwandel unterworfen ist – und ebenso gut einmal als Popliteratur daherkommen kann. Bot der Osten, das „Leseland”, noch lange Zeit einen idealen Nährboden für weltabgewandt schreibende Monomanen wie Hilbig und Jirgl, so ist im Westen, im „Fernsehland”, die Entwicklung anders verlaufen.
„Wahrnehmung und Informationsverarbeitung” hätten sich stark verändert, meint Böttiger, aber seit wann? Kann man das bereits den Büchern von Martin Walser und Botho Strauß ansehen? Oder noch nicht denen von Martin Walser, wohl aber schon denen von Botho Strauß? Nicht nur Ost- und WestDifferenzen wären hier in Rechnung zu stellen, sondern auch unterschiedliche Mediengenerationen und schließlich auch Geschlechter. Und schon wird es sehr unübersichtlich.
„Nach den Utopien” kann vielerlei heißen, und es ist nicht ganz klar, welche Utopien Böttiger meint. Welche Utopien hat es seit der Abdankung des Sozialismus in der deutschen Literatur überhaupt gegeben? Eine Weile warb noch Karl Heinz Bohrer für die ästhetische Utopie des Schreckens und der Plötzlichkeit, aber daraus wurde literarisch nicht viel. Auch die Utopie des Großen Sprachexperiments, vertreten etwa durch Arno Schmidt und seine Jünger, scheint von der Bildfläche verschwunden. Bei Böttiger tauchen formal-ästhetische Debatten, wie sie einmal mit großer Erbitterung geführt wurden, nicht einmal mehr am Rande auf. „Nach den Utopien” könnte auch heißen, dass die Literatur insgesamt realistischer und empirischer, also utopieferner geworden ist. Aber ob das bereits eine Tendenz ist? Oder befindet sich die deutschsprachige Gegenwartsliteratur etwa auch in einem Zustand „nach den Tendenzen”? Auffällig ist, dass die einzelnen Autorinnen und Autoren, die hier vorgestellt werden, voneinander kaum beeindruckt und beeinflusst scheinen. Ein jeder bewirtschaftet, wie es aussieht, vorwiegend seine eigene Position.
Wohl deshalb, weil es zwischen ihnen so wenig Gemeinsamkeit gibt, hat Böttiger seine Autoren in Einzelzimmern untergebracht: für jeden Autor ein Kapitel. Jeweils fünf oder sechs sind immerhin unter einen verbindenden Begriff gebracht, aber das macht sie noch nicht zu Freunden: die „Platzhirsche” Grass, Wolf, Walser und Handke,. Oder die Herren Strauß, Peltzer, Beyer, Händler, Menasse und Schulze, die unter dem Titel „Das Wissen, die Leere, das Ich” rubrizieren. Brigitte Kronauer findet sich mit Elfriede Jelinek und Thomas Meinecke unter „Rhythmusgefühl” wieder, wo man sie nicht vermutet hätte. Und im abschließenden, besonders gelungenen Kapitel werden der „Hyper-Journalist” Hans Magnus Enzensberger und Judith Hermann mit ein paar dichtenden Zeitungsschreibern und „lauter kleinen Sternchen” unter der Überschrift „Literatur und Journalismus” zusammen geführt. Mit einer gewissen Genugtuung verzeichnet Böttiger darin das Abebben des literarisch-journalistischen Dandytums der späten neunziger Jahre. Nun ist die Blase geplatzt und man erkennt: „Literatur ist eben mehr als bloße Medienkompetenz”, wie Böttiger patzig, aber zutreffend schreibt.
„Was bleibt?” ist die Ausgangsfrage dieses Buches, und wenn man Böttiger folgt, dann bleiben die Autoren übrig, die sich um Medienkompetenz wenig oder gar nicht scheren (oder erfolgreich den Eindruck erwecken, dies nicht zu tun), sondern die einfach mit Ausdauer und ohne Spekulation auf rasche Renditen „ihr Ding” vorantreiben, seien es nun die „Platzhirsche” Walser und Handke oder die Vertreter der „späten Moderne des Ostens” wie Jirgl und Hilbig. Es gehört zu den Vorzügen von Böttigers Buch, dass er auch Nicht- oder Ex-Arrivierte ins Gespräch bringt, Leute wie Fritz Rudolf Fries oder Markus Werner.
Auf diese Weise kommt ein angenehm antimodischer und literaturbetriebsferner Zug in dieses Buch, ein langer Atem und eine Aufmerksamkeit, die nahen und fernen literarischen Gegenständen gleichermaßen gilt. Man sollte in zwanzig Jahren die Probe auf Böttigers Auswahl machen. Wird man dann Kathrin Schmidt noch kennen? Und was wird aus Judith Hermann geworden sein? „Es war auch in den fünfziger Jahren so”, gibt Böttiger zu bedenken, „daß Autoren hoch gehandelt wurden, von denen man kaum mehr etwas ahnt: Georg Britting, Werner Bergengruen, Gertrud von Le Fort oder Gerd Gaiser. Sie bestimmten die Lesebücher und die Feuilletons.” So wird es unweigerlich auch manchen der in diesem Buch Versammelten ergehen, und es wäre gewiss das Schlimmste nicht.
CHRISTOPH BARTMANN
HELMUT BÖTTIGER: Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Paul Zsolnay Verlag, Wien und München 2004. 312 Seiten, 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.2004

Trautes Werkstattgespräch
Übersprungene Moderne: Helmut Böttigers Literaturgeschichte

Selten, daß eine Literaturgeschichte das Vergessen ihres Gegenstandes, der Werke, der Dichter, die sie vorstellt, schon mit eingeplant hätte! Auf nicht mehr als zwanzig Jahre kalkuliert Helmut Böttiger das Haltbarkeitsdatum der Autoren, die er in seine "Geschichte der Gegenwartsliteratur" aufgenommen hat. In doppeltem Sinne erweist sich damit der Literaturkritiker als Kind seiner Zeit: Zeitgemäß ist die aufgeklärte Einsicht in die Relativität aller Maßstäbe, zeitbedingt aber auch die Resignation vor der Schnellebigkeit des Betriebs. Zufälligkeit und Subjektivität der Auswahl können dem Verfasser dieser Geschichte der Literatur aus immerhin sechzig Jahren nach solch weiser Zurückhaltung kaum mehr vorgeworfen werden. So ist man denn auch geneigt, die zufällige Auswahl, die hier ein Rezensent aus der massenhaften literarischen Marktware trifft, als Wegweiser durchs Dickicht des Angebots zu akzeptieren, um so eher, als der Zufall, wie stets, auch hier Methode hat.

Als Rezensent bleibt Böttiger auch in seiner Literaturgeschichte "Nach den Utopien" mit den Lesern im Gespräch und mutet ihnen nie ein unbekanntes und noch viel weniger ein unbequemes Buch zu: "Und selbstverständlich sind alle im vorliegenden Buch porträtierten Autoren auch unterhaltsam", so beruhigt er sie. Damit macht Böttiger seine Literaturgeschichte zu einer Geschichte des literarischen Zeitgeschmacks. Dieser läßt fast nur noch eine einzige Gattung gelten, den Roman, und entsprechend besetzen neben dem Lyriker Durs Grünbein und einigen Dramatikern die Romanschriftsteller das Feld des literarischen Bewußtseins, das hier skizziert wird.

Dem Diktat des Publikums gehorchend, geht Böttiger von Name und Werk aus und macht seine Geschichte zu einer Anthologie aus Monographien über Wilhelm Genazino, Wolfgang Hilbig, Herta Müller, Robert Menasse, Ingo Schulze oder Elfriede Jelinek. Es handelt sich um ein Repetitorium dessen, was in den letzten zwei Jahrzehnten durch die Medien ausgezeichnet wurde, auch wenn Böttiger mit "Zündels Abgang" von Markus Werner einen Roman bespricht, der "fast geheimbündlerisch weitergereicht" worden sei.

Eine andere Ordnung als die nach Autoren und Werken schleicht sich auch unterderhand nicht ein. Der Blick von oben, welcher Wege und Leitlinien zu erkennen vermöchte, denen auch die Autoren, bewußt oder unbewußt, gehorchen mußten, gälte Böttiger schon als ein Zuviel an Distanz. Würde man aber von solch erhabener Perspektive aus allein die thematischen Spuren verfolgen, die den hier abgesteckten Zeitraum durchqueren, so sähe man, wie sich die Autoren Rastplätze suchten, die deutlich beschriftet sind, etwa mit der Bezeichnung "Publikumsbeschimpfung" in den sechziger und siebziger Jahren, "Kindheit im Faschismus" in den achtziger Jahren oder "Selbstentblößung" und schließlich die "Rückkehr zum Erzählen".

Die Auswahl nach Namen und Werken zeigt schon, daß Böttiger auf stilistische und formalistische Kriterien verzichtet. Was irgend der experimentellen Moderne zuzuordnen wäre, übergeht er: statt Brinkmann, Wühr, Pastior also Grünbein, statt Heiner Müller Strauß und Strittmatter, statt Arno Schmidt fast nur Autoren mit realistischen Milieuschilderungen. Im Kapitel "Schwarzwald ist überall" lobt Böttiger Thomas Strittmatters in Kranichstein vorgelesene Prosa: "Nichts Junggenialisches, Experimentelles, nichts Deutsch-Deutsches oder Dissidentisches, und auch keine Innenschau in eine zeitgenössisch leere Psyche. Strittmatter las Szenen aus einer archaischen Welt, aus einer Handwerkerwerkstatt, mit wenigen lastenden Dialogen."

Da Böttiger die Moderne überspringt, kommt ihm die "Ostmoderne" um so gelegener. Diese entstand aus dem Protest gegen den sozialistischen Realismus und fiel statt dessen, zumal nach der Wende, zurück in den poetischen Realismus, der durch Sozialkritik und politische Moral aufgerauht und dem zeitgenössischen Bewußtsein angepaßt wurde. Böttigers Präferenz für solche Milieuschilderungen und seine Methode einer wertenden Nacherzählung handlicher Stoffe werden bereits im ersten Kapitel mit dem schulterklopfenden Titel "Platzhirsche" erkennbar. Nach Charakteristiken von Günter Grass und Christa Wolf beschreibt Böttiger die "Ironie-Falle", in die Martin Walser, unser "großer Sprachausstatter", getappt sei. In den "Frankfurter Vorlesungen" habe Martin Walser zwischen der Ironie Robert Walsers, einem sokratischen "Unerbittlichkeitsstil", und der Thomas Manns unterschieden, für den die Ironie ein "selbstgenügsames bürgerliches Spiel" gewesen sei. Martin Walser habe sich zwar für den Namensvetter Robert entschieden, Böttiger aber weist ihm seine Familienähnlichkeit mit Thomas Mann nach: "Es gibt eine Sehnsucht nach dem Scheitern in letzter Konsequenz. Robert Walser meinen, aber wie Thomas Mann schreiben - das ist das Dilemma."

Das Dilemma Böttigers ist es, daß auch er in der Gegenwartsliteratur Robert Walsers unerbittliche Träumer sucht und nur lauter Kleinbürger findet. Statt auf einen Fremdling stößt er auf larmoyante Außenseiter, auf Hilbigs "Heizer" etwa oder auf Reinhard Jirgls ehemaligen Elektroingenieur, statt einer Groteske trifft er nur alltägliches Unglück an. Immerhin umgibt Böttiger seine Literaturgeschichte mit einem kulturpolitisch auffälligen Rahmen. Neu ist es zwar nicht, die Gegenwartsliteratur mit der "Gruppe 47" beginnen zu lassen, neu aber, diese Dichtervereinigung zum Kern einer Entwicklung zu machen, die sich von dieser Prägung nie mehr lösen konnte: Das "Werkstattgespräch" sei die Kommunikationsform, aus der alle Gegenwartsliteratur entspringe. Sie löst den Freundschaftskult der Dichter von der Wende des neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert ab und öffnet den privaten Zirkel sachte, aber unaufhaltsam für die Öffentlichkeit: Die Medien mischen sich ins Autorengespräch ein, die Literaturseiten der Feuilletons vermehren sich, Bestsellerlisten entstehen, Jurys, Talkshows und Dichterlesungen ziehen den Autor vors Publikum und steuern die Aufmerksamkeit, zunehmend "gilt das Verdikt der Mehrheit, der Quote, der Massenakzeptanz". Böttiger endet mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis als dem letzten Versuch, das Werkstattgespräch zu retten, indem sich Vertreter der Medien mit Autoren arrangieren.

Von einer Sammlung einzelner Rezensionen zu einer Literaturgeschichte der Gegenwart hätte sich Böttigers Buch erst entwickelt, wenn es den im Rahmen skizzierten Zusammenhang von Lesung, Stil, Motiv, Erzählung und öffentlichem Auftritt auch in den einzelnen Darstellungen wiedergefunden hätte, wenn also Böttiger hätte zeigen wollen, wie die Milieuschilderung der Phantasie eines Abendgastes im Literaturhaus entgegenkommt, wie die neue Einfachheit des Erzählstils sich seiner gesprochenen Sprache anpaßt. Experimentelle Autoren fehlen deshalb in diesem Buch. Nicht zufällig endet dieses Buch mit den Lesungen im Kanzleramt: Hier zeigt sich, daß die Literaturkritik die Volksabstimmung zu akzeptieren hat.

HANNELORE SCHLAFFER

Helmut Böttiger: "Nach den Utopien". Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2004. 310 S., geb., 24,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Sehr angetan zeigt sich Rezensent Christoph Bartmann von dieser Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur in Einzelporträts, die der Literaturkritiker Helmut Böttiger vorgelegt hat. Zwar vermerkt Bartmann kritisch das Fehlen einer ganzen Reihe von namhaften deutschsprachigen Gegenwartsautorinnen und -autoren (wie Sebald, Hein, Maron, Kluge, Gstrein und Timm), für das Böttiger keine Erklärung gebe. Auch bietet Böttiger nicht den "heftig ersehnten Kanon" oder "Fingerzeige für ein Ranking der neuesten Literatur". Aber das kann Bartmanns positiven Gesamteindruck nicht trüben. Denn die Essays über Autorinnen und Autoren, mit denen Böttiger etwas anfangen kann, findet unser Rezensent einfach "klug und gut geschrieben". Wenn Böttiger das Abebben des literarisch-journalistischen Dandytums der späten neunziger Jahre mit dem Satz kommentiert: "Literatur ist eben mehr als bloße Medienkompetenz", stimmt ihm Bartmann ausdrücklich zu. Er hebt hervor, dass sich die Güte von Literatur bei Böttiger an der "Radikalität ihres Ich-Sagens" bemesse. Gefallen hat Bartmann insbesondere der "angenehm antimodische und literaturbetriebsferne Zug" des Buches sowie sein "langer Atem und eine Aufmerksamkeit", die nahen und fernen literarischen Gegenständen gleichermaßen gelte.

© Perlentaucher Medien GmbH