Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.08.2010Der allgemeine Alltagsglaube
VON JÜRGEN KAUBE
Diese Kolumne ist nicht eingerichtet worden, um Bücher anzupreisen. Aber jetzt muss es einmal sein. Soeben ist nämlich die vollständige deutsche Ausgabe eines Werkes erschienen, das zu den gedankenreichsten der Sozialwissenschaft gehört. Sie ist doppelt so umfangreich wie die Übersetzung von 1964, als Roland Barthes' "Mythologies" erstmals auf Deutsch erschienen.
Weshalb analysierte der französische Literaturwissenschaftler damals Elemente der Massenkultur wie das Catchen, den Citroën, den Striptease oder das Beef-Steak mit Pommes frites als Mythen? Zum einen versuchte Barthes zu zeigen, dass Mythologie nicht auf Religion beschränkt ist. Der Titel "Mythen des Alltags" trifft insofern die Absicht, einer säkularen Kultur vorzuführen, was an ihr den Medizinmännern der Wilden oder anderen Exponenten des Aberglaubens vertraut erscheinen könnte. Die Faszination durch "porentief reine" Wäsche etwa, durch Marsmenschen oder durch Tautologien ("Geschäft ist Geschäft", "Persil ist Persil", "Racine ist Racine").
Zum anderen entwickelt Barthes einen eigenen Begriff von Mythologie. Für ihn liegt sie dann vor, wenn eine Tatsache von den Assoziationen, die sie hervorruft, völlig überdeckt wird. Wenn die Leute also bei "Einstein" nur noch an "Intelligenz" denken, bei Frauen nur an bedrohte und also eines Kummerkastens und der Befreiung durch Illustrierte bedürftige Wesen, bei Wein stets an die nationale, französische Pflicht, ihn zu trinken, bei den Bergen nur ans Erhabene. Mythen sind also fixe Ideen: "Zweck der Mythen ist es, die Welt unbeweglich zu machen." Die Reklame ist der Inbegriff dieser Art von Mythologie, weil sie auf einen stabilen Reflex setzt. Aber sie ist nicht das einzige Beispiel dafür. Barthes setzt mit soziologischen und linguistischen Mitteln fort, was vor ihm aphoristisch Gustave Flaubert und Leon Bloy begonnen haben: die Attacke auf die Gemeinplätze.
Nun also die ganze Mythologie. Mit Stücken über den Schriftsteller im Urlaub (wovon?), prominente Ehen (Stars heiraten nur kontingentweise), das Porträtfoto des Abbé Pierre (Heilige müssen unauffällig und unmodisch aussehen), französisches Spielzeug (ein Benutzer, nicht ein Schöpfer soll das Kind sein) oder ornamentale Küche (das Auge isst nicht nur mit, es entscheidet überhaupt, welche Rezepte gedruckt werden können) . . . und so weiter, fast unerschöpflich und ungemein dazu anregend, nach den gegenwärtig herrschenden Mythologien zu fragen.
Roland Barthes: "Mythen des Alltags", vollständige Ausgabe, Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 325 S., geb., 28 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
VON JÜRGEN KAUBE
Diese Kolumne ist nicht eingerichtet worden, um Bücher anzupreisen. Aber jetzt muss es einmal sein. Soeben ist nämlich die vollständige deutsche Ausgabe eines Werkes erschienen, das zu den gedankenreichsten der Sozialwissenschaft gehört. Sie ist doppelt so umfangreich wie die Übersetzung von 1964, als Roland Barthes' "Mythologies" erstmals auf Deutsch erschienen.
Weshalb analysierte der französische Literaturwissenschaftler damals Elemente der Massenkultur wie das Catchen, den Citroën, den Striptease oder das Beef-Steak mit Pommes frites als Mythen? Zum einen versuchte Barthes zu zeigen, dass Mythologie nicht auf Religion beschränkt ist. Der Titel "Mythen des Alltags" trifft insofern die Absicht, einer säkularen Kultur vorzuführen, was an ihr den Medizinmännern der Wilden oder anderen Exponenten des Aberglaubens vertraut erscheinen könnte. Die Faszination durch "porentief reine" Wäsche etwa, durch Marsmenschen oder durch Tautologien ("Geschäft ist Geschäft", "Persil ist Persil", "Racine ist Racine").
Zum anderen entwickelt Barthes einen eigenen Begriff von Mythologie. Für ihn liegt sie dann vor, wenn eine Tatsache von den Assoziationen, die sie hervorruft, völlig überdeckt wird. Wenn die Leute also bei "Einstein" nur noch an "Intelligenz" denken, bei Frauen nur an bedrohte und also eines Kummerkastens und der Befreiung durch Illustrierte bedürftige Wesen, bei Wein stets an die nationale, französische Pflicht, ihn zu trinken, bei den Bergen nur ans Erhabene. Mythen sind also fixe Ideen: "Zweck der Mythen ist es, die Welt unbeweglich zu machen." Die Reklame ist der Inbegriff dieser Art von Mythologie, weil sie auf einen stabilen Reflex setzt. Aber sie ist nicht das einzige Beispiel dafür. Barthes setzt mit soziologischen und linguistischen Mitteln fort, was vor ihm aphoristisch Gustave Flaubert und Leon Bloy begonnen haben: die Attacke auf die Gemeinplätze.
Nun also die ganze Mythologie. Mit Stücken über den Schriftsteller im Urlaub (wovon?), prominente Ehen (Stars heiraten nur kontingentweise), das Porträtfoto des Abbé Pierre (Heilige müssen unauffällig und unmodisch aussehen), französisches Spielzeug (ein Benutzer, nicht ein Schöpfer soll das Kind sein) oder ornamentale Küche (das Auge isst nicht nur mit, es entscheidet überhaupt, welche Rezepte gedruckt werden können) . . . und so weiter, fast unerschöpflich und ungemein dazu anregend, nach den gegenwärtig herrschenden Mythologien zu fragen.
Roland Barthes: "Mythen des Alltags", vollständige Ausgabe, Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 325 S., geb., 28 Euro.
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"Für weniger als den Preis einer Schachtel Veronal erhält man Auskunft über Billy Graham. "The Family of Man", Einsteins Gehirn, Beefsteak und Pommes Frites, das Gesicht der Garbo, den neuen Citroen." Harun Faroqhi, Spandauer Volksblatt, 16. Mai 1965