Produktdetails
  • Verlag: Penguin Books UK
  • Erscheinungstermin: 21. Mai 2008
  • Englisch
  • Abmessung: 180mm
  • Gewicht: 196g
  • ISBN-13: 9780141036038
  • ISBN-10: 0141036036
  • Artikelnr.: 23134287
Autorenporträt
Hari Kunzru wurde 1969 als Sohn einer Engländerin und eines Inders geboren. Er schreibt für zahlreiche Zeitungen und Magazine, darunter "The Economist", "The Guardian", "London Review of Books", "Wired", "Mute" und "Wallpaper". Er lebt in London und arbeitet an seinem zweiten Roman.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.02.2009

Früchte des Sommers

Vom jugendlichen Idealisten zum militanten Attentäter, von der Weltverbesserung zur Weltverachtung: Der Londoner Autor Hari Kunzru ruft in seinem neuen Roman die Revolution aus.

Wer im tiefsten Winter plötzlich Lust auf Erdbeeren bekommt, braucht sich einfach nur im Tiefkühlregal zu bedienen. Denn seit der Erfindung der Gefriertechnik lässt sich der Geschmack des Sommers auch in unwirtlichen Kälteperioden beinah mühelos zurückgewinnen. Im Feld des Literarischen gibt es zu diesem Zweck das Genre des historischen Romans. Es überwindet zeitliche Beschränkung auf die Gegenwart, befriedigt unsere Lust nach dem spezifischen Geschmack und Flair von früheren Perioden und vermittelt das Gefühl, dass wir uns nach Belieben am Vergangenen, sollte uns das Bedürfnis überkommen, aktuell bedienen können. Sechzig Jahre, so meinte der Erfinder dieser Kunst, Sir Walter Scott, seien wohl der beste Abstand für solche literarische Vergegenwärtigung. Hari Kunzru, seinem derzeitigen Nachfolger aus London, reichen drei bis vier Jahrzehnte, wenn er uns in seinem neuen Roman jetzt die Früchte aus dem heißen Sommer der Anarchie um 1970 auftischt.

Schon die Aufmachung des Buches schmeckt förmlich nach Revolution. Schrifttype und Satzbild wirken wie ein Flugblatt aus der großen Zeit des Aufbruchs, da die Welt zwischen Woodstock und Vietnam, zwischen Belfast und Biafra oder zwischen Bettdecke und Haustür täglich aus dem Untergrund erneut gerettet werden musste. Und auch die Lebensgeschichte, die der Autor darüber erzählt, ist so passgenau in das faktenreich rekonstruierte Panorama jener Jahre eingefügt, als wolle er das Drehbuch eines gefühlsechten Doku-Dramas liefern: "Black Box GB" oder "Der Angry Brigade-Komplex". Die stetige Entwicklung jugendlicher Idealisten zu militanten Attentätern und das nahezu unmerkliche Abgleiten von Weltverbesserung zu Weltverachtung sind ohne Zweifel große Themen, die über den historischen Kontext hinaus von wirklicher Brisanz sind. Allerdings gerät hier die politische Großerzählung über weite Strecken derart dominant, dass die Figuren darin zumeist nur wie Garderobenständer wirken, an denen eine revolutionäre Gesinnung aufgehängt werden muss. Das ist deshalb so bedauerlich, weil die Grundidee dieses Romans eigentlich sehr spannend ist.

Kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag wird Michael Frame, der sich in der südenglischen Provinz in einem unauffälligen Leben eingerichtet hat, von seiner radikalen Vergangenheit eingeholt. Ein zwielichtiger Freund aus frühen Jahren sucht ihn heim und nötigt ihn, das Doppelleben, das er seit langem unter falschem Namen führt, endlich aufzugeben und sich der eigenen Schuld zu stellen. Außerdem hat Michael, der eigentlich Chris Carver heißt, auf einem Frankreichurlaub kürzlich eine Frau gesehen, in der er die große Liebe seiner Untergrundjahre wiederzuerkennen glaubt, obwohl sie, wie er dachte, längst nicht mehr am Leben sei. So bricht er unvermittelt aus der bürgerlichen Scheinidylle aus und fährt nach Süden, um die Spuren seiner unverwundenen Vergangenheit, die ihm beständig durch den Kopf geht, erneut aufzunehmen.

Auf diese Weise kreist auch die Erzählung ständig zwischen den späten neunziger Jahren seiner schalen Gegenwart und Erinnerungen an die wilde Kommunardenzeit. Je näher Michael respektive Chris dem Ziel der Reise kommt, wo er die frühere Geliebte anzutreffen hofft, desto unerbittlicher umkreisen die Gedanken einen dunklen Punkt, den er bislang offenkundig noch nie eingestanden hat. Kunzru knüpft hier an das große Thema seiner früheren Erfolge an, insbesondere das gefeierte Debüt "Die Farben der Welt" aus dem Jahr 2002, das der Frage nach prekär gegründeten Identitäten am Beispiel britischer Kolonialverstrickungen in Indien nachging. Dass er im neuen, seinem dritten Roman, wie die englische Kritik bemerkte, keine einzige indische Figur auftreten lässt, darf man getrost als Hinweis darauf lesen, dass er sich selbst nicht gern auf eine vorgegebene Rolle fixiert sehen will.

Dennoch wirkt sein Unternehmen, nunmehr eine hausgemachte Revolutions-Fabel zu erzählen, eher wie ein kalkulierter Griff ins Kühlregal der jüngeren Geschichte. Was Kunzru, Jahrgang 1969, im Zeitporträt der späten neunziger Jahre als die Belanglosigkeit der kalten Konsumgesellschaft bloßstellt, kann durch die Gegenüberstellung mit der hitzigen Polit-Periode drei Jahrzehnte früher auch nicht zusätzlich gewinnen. Denn dem zeitgenössischen Roman auf diese Weise den Geschmack von echten Überzeugungen, starken Abenteuern und wahren Charakteren zu verleihen hat selbst Warencharakter und wird allzu gern konsumiert - wie eben Erdbeeren im Winter. Wer wirklich Lust darauf verspürt, sollte besser bis zur nächsten Sommerernte warten.

TOBIAS DÖRING

Hari Kunzru: "Revolution". Roman. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Blessing Verlag, München 2008. 415 S., geb., 19,95 [Euro].

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