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Produktdetails
  • Verlag: Laaber-Verlag
  • Seitenzahl: 469
  • Abmessung: 285mm
  • Gewicht: 1820g
  • ISBN-13: 9783890070414
  • Artikelnr.: 24934984
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2000

Moderne Erziehungsmethoden
Der Musiklehrer der Nation: Hans von Bülows Interpretationskunst

Interpretation als Kunstwerk? Johannes Brahms vertrat die Ansicht, daß ein Musiker, dessen Leistung und Ruhm nur auf der Interpretation beruht, kein Denkmal verdient habe. Aus einer noch schärfer zugespitzten Äußerung von Hans Pfitzner, der zufolge an "einem Geschaffenen nicht noch einmal der Vorgang des Schaffens bewerkstelligt werden" könne, spricht das Fortwirken der Genieästhetik bis ins zwanzigste Jahrhundert.

Daß Bachs Passionen und Beethovens Sonaten, wären sie auch nie aufgeführt worden, gleichwohl zu den höchsten Zeugnissen künstlerischer Produktivkraft gehörten, scheint selbstverständlich. Ihre Geschichte bekommen musikalische Werke jedoch erst dadurch, daß sie gelesen oder gespielt werden. Interpretation läßt sich als "der individuelle Vollzug eines schöpferischen oder nachschöpferischen ästhetischen Aktes" begreifen, überdies als eine öffentliche, "bewußtseinsprägende, kollektive Vorstellungen erzeugende oder beeinflussende Handlung", die zu "epochalen Wandlungsprozessen in der Wahrnehmung von Musik" und zu "Umwälzungen ganzer Vorstellungsbereiche" führt. Dies ist der Ausgangspunkt der Habilitationsschrift von Hans-Joachim Hinrichsen. Sie zeigt die "fundamentale Rolle der musikalischen Praxis für die musikalische Rezeption" am Beispiel der "exzentrischen und polarisierenden Figur" des Pianisten und Dirigenten Hans von Bülow auf.

Dessen Wirken in den vier Jahrzehnten bis zu seinem Tod im Jahre 1894 bestätigt einen Satz von Beethoven: "Der Mensch repräsentiert einzeln ebenso das Gesamtleben der Gesellschaft, wie die Gesellschaft nur ein etwas größeres Individuum vorstellt." In der Geschichte der musikalischen Interpretation vor dem Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit hat Bülow viele Voraussetzungen für die Anerkennung der Vortragslehre und "Interpretationskunst" geschaffen. Zum ersten als Pianist, der etwa die Institution des "Recitals" schuf; zum zweiten als Dirigent, der unter anderen die "Meistersinger" und "Tristan und Isolde" uraufführte; zum dritten als Herausgeber von Aufführungs-Partituren, die ihrerseits "Interpretationen" und Manifestationen eines ästhetischen Systems waren, das auch der deutschen Musikwissenschaft - voran Hugo Riemann - ihren Gegenstand sicherte.

Die Untersuchung ist in drei Großabschnitte unterteilt. Die "Politik der Interpretation" untersucht die Praxis des Interpreten, der sich als Erzieher des Publikums verstand und für die öffentliche Anerkennung der Musik kämpfte. "Bearbeitung, Edition und Interpretation" wirken, Gegenstand des zweiten Kapitels, in diese Praxis hinein als ästhetisches Vermittlungssystem. Interpretation wird endlich, Thema des dritten Abschnitts, zum Auslöser eines öffentlichen Diskurses: "Musikalische Praxis als Kommunikationsprozeß". Der 170 Seiten lange Anhang dokumentiert Bülows eigene Kompositionen, seine Editionen und Bearbeitungen, seinen riesigen Musikaliennachlaß, sein Repertoire als Rezitalist, Kammermusiker, Konzert-Pianist und Dirigent sowie Teile seiner Editionsfragen betreffenden Korrespondenz mit dem Verlagshaus Cotta. Leider fehlt ein Register, das die Orientierung in dieser mit Informationen überquellenden Untersuchung - 1497 Anmerkungen auf 360 Seiten - erleichtern würde.

Ämterfülle des Wohllauts

Hans von Bülow, 1830 als Sohn eines radikalliberalen Schriftstellers geboren, war die Laufbahn des Juristen zugedacht. Unter dem Einfluß von Wagner und Liszt entschied er sich für die Musik. Auch wenn er betonte, er treibe "nur Musik, nicht Politik, Ästhetik, Literatur, noch weniger Intrigue", so deutet sich in einer Charakteristik von Franz Liszt zumindest an, daß Bülow als "Virtuos, Docent, Dirigent, Kommentator, Propagandist - ja selbst als humoristisch gutgelaunter Journalist" eine Erscheinung von ungeheurer Komplexität war. In jungen Jahren engagierte er sich für die sich durchaus nicht national definierende neudeutsche Schule, bevor er durch Brahms "orthodox" oder, nach eigenem Wort, "reactionär" wurde.

Weit mehr als Toscanini, Furtwängler oder Karajan hatte Bülow sich ständig mit den heftigen philosophischen, politischen und ästhetischen Kontroversen seiner Zeit auseinanderzusetzen. Anders als heutige Stars, die im Publikum nur Kunden sehen, fühlte sich Bülow, ein Bewunderer Napoleons III., als diktatorisch legitimierter Erzieher. Demokratie ohne vorbereitende "Demopädie" (Volkserziehung) sah er, in seinem elitären Kunstsinn konform mit Nietzsche, als undenkbar an. Nach der Beschäftigung mit dem "Tristan" antizipierte er - vor Hauer, Schönberg und Bartók - die fundamentale Erweiterung des Tonsystems ("nous arriverons nécessairement aux - ,Vierteltöne'"). Andererseits bestand er, provoziert durch die Tondichtungen seines Assistenten Richard Strauss, auf den Gesetzen des Wohlklangs. Aus ihnen leitete er bei seinen Editionen das Recht auf "Euphonisierung" ab, auf jene schönenden Retuschen, die als Gegenreaktion die Urtext-Ausgaben anregten.

Aus dem Bewußtsein, nur als "reformatorischer Musiker Existenzberechtigung" zu haben, begann Bülow zunächst mit einer Reform der Programmgestaltung. Seine Maxime lautete, daß Konzerte eine "Idee" haben müßten, um eine "organische Einheit" zu bekommen. Er war der erste, der die "Diabelli-Variationen" ins Konzertrepertoire nahm. Seit 1864 bestritt er Recitals mit den Werken eines Komponisten, etwa mit den letzten fünf Sonaten von Beethoven, und irritierte mit dieser "sehr ungemütlichen Methode" selbst Eduard Hanslick. Man war zuvor an "Harlekinprogramme" (Bülow) mit Instrumental- und Vokalmusik gewöhnt. In seinen Symphoniekonzerten förderte er, als Münchner Hofkapellmeister "aus der Opposition in die Regierung" getreten, vorrangig die "neudeutsche Schule". Als "ästhetischer Coup" galt auch damals noch der Typus des - seit Mendelssohn nicht mehr unüblichen - "Historischen Konzerts" mit Bach, Haydn und Mozart.

Für noch mehr Aufmerksamkeit sorgte Bülow mit der törichten Umwidmung der "Eroica" an Bismarck. Es war eine der ersten Manifestationen der politischen "Benutzbarkeit" (Hans Heinrich Eggebrecht) von Musik, insonderheit Beethovens, den Bülow später als "Centralsonne der modernen Tonwelt" rühmte. Unter dem Einfluß von Brahms und dessen Produktionsästhetik einer "dauerhaften Musik" entwickelte auch Bülow die Idee des zeitenthobenen Meisterwerks. Die Reaktionen waren zwiespältig. Bülows Absicht, beim Publikum eine "Beethoveneintrichterung" vorzunehmen, wurde als "Intellektualisierung des Musikhörens" durch "Zwangsprogramme" angesehen. Gastspiele verstand er als Auftritte in "Feindesland" mit der "culturhistorischen Mission, für deutsche Musik" zu wirken.

Was sich da selbst verwirklicht

Gleichwohl war er von tumber Deutschtümelei weit entfernt. Was er durchsetzen wollte, war ein "neues Rezeptionsparadigma mit der Betonung struktureller und syntaktischer Kriterien für die Qualität der Musik". Bülows Tätigkeit antizipierte die später durch die technische Reproduktion bewirkte "Gewichtsverschiebung zwischen Kompositions- und Interpretationskultur", durch welche die Idee der zeitenthobenen "Integrität des Kunstwerks", noch von Adorno emphatisch verteidigt, hinfällig wurde. Mit der Rezeptionsästhetik hat sich die deutsche Musikwissenschaft erst spät beschäftigt, obwohl etwa Wagner - wie es in dem von Nietzsche enthusiastisch gerühmten Aufsatz "Über Schauspieler und Sänger" heißt - in der szenischen und musikalischen "Verwirklichung" den Abschluß des musikalischen Dramas sah.

Es waren die Uraufführung des "Tristan" und der in zweijähriger Arbeit entstandene Klavierauszug, die Bülows Reputation begründeten. In Nietzsches "Ecce homo" heißt es: "Von dem Augenblick an, wo es einen Klavierauszug des Tristan gab - mein Compliment, Herr von Bülow! - war ich Wagnerianer." Ein Exkurs beschäftigt sich mit der Reaktion Nietzsches, der die musikalische Analyse und die interpretierende Detail-Affektation als Verfalls-Symptom verstand, so wie er bei Wagner in der differenzierten Ausarbeitung von Einzelheiten einen Verlust an Kraft sah.

Hinrichsens Analyse von Klavierauszügen, Transkriptionen und Editionen kommt zu dem Ergebnis, daß "Interpretation" und "Verwandlung" für Bülow identisch waren. Bei Werken älterer Komponisten, etwa von C.Ph.E. Bach oder Gluck, ging es ihm um "Auflackirung" oder auch, wie bei Webers Klavierkonzerten, um "Effektuirung". Auch bei seinen Beethoven-Editionen verfuhr Bülow nach produktionsästhetischen Kategorien. "Puristische Gewissenhaftigkeit" fungiert bei ihm als eine pejorative Kategorie.

In ausführlichen Analysen belegt Hinrichsen diese schon von Heinrich Schenker angeprangerten "Herausgeber"-Frevel. Für Bülow hingegen waren rhythmisch-metrische Regulierungen, Korrekturen der Phrasierung oder instrumentale Eingriffe integraler Bestandteil der Praxis. Als er 1864 für seine Verdienste um die Musik von der Universität Jena den Doktortitel erhielt, sagte er: "Ich verdiene ihn, denn ich betreibe meine Kunst als Wissenschaft."

Die Genese von Bülows Interpretationsästhetik lag in der prägenden Zusammenarbeit mit Franz Liszt und Richard Wagner. Der erstere sah in Bülow seinen pianistischen "successeur légitime", der zweite ließ in den Münchner Tagen als Dirigenten nur Bülow gelten, der den Komponisten auch noch achtete, als er ihm - "tatest Du's wirklich?" - die Marke-Frage stellen mußte. Bülow sog Wagners Ideen für Beethoven-Interpretation auf - die Tempomodifikationen, das Auslassen von Wiederholungen, kleinere instrumentale Retuschen wie den Gedanken der sich aus kleinteiligen Motiven im Verlauf eines Satzes erst bildenden Melodie. Wagners Formideal war freilich melodisch bestimmt, das Bülows metrisch und architektonisch.

Mit seiner großen Beethoven-Ausgabe von 1871 beanspruchte Bülow, die "Aufgabe der Interpretation jener bisher nur ganz oberflächlich behandelten Werke des größten Tondichters zu lösen". Seine Methodik - in Hinrichsens Studie an der Siebten Symphonie exemplifiziert - wurde heftig diskutiert; Felix von Weingartner sprach von "Bülowiaden". Die Rezeption von Bülows Vortragspraxis zeigt, daß sein analytisch-zergliederndes Spiel weithin auf Befremden stieß und nicht als Vortrag der Werke, sondern als Vortrag über die Werke empfunden wurde. Von "wissenschaftlicher Grausamkeit" ging die Rede oder gar dem Tun eines Anatomen, der den "Organismus" eines Werks seziert. Dennoch wirkten seine "Vorträge" stilbildend. "Wer weiß", schrieb Riemann, "ob wir ohne Bülow nicht elende, pedantische Musikphilologen geworden wären."

Der letzte Abschnitt der historisch weit ausgreifenden und verästelten, aber sorgsam strukturierten Untersuchung beschäftigt sich mit dem Verhältnis von absoluter Musik und analytischer Interpretation. In einer komplexen musikästhetischen und musikpolitischen Konstellation verbanden sich Bülows musikalische Praxis und Riemanns Theorie über zahlreiche Differenzen hinweg zu einem wirkungsmächtigen System, in dem der Struktursinn einer Komposition vom Aufführungssinn nicht mehr abgelöst werden kann. Hinrichsens perspektivenreiche Untersuchung ist ein eindringlicher Beitrag zu einem Paradigmenwechsel der deutschen Musikwissenschaft.

JÜRGEN KESTING

Hans-Joachim Hinrichsen: "Musikalische Interpretation". Hans von Bülow. Archiv für Musikwissenschaft, Beiheft 46. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1999. 562 S., geb., 198,- DM.

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