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Produktdetails
  • Verlag: Fink (Wilhelm)
  • 1996.
  • Seitenzahl: 478
  • Deutsch
  • Abmessung: 240mm
  • Gewicht: 934g
  • ISBN-13: 9783770531189
  • ISBN-10: 3770531183
  • Artikelnr.: 06328796
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.10.1996

Wenn der Mariengroschen fällt
Das Bild als Quelle: Klaus Schreiners Ehrenkränzchen weist der Mediävistik neue Wege

Gelehrtenfestschriften mögen zwar schöner akademischer Brauch sein, den aktuellen Diskussionsstand der je berührten wissenschaftlichen Disziplin aber bringen sie kaum entscheidend voran, sondern dienen vielmehr - durchaus legitim - der rituellen Selbstinszenierung des akademischen Betriebs. Ihr Inhalt, eher vom Prinzip des Zufalls und von den persönlichen Interessen der Autoren bestimmt, fügt sich selten zu einem thematischen oder methodischen Ganzen.

Doch es gibt, wie überall, auch hier die glückliche Ausnahme: Das ist der als Festschrift einherkommende Sammelband mit gelungenen Einzelstudien, die sich, argumentativ aufeinander bezogen, zu einer methodologisch-thematischen Untersuchungs-Einheit verschränken. Die dem Bielefelder Mediävisten Klaus Schreiner unter dem Titel "Mundus in imagine" dargebrachte Festgabe ist ein solcher Glücksfall.

Der Lesbarkeit der Welt ging ihre Hör-und Sichtbarkeit voraus. Zumal in einer weitgehend illiteralen Gesellschaft wie der mittelalterlichen wurde Welt, solange die Alphabetisierung den Alltag noch nicht erreicht hatte, durch Bilder und Zeichen erfahren. Für den Mittelalter-Historiker bedeutet dies, daß er neben seinen "klassischen" schriftlichen Quellen auch die bildlichen zu "lesen" hat, daß er seinen philologisch-kritischen Methoden ikonographisch-ikonologische an die Seite stellen muß, um wirklich beurteilen zu können, wie die vergangenen Zeitgenossen ihre eigene Gegenwart deuteten.

Lange bevor die Erneuerung der Geschichts- als Kulturwissenschaft zum modischen Programm erhoben wurde, haben dies - neben den Kunsthistorikern der Warburg-Schule - auch einige Mediävisten schon gewußt, selbst wenn ihnen dabei, befangen im traditionellen Quellenbegriff der sich auf Fakten kaprizierenden Disziplin, die je eigene Wirklichkeit des Mediums "Kunst" kaum ins Blickfeld geriet und Bilder meist nur als Informationslieferanten, als bloße Illustrationen auch schriftlich lesbarer Quellen, ausgebeutet wurden.

Daß sich historische Wahrheit aber auch im ikonischen Medium selbst - in der von der banalen Realität abgehobenen Wirklichkeit der Zeichen, Träume und Bilder - offenbart, ist sogar für den auch an anderen als nur schriftlichen Quellen interessierten Geschichtswissenschaftler so selbstverständlich nicht. Klaus Schreiner und sein Kreis haben dies jedoch schon länger gewußt, wie der der "Bildersprache und (den) Lebenswelten im Mittelalter" nachspürende Band auf faszinierende Weise demonstriert.

In fünfzehn sich zu fünf thematischen Blöcken fügenden Aufsätzen wird die Aussagekraft bildlicher Zeugnisse, rückbezogen auf ihren Gebrauchskontext, für die historische Erkenntnis nutzbar gemacht. Heinrich Rüthing schreibt über die Geschichte des Goslarer Mariengroschens, Neithart Bulst über die sich in Bildern materialisierenden Heiligenverehrung in Pestzeiten. Andrea Löther befaßt sich mit Prozessionsdarstellungen bei Dürer, Gentile Bellini und in der Konstanzer Konzilschronik; Gabriela Signori handelt von den als weibliche Allegorie der "vita contemplativa" fungierenden, in die Lektüre von Stundenbüchern versunkenen Frauen der flämischen Tafelmalerei. Margaretha Palzkill geht dem mit der zeitgenössischen Disziplinierung weiblichen Verhaltens korrelierenden, gesenkten Blick Mariens in italienischen Verkündigungsbildern auf den Grund und Richard C. Trexler dem Bedeutungswandel von Darstellungen der Heiligen Drei Könige. Auch die Gegenbilder spätmittelalterlicher Frömmigkeit werden thematisiert: Norbert Schnitzler untersucht die Ikonographie des Selbstmords am Beispiel des Judastods; Gerd Schwerhoff betrachtet die Verspottung des Propheten Elischa in frühen Bibelholzschnitten, die eine Botschaft transportieren, welche über den Text hinausgeht; und Karin Westerwelle befaßt sich mit dem Ineinanderblenden antiker, christlicher und höfischer Bildvorstellungen in einer Canzone Petrarcas.

Als exemplarische Diskussionsmodelle politischer Ikonographie in der vormodernen Stadt dienen die Gerichtsbilder in italienischen und deutschen Rathäusern (Ulrich Meier), die Ausstattung des Großen Saals des Erfurter Rathauses (Uwe Heckert) und die Bildzyklen des Augsburger Weberzunfthauses (Jörg Rogge). Methodenfragen einer historischen Bildkunde werden am Beispiel retrospektiver Tendenzen in der Kunst des vierzehnten bis sechzehnten Jahrhunderts diskutiert (Klaus Graf), anhand der Rechtsikonographie in Handschriften und städtischen Weltgerichtsbildern (Ulrich Andermann) sowie des in den siebziger Jahren ins Innere der Kirche versetzten und damit seiner Funktion beraubten Hauptportals der Chemnitzer Schloßkirche.

Die Mehrdeutigkeit des scheinbar Eindeutigen als Erkenntnismoment nutzend, demonstrieren die Beiträge dieses Bandes einen methodischen Zugriff, der nicht bloß die Ergebnisse der einen auf die andere Disziplin appliziert, sondern, die Fächergrenzen niederreißend, von vornherein interdisziplinär ansetzt. Daß dabei jedoch nicht, wie neuerdings häufiger zu beobachten, von einer modischen Methode zur anderen gezappt wird, daß die Autoren vielmehr lieber klug gefragt als vorschnell geantwortet haben, hebt diesen grundgescheiten Untersuchungsband wohltuend ab von so mancher trendbewußten Publikation der letzten Zeit, die die öffentliche Beachtung der historischen Wissenschaften marktgerecht nutzt.

Mag im Diskussionsrahmen der in den Vereinigten Staaten schon länger betriebenen, fächerübergreifenden "medieval studies" der hier demonstrierte Zugriff auf die disparate Quellenfülle des Historikers mittlerweile selbstverständlich sein: in der deutschen Wissenschaftslandschaft war er es - auf diesem Reflexionsniveau zumindest - bislang noch nicht. NORBERT OTT

"Mundus in imagine". Bildersprache und Lebenswelten im Mittelalter. Festgabe für Klaus Schreiner. Mit einem Geleitwort von Reinhart Koselleck. Hrsg. von Andrea Löther, Ulrich Meier, Norbert Schnitzler, Gerd Schwerhoff und Gabriela Signori. Wilhelm Fink Verlag, München 1996. 478 S., 92 Abb., geb., 98,- DM.

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