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Lionel Essrog wächst in einem Waisenhaus in Brooklyn auf. Aber nicht nur das macht ihn zu einem Außenseiter: Lionel leidet am Tourette-Syndrom - einem Sturm in seinem Kopf, der nur zur Ruhe kommt, wenn er sinnlose Wortfetzen aus sich heraus schreit. Lionels Zukunft scheint durch seine Lebensumstände bereits vorgezeichnet, doch das ändert sich, als ihn der charismatische Kleinmafiosi Frank Minna für seine Geschäfte anheuert. Als Frank ermordet wird, macht es sich Lionel zur Aufgabe, den Mörder zu stellen ... Ausgezeichnet mit dem National Book Critics Circle Award for Fiction, dem Gold Dagger sowie dem Salon Book Award.…mehr

Produktbeschreibung
Lionel Essrog wächst in einem Waisenhaus in Brooklyn auf. Aber nicht nur das macht ihn zu einem Außenseiter: Lionel leidet am Tourette-Syndrom - einem Sturm in seinem Kopf, der nur zur Ruhe kommt, wenn er sinnlose Wortfetzen aus sich heraus schreit. Lionels Zukunft scheint durch seine Lebensumstände bereits vorgezeichnet, doch das ändert sich, als ihn der charismatische Kleinmafiosi Frank Minna für seine Geschäfte anheuert. Als Frank ermordet wird, macht es sich Lionel zur Aufgabe, den Mörder zu stellen ... Ausgezeichnet mit dem National Book Critics Circle Award for Fiction, dem Gold Dagger sowie dem Salon Book Award.
Autorenporträt
Jonathan Lethem, geboren 1964 in New York, lebt in Brooklyn. In den USA sind ein Band mit Kurzgeschichten sowie bereits fünf Romane von ihm erschienen, die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden sind.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.11.2001

Ermittlung zu Babel
Jonathan Lethems kriminelles Zungenreden · Von Dietmar Dath

Dieser Roman zieht die Paradoxa aus seinen Selbstverständlichkeiten wie ein Zauberer Kaninchen aus Zylindern: "Motherless Brooklyn" ist der Familienroman eines Waisenjungen, das Sprachkunstwerk eines Sprachgestörten und ein harter Krimi, der dennoch in der Tradition klassisch modernen Erzählens zwischen Djuna Barnes' "Nachtgewächs" und Joyce' "Dubliners" steht.

Der 1964 in Manhattan geborene Jonathan Lethem besitzt alle Voraussetzungen, eine wichtige Stimme zwar nicht seiner Generation, aber doch eines Segments der amerikanischen Gegenwartsliteratur zu werden, das im Augenblick von Joyce Carol Oates über Stephen King bis zu Chuck Palahniuk, dem Autor der Romanvorlage zu dem Film "Fight Club", Angehörige mehrerer Generationen in sich aufgenommen hat: das Phantastisch-spekulative.

Die Phantastik scheint kulturgeschichtlich derzeit an die visuellen und interaktiven Medien gefesselt. Filme und Computerspiele bieten visuelle Schocks, die mit Worten schwer zu überbieten sind. Lethem besinnt sich da auf eine alte Tugend der phantastischen Literatur: die Anmut erzeugende, weil unabgeschlossene, ins Unendliche weisende Reflexion samt ihrer Begleiterinnen Witz und Ironie. Lethem, Sohn eines prototypisch bohemistischen Elternpaars (Maler, Hippies, Rockfans, Universitätslehrer), behandelt gerade die Popkultur, von Krimis bis zum Hip-Hop, nicht als staunenswert unschuldiges Reservoir wirkmächtiger Bilder, sondern als zweite Natur, bei deren Verarbeitung zu Texten man sich keinesfalls weniger Mühe geben darf als der Lyriker der Vergangenheit beim Schildern betauter Wiesen.

Der Kriminalfall, den der Ich-Erzähler aufzuklären (oder zügig immer involvierter zu verwirren) berufen ist, scheint simpel: Sein Mentor, ein Teilzeit-Mafioso und spendabler Aufschneider namens Frank Minna, der im multiethnischen Brooklyn einen dubiosen Observierungs- und Transportservice betreibt, wird nach einer fehlgeschlagenen Überwachung verstümmelt und blutüberströmt in einem Müllcontainer gefunden. Lionel Essrog, der Erzähler, und sein Kollege, der vierschrötige und tumbe Gilbert Coney, bringen ihren Boß ins Krankenhaus, reißen unterwegs ein paar Witze, und wer Quentin Tarantinos Film "Reservoir Dogs" gesehen hat, weiß bereits, daß dieses flapsige Daherreden und gleichzeitige Baden in Blut eine Sterbeszene einrahmt, deren Pathos gerade in der Vermeidung jeglicher Form von Pathos liegt.

Frank Minna stirbt im Krankenhaus. Sein Angestellter Lionel und dessen drei Kollegen, die "Minna Men" Gilbert, Tony und Danny, sind zum zweiten Mal in ihrem Leben gezwungen, sich ohne väterlichen Beistand durchzukämpfen - Ende der siebziger Jahre hatte Minna die vier im örtlichen Waisenhaus rekrutiert. Sie sind ein quasimythisches Team, das in seiner Rollenstruktur die möglichen Personae der großen weißen amerikanischen Männerimago so perfekt abbildet, wie die Gruppe Löwe, Blechmann und Vogelscheuche die idealen Begleiter der kleinen Dorothy im "Zauberer von Oz" waren: Tony, der unsichere und darum großmäulige Italoamerikaner, Gilbert, der treuherzige Macho und loyale Freund, Danny, der "weiße Neger" im Sinne Norman Mailers (er liebt Basketball, hört als erster an seiner Schule die Sugarhill Gang und grüßt mit "Yo!"), und schließlich Lionel Essrog selbst, die "Freakshow", wie Minna ihn tauft.

Denn Lionel, aus dessen Perspektive der Leser die Ereignisse beim Übereinanderstürzen beobachten darf, leidet am Tourette-Syndrom, einer Störung des Zentralnervensystems, bei der zwanghafte Verhaltensmuster wie Streicheln von Leuten oder permanentes Ordnen von Gegenständen, manische Logorrhöe und beleidigende Ausbrüche wie ein unerwünschtes Pfingstwunder über die Befallenen kommen. Die Krankheit, wie Lethem sie schildert, ist ein extrovertiertes Komplementärleiden zum Autismus: Mitteilungs- und Handlungsdrang bedingen eine Vereinsamung, die sich neben der von "Rain Man" allemal sehen lassen kann.

In der Umkehrung dieser Beschreibung liegt eine weitere Paradoxie des Romans: Die Krankheit stellt als permanentes Sprach-Erregungsmovens zugleich die Mittel bereit, sich mit ihren Folgen zu arrangieren. "Haben Sie bemerkt", wendet sich Essrog einmal in einem seiner zahlreichen Durchbrüche durch die "vierte Wand" zwischen Personen und Publikum an den Leser, "daß ich alles auf mein Tourette zurückführe? Genau, Sie haben es erraten, ein weiterer Tic. Zählen ist ein Symptom, aber Symptome zählen ist auch ein Symptom, ein Ticplusultra. Ich habe Meta-Tourette."

Was passiert - der Mord an Minna, die kollektive Selbstfindung der Minna Men, die Verstrickung von Minnas Frau und seines undurchsichtigen Bruders ins Verbrechen, das Brodeln der japanisch-italienisch-jüdischen Psychogeographie von Brooklyn, Umtriebe um den Zenbuddhismus und die Fast-Liebesgeschichte Lionels mit einem Mädchen namens Kimmery -, wird vom sprudelnden Sprachquell "Lionel Essrog" in einem Tempo ausgestoßen, als ginge es nicht nur darum, seine Geschichte "im Gehen zu erzählen" (die immer wiederkehrende Wendung stammt aus einer der zahlreichen Brooklyn-Anekdoten des Buches), sondern vor allem darum, die Flut der Tics zu bändigen. Lionel erklärt seine Krankheit im Gehen, sagt grundsätzlich die Wahrheit und wird gerade deshalb permanent mißverstanden - ein Polizist glaubt einmal sogar, Lionels Hinweis auf "Tourette" betreffe eine in den Fall verwickelte Person.

Ein sprachlich so konsequent durchgestaltetes Buch zu übersetzen, in dem allein der Name der Hauptfigur, gespiegelt von deren holographischem Bewußtsein, ungefähr dreihundert Permutationen durchläuft (die hier etwa als "Lügnie Freßtrog" oder "Finaler Export" wiedergegeben werden) und sprachliche Mini-Motivsplitter wie Schrapnelle durch den narrativen Raum rasen, muß schwieriger sein, als den sprichwörtlichen Flohsack zu hüten. Wäre das Ganze nicht letztlich doch auch ein spannender Krimi, bei dem man umblättert, um zu erfahren, wer der Mörder ist, müßte "Motherless Brooklyn" vor lauter linguistischem Einfallsreichtum auseinanderfallen - wenn Lewis Carroll und Raymond Queneau zusammen ein Drehbuch geschrieben hätten, damit Humphrey Bogart einmal wirklich vertrackte Dialoge sprechen kann, wäre wohl etwas Ähnliches dabei herausgekommen.

Natürlich ist der Tourette-Kranke bei Lethem eine reine Kunstfigur - wie der Psychokiller, den Bret Easton Ellis in "American Psycho" seine Geschichte erzählen läßt, ist "Essrog" keine Fallstudie, sondern der Versuch, eine hochelaborierte erzählerische Perspektive mit diagnostischer Wahrscheinlichkeit auszustatten,

Wer sich je gefragt hat, wie Raymond Chandlers und Dashiell Hammetts Detektivstory-Erzähler bei ihrem Bildungsstand und sozialen Hintergrund eigentlich imstande waren, permanent diese großartigen Vergleiche und imagistisch dichten Metaphern hervorzubringen, für den hat Lethem jetzt die Lösung gefunden: Sie waren eben sprachgestört, die Wörter hatten mehr Macht über sie als selbst ihr verschrobener Ehrenkodex. Mit dieser gleichsam wissenschaftlich vorgehenden Plausibilisierung des Abstrusen verrät Lethem seine Herkunft - das Genre, dem er eigentlich entstammt, ist die Science-fiction, genauer: die spekulative Erzähltradition der großen amerikanischen SF-Autoren vor allem der sechziger und siebziger Jahre.

In Interviews bekennt Lethem seine Verbundenheit zu Autoren der "New Wave" jener Zeit wie dem Erzähler und Filmautor Harlan Ellison oder dem schwarzen SF-Schriftsteller und Literaturprofessor Samuel R. Delany, dessen Riesenroman "Dhalgren" Echos durch fast alles sendet, was Lethem geschrieben hat. Lethems erster Roman, "Gun, with occasional Music" von 1995, war ein in der nahen Zukunft spielender Kriminalroman, zu dessen Prämissen unter anderem das Wörtlichnehmen einer Chandler-Metapher gehört: "so unübersehbar wie ein Känguruh in einem Dinnerjackett". Biotechnologisch aufgerüstete Känguruhs sind dem Ich-Erzähler als Handlanger von Kriminellen auf den Fersen, Wahnsinn blüht.

Der Roman war hierzulande eine kurze Zeit lang als Heyne-SF-Taschenbuch lieferbar, Lethems übrige Bücher, darunter ein grandioser Band mit Erzählungen namens "The Wall of the Sky, the Wall of the Eye" und der verstörende Roadmovie-Roman "Amensia Moon", der einem Gerücht zufolge demnächst von David Lynch verfilmt werden soll, sind auf deutsch nicht erhältlich. Wenn "Motherless Brooklyn" die Resonanz erhält, die seinem Rang als souveräne Synthese der Sprechweisen spekulativer Genres und moderner Erzähltraditionen entspricht, wird sich das hoffentlich ändern.

Jonathan Lethem: "Motherless Brooklyn". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Zöllner. Tropen Verlag, Köln 2001. 370 S., geb., 38,- DM.

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