Germany dar.
Was freilich heißt "Mitte", wenn von Berlin die Rede ist? Der Begriff ist, angesichts einer polyzentralen Stadtstruktur, alles andere als eindeutig. Entsprechend versteht jeder etwas anderes darunter. Üblicherweise unterscheidet man folgende Teilzentren: Die "City", die sich seit des Kaisers Zeit im Bereich der Dorotheen- und Friedrichstadt konzentrierte, mit dem Schwerpunkt auf dem prägenden H, das von Unter den Linden, Frieddrichstraße und Leipziger Straße gebildet wird. Dann der "neue Westen" rund um die Gedächtniskirche sowie die Spandauer Vorstadt. Goebel indes widmet seine Aufmerksamkeit voll und ganz der "Altstadt": dem Siedlungszwilling Berlin/Cölln, also den Bereich um Spreeinsel mit dem Friedrichswerder bis hin zum Alexanderplatz.
Noch ein Band über Berlin? Weiß heute nicht jeder, dass es die Bühne harter Konflikte und Experimente in der Weimarer Republik war, vor allem aber Brennspiegel zweier Diktaturen, die eine vielfach gebrochene Stadt hinterlassen haben? Sind nicht alle Schlachten längst geschlagen? Goebel meint: nein. Zugleich macht er deutlich: Einen Sieger gibt es nicht. Den Truppen ist weniger die Munition ausgegangen als der Nachschub. Der Kampfplatz blieb zwar nicht, wie er war; die Stadt wurde aber auch nicht, was die Investoren auf der einen und die Verwaltung auf der anderen Seite jeweils aus ihr machen wollten.
Die elf Kapitel sind in ein klares semantisches Schema gepresst: "Enge Mitte", "Verplante Mitte", "Entleerte Mitte", "Rekonstruierte Mitte" und so fort. Der jeweils einleitende Text ist knapp gehalten, Erläuterung und Beweisführung erfolgen dann anhand von Beispielen, die mit Plänen und Fotos dokumentiert sind. Gleichwohl stößt man mitunter auf hübsche Sätze wie diesen: "Berlin gleicht einem Patienten, dessen Ärzte sich im 19. und 20. Jahrhundert in fliegender Hast abwechselten, fortlaufend Gliedmaßen amputierten und solche Feinheiten wie Straßen und Häuserreihen gerne mit dem Raupenbagger abrasierten. Seit den 1980er-Jahren gibt es eine Gegenbewegung, nun werden Häuser wie Porzellankronen in Berlins zahnlose Kiefer geschraubt und Gliedmaßen angenäht - ohne dass Berlin heil oder gar schön genannt werden könnte."
Eine historische Besonderheit Berlins ist das spät einsetzende enorme Wachstum von einer im mitteleuropäischen Vergleich eher durchschnittlichen Residenzstadt zur drittgrößten Stadt der Welt in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Schon vor 180 Jahren führte das Ungenügen der bürgerlichen Berliner an den bescheidenen eigenen Ursprüngen zu dem Wunsch, das gesamte Stadtzentrum abzureißen und gleichförmig - repräsentativ - neu zu bebauen. Fast hundert Jahre lang, von 1840 bis 1935, blieb dies Vorhaben trotz mancher Neubauten ein Wunschbild.
Doch in den nachfolgenden vier Jahrzehnten wurde das Berliner Stadtzentrum unter wechselnden politischen und wirtschaftlichen Umständen tatsächlich weitgehend abgerissen und neu gestaltet. Heute stehen von den knapp 1100 Gebäuden des Jahres 1840 noch acht. Die Hauptschuld dafür liegt keineswegs im Bombenhagel des Krieges, denn zwei Drittel der fehlenden Gebäude wurden zu Friedenszeiten abgerissen.
Berlins Mitte sei das städtebauliche Ergebnis des rabiaten Umgangs mit ihr, was freilich keineswegs bedeuten dürfe, sich bedingungslos der Macht des Faktischen zu beugen. Goebel kämpft gegen die Verdrängungslust, die dafür sorgte, dass nach 1945 in Ost wie West radikal enttrümmert wurde. Und hält es für dürftig, wenn sich die Stadt aus Mangel und zur Mahnung ein paar Relikte bewahrt. Freilich hat ein solches Anliegen seine Tücken: Der Blick auf den aufgelösten Ort der Mitte mag weich gezeichnete Bilder produzieren. Das Zentrum als Hort stillgestellter Dinge und stehengebliebener Zeit wäre das Refugium des Heimatlichen - Ort des Konservierens, der Kultur- und Traditionspflege. Doch in diese Falle tappt Goebel nicht. Statt an der Vergangenheit festzuhalten, sinnt er auf Neues. Und zwar als Kontrafaktur zum gegenwärtigen Stadtdiskurs. "Mitte" verweist bei ihm auf eine ein- und zugleich ausgrenzende Sonderzone, die als historisch gegründete Utopie reüssiert.
Sein Buch ist eine Kampfschrift, aber ohne die Plattheiten, die solche Pamphlete sonst oft enthalten. Manche Aussagen mögen pauschal daherkommen ("Die amtliche Stadt- und Verkehrsplanung der Jahre 1910 bis 1975 war gleichermaßen in Ost- wie Westdeutschland ein Motor der Stadtzerstörung"), sie sind aber kaum zu entkräften. Und es wäre ein Irrtum anzunehmen, dass dieses retroaktive Manifest nur die Berlin-Fans anspricht. Denn was hier aufbereitet wird, gilt in ähnlicher Weise auch für Köln, Hannover oder Frankfurt. Goebel macht aufmerksam auf grundsätzliche Entwicklungen. Denn es steht zu befürchten, dass der Blick für die großen Transformationen der heutigen Stadtstruktur nachlässt, dass er sich verschiebt in Richtung "Smart City": Jenem Versuch der Wirtschaft, sich die Städte als neuen globalen Megamarkt zu erschließen - als ob die Digitalisierung und das ständig wachsenden Datenmaterial die urbane Formgebung obsolet werden ließen. Und wenn das Urbane als räumlich gebautes Werk und konkrete Lebenswelt in den Hintergrund gerät, dann verlieren wir auch die Fähigkeit, mit der Entwicklung der Stadt die Form der Gesellschaft zu beeinflussen.
ROBERT KALTENBRUNNER
Benedikt Goebel: "Mitte!" Modernisierung und Zerstörung des Berliner Stadtkerns von 1850 bis zur Gegenwart.
Lukas Verlag, Berlin 2018. 157 S., Abb., br., 19,80 [Euro].
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