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Noch Ende des Jahres 1937 und damit knapp ein halbes Jahr vor Gründung der „Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben“ lebten in den beiden Landgemeinden Heßlingen-Wolfsburg und Rothenfelde-Rothehof, die zum Kerngebiet des späteren Wolfsburg werden sollten, exakt 857 Einwohnerinnen und Einwohner.1 Zwei Jahre später hatte sich die Einwohnerzahl mit annähernd 7.000 fast verachtfacht. In den folgenden acht Dekaden sollte sie auf mehr als 125.000 anwachsen.2 Dass der größte Teil dieses Wachstums auf Zuwanderung zurückgeht, erklärt sich fast von alleine, obgleich im Zuge der kommunalen Gebietsreform…mehr

Produktbeschreibung
Noch Ende des Jahres 1937 und damit knapp ein halbes Jahr vor Gründung der „Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben“ lebten in den beiden Landgemeinden Heßlingen-Wolfsburg und Rothenfelde-Rothehof, die zum Kerngebiet des späteren Wolfsburg werden sollten, exakt 857 Einwohnerinnen und Einwohner.1 Zwei Jahre später hatte sich die Einwohnerzahl mit annähernd 7.000 fast verachtfacht. In den folgenden acht Dekaden sollte sie auf mehr als 125.000 anwachsen.2 Dass der größte Teil dieses Wachstums auf Zuwanderung zurückgeht, erklärt sich fast von alleine, obgleich im Zuge der kommunalen Gebietsreform von 1972 und der damit einhergehenden Eingemeindung von Fallersleben, Vorsfelde und 18 weiteren Gemeinden über Nacht mehr als 36.000 Einwohnerinnen und Einwohner dazu kamen.3 Die Zahlen der über Jahre durch die zuständigen Ämter penibel erarbeiteten Statistiken sprechen für sich. Schon bald nach der – im Vergleich mit der propagandistisch inszenierten Grundsteinlegung des nationalsozialistischen Prestigeprojekts Volkswagenwerk im Stillen – erfolgten Stadtgründung setzte ein rascher Zuzug aus allen Teilen des „Reiches“ ein – und darüber hinaus. Dies lässt sich beispielsweise anhand eines Schüler-Verzeichnisses der damaligen Volksschule I anschaulich nachvollziehen.4 Bei der standardisierten systematischen Erfassung aller Schülerinnen und Schüler wurde unter anderem auch deren Geburtsort vermerkt: Ob aus Hamburg, Helmstedt oder Königsberg, aus Chemnitz, Eisleben oder dem in Mähren gelegenen Römerstadt (heute Rýmařov) – Kinder aus allen Himmelsrichtungen des „Deutschen Reiches“ zogen mit ihren Eltern in die entstehende, als NS-Mustersiedlung proklamierte Stadt. Zudem finden sich aber auch, wenngleich weitaus seltener, Einträge wie São Paulo, New York oder die damalige „Motor City“ Detroit – wohl nicht zufällig war unter dem Beruf des Vaters „Ingenieur“ eingetragen. Hier wie auch in anderen Fällen wurden erfolgreich Fachkräfte aus der Automobilindustrie für das nationale Projekt des Volkswagens gewonnen. Daneben zogen ab September 1938 auch tausende Arbeiter der Confederazione Fascista dei Lavoratori dell’Industria (CFLI), der faschistischen Schwesterorganisation der Deutschen Arbeitsfront (DAF) in Italien, in das Gemeinschaftslager der Stadt ein. Waren diese freiwillig in die „Stadt des KdF-Wagens“ gekommen, so galt dies in keinster Weise für all die zwangsverpflichteten Zivilarbeiter, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlinge, die im Zuge der „Eingliederung des Volkswagenwerkes in die Rüstungswirtschaft“ und dem damit einhergehenden „betriebliche[n] System der Zwangsarbeit“ in die Stadt gelangten und hier widrigsten Arbeits- und Lebensbedingungen ausgesetzt waren.5 Schon bald machten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter die Bevölkerungsmehrheit in der „Stadt des KdF-Wagens“ aus. Der Historiker Manfred Grieger schreibt, Mitte des Jahres 1944 „zählte der Arbeitsamtbezirk ‚Stadt des KdF-Wagens‘ […] 21.957 Ausländer – 14.880 Männer und 7.077 Frauen –, davon allein 10.766 ‚Ostarbeiter‘“.6 Nach Ende des Krieges setzte sodann ein Wachstum ein, das Stadt und Verwaltung insbesondere mit Blick auf den Wohnungsbau vor eine Vielzahl an Problemen stellen sollte: Für ungezählte Kriegsheimkehrer, Displaced Persons und vor allen Dingen sogenannte Heimatvertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten war Wolfsburg eine Zwischenstation auf dem Rückweg oder auf der Suche nach einem neuen Zuhause. Besonders nachdem das Volkswagenwerk in den späten 1940er Jahren an Fahrt aufgenommen hatte, entschlossen sich jedoch viele zum dauerhaften Verbleib. Sie wurden keineswegs mit offenen Armen empfangen. Bisweilen stießen sie, keine Seltenheit im besetzten Deutschland, auf offene Ablehnung. Der Historiker Jan Plamper schreibt mit Blick auf Deutschland, die Geflüchteten seien durch die Aufnahmegesellschaft als fremd und anders wahrgenommen worden, diese sei ihnen ablehnend, mit Ängsten, Ressentiments und Rassismus begegnet.7 Zugleich begann aber auch schon damals etwas, das sich als kommunale integrative Maßnahmen fassen lässt. So wurden noch in den ausgehenden 1940er Jahren das Stadtflüchtlingsamt und der Stadtflüchtlingsrat gegründet – stadtpolitische Institutionen, die sich in den kommenden Jahren durchaus Gehör zu verschaffen wussten. Fragen der Integration blieben bei einer Bürgerschaft, die in den 1950er und 1960er Jahren mitunter zu mehr als 33 Prozent aus Heimatvertriebenen bestand, gleichwohl akut. Sichtbare Zeichen für deren Präsenz und das schrittweise Ankommen in der Stadtgesellschaft sind das Mahnmal auf dem Klieversberg sowie zahlreiche Straßennamen, die an die ehemaligen Herkunftsorte der Zugewanderten erinnern. Der Ende der 1950er Jahre entstandene Stadtteil Laagberg hat fast ausschließlich solche Straßennamen – von der Breslauerstraße über den Schlesierweg, den Samlandweg, den Masurenweg, den Siebenbürger Weg bis hin zur Sudentenstraße. Nicht anders sieht es auf dem Wohltberg aus, auf dem die Straßen unter anderem nach Danzig, Elbing, Karlsbad, Kattowitz, Königsberg, Köslin, Memel, Posen, Riga, Stettin oder Tilsit benannt sind. Über zahlreiche Ämter und Ausschüsse ist die Geschichte der Ankunft und oftmals nicht einfachen Aufnahme der Heimatvertriebenen in die Stadtgesellschaft in den kommunalen Akten des Stadtarchivs wie auch den bestehenden Sondersammlungen gut dokumentiert – bis hin zur vierteljährlichen peniblen Dokumentation der „Flüchtlingsbewegungen“. Gleiches gilt für die Geschichte der durch das Volkswagenwerk angeworbenen italienischen „Gastarbeiter“, die Wolfsburg ab 1962 zur „größten Italienersiedlung nördlich des Brenner[s]“ werden ließen, wie es fast unisono in Artikeln der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Süddeutschen Zeitung aus ebendiesem Jahr hieß.8 Wohl kaum ein Kapitel der Zuwanderung in die Stadt Wolfsburg ist so gut erforscht wie das der italienischen. Als sich die Stadt Wolfsburg dann in den 1960er und 1970er Jahren vor die Herausforderung gestellt sah, den Bedürfnissen, Forderungen und Problemen der italienischen Familien gerecht zu werden, hätte sie sich durchaus an den gemachten Erfahrungen und geschaffenen Institutionen aus der Nachkriegszeit orientieren können. Stattdessen versuchte die Verwaltung Ende des Jahres 1969 mit dem deutsch-italienischen Kontaktausschuss, einem direkten Vorläufer des 1974 gegründeten Ausländerreferats, das Rad neu zu erfinden. Jeweils angestoßen durch die Migrantinnen und Migranten selbst, können diese Maßnahmen nur bedingt als Ausdruck einer aktiven kommunalen Integrationspolitik gelesen werden. Es sollte zudem dauern, bis diese frühen Formen der partizipativen Integrationspolitik fest etabliert und allseitig anerkannt waren. Aber Zuwanderung meinte schon in den 1960er Jahren nicht nur die Ankunft italienischer „Gastarbeiter“ in der Stadt, auch wenn sie und ihre Familien 1965 rund achtzig Prozent der Ausländerinnen und Ausländer ausmachten.9 Allein die zahlreichen anderen Zuwanderinnen und Zuwanderer anderer Nationalität haben in der kommunalen Überlieferung nur wenige Spuren hinterlassen. Mit dem vorhandenen Aktenbestand zu den Tunesierinnen und Tunesiern, die im Sommer 2020 ihr fünfzigjähriges Jubiläum in Wolfsburg begehen, lässt sich ihre Geschichte nicht erzählen. Ähnlich sieht es für die Geschichte der portugiesischen, polnischen oder jugoslawischen Zuwanderer aus, ganz zu schweigen von den Brasilianerinnen, Togolesen, Mexikanerinnen und Australiern, den Spätaussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion, Geflüchteten aus Syrien: Die Überlieferung ist aus Forscherperspektive beklemmend dünn. Ihr Leben in und mit der Stadt findet im kommunalen Schriftgut kaum Niederschlag und wenn, dann meist einseitig aus der Perspektive der Verwaltung.10 Dieses Manko möchte das Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation in den kommenden Jahren beheben. Denn Wolfsburg hat sich, wie es im Integrationskonzept der Stadt heißt, „durch Zuwanderer unterschiedlichster Herkünfte mit all ihrem Wissen, Können und kulturellem Erbe zu der jungen, dynamischen und erfolgreichen Stadt entwickelt, die sich uns heute präsentiert“.11 Und diese Vielfalt soll zukünftig auch in der archivalischen Überlieferung gespiegelt werden. Mit dem nun vorliegenden Band ist ein erster Schritt getan, die Perspektive zu weiten. Die mehr als achtzig Objektgeschichten, die wir in diesem Buch dokumentieren, sind eine erste Bestandsaufnahme. Die Objekte fungieren dabei als Stellvertreter für eine Heimat, die freiwillig oder erzwungen zurückgelassen wurde. Dabei haben wir die Zugewanderten selbst sprechen lassen, ganz persönlich und individuell, ohne uns explizit die ganze Zuwanderungsgeschichte erzählen zu lassen. Vielmehr erfragten Aleksandar Nedelkovski, Jessica Grebe und Johanna Speikamp jeweils einen Gegenstand, über den die Zugewanderten mit ihrem jeweiligen Herkunftsland – oder dem ihrer Vorfahren – verbunden sind, und zeichneten die dazugehörige Geschichte auf. Während Ansgar Wilkendorf die Objekte fotografisch in Szene setzte, wurden die von Jessica Grebe und Johanna Speikamp transkribierten Erzählungen zur Grundlage für die bis auf zwei Ausnahmen von mir verfassten Texte. Neben einer Einführung, in der sich Johanna Speikamp nicht nur der Vielfalt der Objekte, sondern auch der Vielfalt im Umgang mit ihnen widmet, und einem Beitrag Aleksandar Nedelkovskis, der anhand eines Fotoalbums, das in Georgien verbleiben musste, die Bedeutung von Objekten für die Erinnerung ins Zentrum seiner Überlegungen stellt, werden sie in diesem Buch durch Texte flankiert, die sich jeweils einem Desiderat der Wolfsburger Zuwanderungsgeschichte gewidmet haben: Der Migrationshistoriker Frank Wolff fokussiert dabei auf ein Thema, für das die „Zonengrenzstadt“ Wolfsburg prädestiniert scheint: die sogenannten Ostflüchtlinge, DDR-Bürger, die in die Bundesrepublik geflohen sind, und die sie betreffende städtische Flüchtlingspolitik. Mit seinem Artikel über binationale Eheschließungen in der Volkswagenstadt vermag dagegen der Zeithistoriker Christoph Lorke gesellschaftliche Veränderungsprozesse hin zu einer Pluralisierung von Lebens- und Beziehungsformen nachzuzeichnen; Entwicklungen, die nicht nur Verwaltungsroutinen veränderten, sondern uns mitten hinein in die Alltags- und Sozialgeschichte Deutschlands führen. Standen hier vor allen Dingen Prozesse im Fokus der Untersuchung, die um das Standesamt kreisten, richtet Michael Siems sein Augenmerk auf frühe Experimente der kommunalen Integrationspolitik. Die Entwicklung der einzelnen städtischen Integrationsorgane wie auch ihrer Arbeitsabläufe, Strukturen und kommunalpolitischen wie gesellschaftlichen Akzeptanz spiegelt die sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse anschaulich wider. Interviews mit Konrad Schmidt-Ott, Betty Rannenberg und Sylvia Cultus, die maßgeblich am Aufbau und der Weiterentwicklung der Organe der kommunalen Integrationspolitik der Stadt Wolfsburg beteiligt waren, runden das Thema ab, bringen es aber bei Weitem noch nicht zu einem Abschluss. Vielmehr erhoffen wir uns mit diesem Buch einen Anstoß zu weiteren Arbeiten gegeben zu haben.