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Produktdetails
  • suhrkamp taschenbuch 3512
  • Verlag: Suhrkamp
  • Seitenzahl: 210
  • Deutsch
  • Abmessung: 12mm x 108mm x 177mm
  • Gewicht: 140g
  • ISBN-13: 9783518455128
  • ISBN-10: 3518455125
  • Artikelnr.: 11340923
Autorenporträt
Joachim Sartorius, geboren 1946, wuchs in Tunis auf und lebt heute - nach langen Aufenthalten in New York, Istanbul und Nicosia - in Berlin. Seit 2001 leitet er die Berliner Festspiele. Sein lyrisches Werk wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Er veröffentlichte mehrere, in Zusammenarbeit mit Künstlern entstandene Bücher und ist Herausgeber der Werkausgaben von Malcolm Lowry und William Carlos Williams sowie verschiedener Anthologien. Auszeichnung 1998 für seine Übersetzung amerikanischer Lyrik von John Ashbery und Wallace Stevens mit dem Paul-Scheerbart-Preis sowie mit zahlreichen Stipendien ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.04.2000

Minima poetica
Joachim Sartorius holt Auskunft bei den Gedichten

Dichtung muss lehrbar sein. Doch es verblüfft, mit wie geringen Vorbehalten Dichter das Geschäft des Erklärers übernehmen und so die Notwendigkeit lyrischen Sprechens indirekt in Frage stellen. Wozu Gedichte, wenn man es auch anders sagen kann? Peter Gan hat daher, als Hans Bender 1955 für die Anthologie "Mein Gedicht ist mein Messer" nach dem Entstehen von Gedichten fragte, höchst angemessen geantwortet: in einem Gedicht. Joachim Sartorius muss genau diese latente Spannung von Lyrik und Erläuterung bedacht haben, als er drei Dichterinnen und dreizehn Dichter aus allen Kontinenten danach fragte, "was Lyrik heute soll", denn er bat sie auch um je zwei Gedichte, ein eigenes und ein fremdes. Wer also die "Minima poetica" aufschlägt, hält nicht nur ein Kompendium zeitgenössischer Poetik in Händen, sondern zugleich eine elementare Anthologie.

Natürlich kann man über den Kanon der Autoren streiten, doch die Skala von Edouard Glissant und Abdelwahab Meddeb bis zu Brigitte Oleschinsky gleicht manche interne Schwäche aus. Oswald Egger etwa balanciert in Prosa hart am Rande des Sinns, zwischen blechernen "Worte(n) wie Zinkblumen" und der Ein-Satz-Poetologie "Es genügt mir, wenn ich denke, daß ich rede". Aber Eggers schräge "Sparren verschwundener Nachmittage" lassen einen dann auch gleich wieder einen ganzen Himmel aus Zeit wiederfinden - in seinem eigenen Lieblingsgedicht. Auch Raoul Schrott liefert einen eher heiklen Beweis seiner Sieben-Meilen-Technik, wenn er die Metapher zu erklären versucht: "Sie ist letztlich nichts anderes als die Gegenüberstellung von Ich und Welt, Eindruck und Wissen, eine Gleichsetzung, die wie eine mathematische Formel zwischen das x und das y ein = setzt." Die Sprünge dieser Gedanken und der Lapsus, die Metapher sei "wie" eine Gleichung, strapazieren jegliches Wohlwollen, doch wie Unschärfe produktiv werden kann, zeigt der Schluss seiner "Physikalischen Optik II": "auf ihrem steten rückzug erdwärts / strahlen scheinwerfer die bäume an stamm um stamm / damit sie noch morgens dieselben haben". Die nächtliche Autofahrt verschmilzt mit Vegetation und Vergehen, schrammt knapp am syntaktischen Unfall vorbei - und bleibt gerade dadurch im Gedächtnis haften wie ein "aus dem handgelenk" aufgenommener Videofilm.

Aus den weiteren Facetten des Bandes leuchten neben Cees Notebooms reflektierter Eleganz besonders Olga Orozco und Yang Lian hervor: Die argentinische Dichterin justiert die Balance von Enthusiasmus und Nüchternheit, der chinesische Dichter steht ein für den Konnex von Politik und Poetik, der nicht in Ästhetik auflösbar ist. Was Lyrik heute soll? Mit Lian: "Die Sprache, das Schweigen öffnen". Charles Simic freilich überholt seine theoretischen Bemerkungen als Erzähler. Die Herleitung seiner Lyrikbegabung aus den Zigeunerliedern, zu deren Klang der Großvater gestorben sein soll, ist unwiderstehlich. Muss man also zur Dichtung geboren sein, wie es das alte Vorurteil meint? Dass zumindest der entscheidende letzte Schritt nur in der Kunst gangbar ist, zeigt mit Simic auch Bernhard Noël. Denn er antwortet auf Sartorius' Frage konsequent - mit dem Gedicht "Ars poetica". Und nur ein Dichter darf aussprechen, was dem gewöhnlichen Leser erst als Lohn jahrelanger, theoretisch geschärfter Aufmerksamkeit winkt: "es genügt das Gedicht / mit den Augen zu essen".

Dass das wiederum doch nicht ganz genügt, zeigt sich in der vergleichenden Lektüre von Sartorius' Arrangement, dessen Witz den kognitiven Vorrang der Poesie vor jeder Theorie zeigt. Denn das letzte Wort hat der poetisch erfahrene Herausgeber mit Hilfe zweier Dichter verteilt und versteckt. Les Murrays mächtigem Gedicht "Dichtung und Religion", das zu Beginn den Maßstab alles Folgenden vorgibt, korrespondiert abschließend Felix Philipp Ingolds Übersetzung von Giacomo Leopardis "Inifinito", in der die Gedankenfolge des Originals virtuos umgekehrt wird, ohne das Gedicht zu verletzen. Wollte man die implizierte Poetik des Bandes prosaisch erläutern, müsste sie daher wohl lauten: Unser übersetzender Intellekt sieht die Welt stets seitenverkehrt; nur im Gedicht zeigt sich alles - also auch die aktuelle Poetik - unverdreht.

THOMAS POISS

Joachim Sartorius (Hrsg.): "Minima poetica". Für eine Poetik des zeitgenössischen Gedichts. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999. 194 S., geb., 39,80 Mark.

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