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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.08.1999

Wo liegt eigentlich Ischia?
Eher kursorisch: Metzlers "Goethe-Lexikon" für eilige Leser

Goethe konsultierte regelmäßig Nachschlagewerke. Das Hübnersche Zeitungslexikon etwa, ein kompaktes Konversationslexikon, hatte er stets griffbereit, und für Details aus der Welt der antiken Götter und Heroen zog er Benjamin Hederichs "Gründliches Lexicon mythologicum" heran. Das Stichwort "Lexikon" aber sucht man im "Metzler-Goethe-Lexikon" vergeblich.

Der Maler Domenichino kommt nicht vor, obgleich seine Fresken im Chor von S. Andrea della Valle zu Rom und seine Wandgemälde zu den "Metamorphosen" des Ovid in der Villa Aldobrandini zu Frascati Goethe tief beeindruckt haben. Der Artikel zu Michelangelo vermittelt den Eindruck, Goethe habe lediglich dessen Malerei in der Sixtinischen Kapelle wahrgenommen, nicht aber zum Beispiel auch den Moses; über Raffael teilt das Lexikon lediglich mit, Goethe habe an dessen Gemälden und Fresken den eigenen Blick für die Gestaltungsgesetze der Malerei geschult, ohne Hinweis darauf, dass er dies zum Beispiel in der Anschauung der "Heiligen Caecilia" in Bologna oder der "Schule von Athen" im Vatikan getan hat. Mit gerade einmal acht Zeilen wird Raffael bedacht, während der ebenso öden wie zufälligen Auflistung von Goethe-Straßen und -Wegen in einigen deutschen Mittelstädten über vierzig Zeilen gewidmet werden.

Solche Verteilung der Gewichte scheint es nicht zu erlauben, unter dem Stichwort "antik/modern" darüber zu informieren, dass Goethe und seine Zeitgenossen, wenn sie den normativen Geltungsanspruch der antiken Kunst erörterten, dies nicht voraussetzungslos taten, sondern mit Bezug auf die "Querelle des anciens et des modernes", die Charles Perrault mit seinem Plädoyer für den Vorzug der Neuen Ende des siebzehnten Jahrhunderts in die Académie française getragen hatte. Gerade an Goethes "heiligem" Homer war die Querele 1714 heftig wieder aufgeflammt, als Anne Dacier, die französische Übersetzerin von "Ilias" und "Odyssee", den griechischen Dichter gegen ihren "modernistischen" Freund Antoine La Motte verteidigt hatte. Auch der Artikel zu Homer weiß nichts von alledem.

Das "Welttheater" wird als internationales Gegenkonzept zum Nationaltheater vorgestellt, wie ein verlorener Splitter zu dem knappen Artikel "Weltliteratur". Nicht die Rede ist jedoch von der barocken Tradition des Weltheaters, etwa bei Calderon, dessen "El gran teatro del mundo" Goethe bevorzugt auf dem Weimarer Theater spielen ließ. Gleich dreimal - unter den Begriffen "Dissertation", "Doktor-Titel" und "Promotion" - kommt Goethes Straßburger Studienabschluss vor. Aber keine der drei Stellen erklärt die Details des komplizierten Graduierungssystems an den Universitäten des achtzehnten Jahrhunderts.

Das Lexikon hat laut Vorab-Katalogaufnahme der Deutschen Bibliothek, die auf den Meldungen des jeweiligen Verlags kurz vor Erscheinen eines Buches beruht, den Untertitel "Alles über Personen, Werke, Orte, Sachen, Begriffe, Alltag und Kurioses; mit 2200 Artikeln". Man mag das Buch aber drehen und wenden, wie man will, der Untertitel findet sich nirgendwo. In letzter Minute muss dem Vertrieb eingefallen sein, dass der Zusatz "mit 150 Abbildungen" auf dem Titelblatt verkaufsfördernder sein könnte.

Zwar wird "alles über Goethe" versprochen, auch zu "seiner Nachwirkung bis heute". Ein Schelm aber, wer bei solcher Vollmundigkeit die Probe aufs Exempel wagt: Weder Ugo Foscolos "Ultime lettere di Jacopo Ortis" noch Ulrich Plenzdorfs "Neue Leiden des jungen W." gehören hier zur "Werther"-Wirkung. Dabei kommt das Lexikon nicht aus irgendeinem Verlag, dem man die Schwächen eines eilig auf den Jubiläumsanlass hin produzierten Buches allenfalls durchgehen lassen könnte. Sondern aus einem Hause, in dem gerade die kritische Edition der Tagebücher des Dichters erscheint. Als "Arbeitgeber von Adelbert von Weislingen" wird der Bischof vom Bamberg aus dem "Götz" vorgestellt. "Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich" heißt das Stichwort, unter dem die Selbstbeurlaubung des weimarischen Ministers nach Italien geschildert wird. Solche neckischen Aktualisierungen können kaum davon ablenken, wie reizvoll eine Darstellung der Flucht aus Weimar unter verwaltungshistorischen Aspekten hätte sein können.

Unter dem Stichwort "Islam" erfährt man nicht nur, Goethe habe ihm von Jugend an positiv gegenübergestanden und für die Arbeit am "Westöstlichen Divan" den Koran herangezogen. Es folgt zudem die wenig überraschende Information: "Doch war Goethe kein Moslem." Auch wird man darüber belehrt, dass "Ischia" eine "italienische Insel vor Neapel" ist, "die Goethe aber nie besucht hat, sondern nur im Vorüberfahren zu Land oder vom Schiff aus malerisch im Meer liegen sah". Sydney hat Goethe auch nie besucht, hat die Stadt nicht einmal im Vorüberfahren gesehen, aber dort hat immerhin ein solider Positivist namens Gero von Wilpert ein "Goethe-Lexikon" (siehe F.A.Z. vom 10. Oktober 1988) erarbeitet, das diesen Namen wirklich verdient und das Metzlersche ganz und gar überflüssig macht. Für nur ein paar Mark mehr liefert Wilpert zudem überall Hinweise auf weiterführende Literatur. Zur Ermittlung bibliographischer Angaben hat man sich bei Metzler keine Zeit genommen, entschädigt den Leser aber unter dem Stichwort "Internet" mit der Empfehlung zum ,Chatten': "Der Blick ins Netz lohnt sich zumindest für Goethe-Interessierte, die Anschluss an Gleichgesinnte suchen."

HANS-ALBRECHT KOCH

Benedikt Jeßing, Bernd Lutz und Inge Wild (Hrsg.): "Goethe-Lexikon". J. B. Metzler Verlag, Stuttgart und Weimar 1999. 583 S., Abb., geb., 59,80 DM.

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