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Mit Meßmers Reisen knüpft Martin Walser an sein 1985 erschienenes Buch Meßmers Gedanken an. Es ist eine Selbst- und Welterkundung von geradezu bestürzender Radikalität. Was der Autor hier vorstellt, ist nichts weniger als eine Art innerster Autobiographie, eine Autobiographie der Existenz. Er bezieht nicht den Schutzraum einer erzählten Geschichte, sondern erfindet sich die Figur Meßmer, an die er sich nachdenklich, aggressiv, erkenntnissüchtig wendet; immer wieder wechselt er dabei vom »er« zum unverstellten »ich«, das sich weder Maske noch Schonung gönnt. Walser läßt seinen Meßmer unterwegs…mehr

Produktbeschreibung
Mit Meßmers Reisen knüpft Martin Walser an sein 1985 erschienenes Buch Meßmers Gedanken an. Es ist eine Selbst- und Welterkundung von geradezu bestürzender Radikalität. Was der Autor hier vorstellt, ist nichts weniger als eine Art innerster Autobiographie, eine Autobiographie der Existenz. Er bezieht nicht den Schutzraum einer erzählten Geschichte, sondern erfindet sich die Figur Meßmer, an die er sich nachdenklich, aggressiv, erkenntnissüchtig wendet; immer wieder wechselt er dabei vom »er« zum unverstellten »ich«, das sich weder Maske noch Schonung gönnt. Walser läßt seinen Meßmer unterwegs sein als jemand, der seine Erfahrung nicht geringschätzt und doch mit schärfster Neugier alles und sich selbst in Frage stellt - eben, um neue Erfahrungen zu machen jenseits des Meinens.
Autorenporträt
Martin Walser wurde am 24. März 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren. Nach seinem Arbeitsdienst erlebte er das Ende des Zweiten Weltkrieges von 1944 bis 1945 als Soldat der Wehrmacht. Nach Kriegsende machte er 1946 in Lindau am Bodensee-Gymnasium das Abitur und studierte an den Universitäten Regensburg und Tübingen Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie. Mit einer Dissertation zu Franz Kafka wurde er 1951 in Tübingen promoviert. Von 1949 bis 57 arbeitete er beim Süddeutschen Rundfunk. In dieser Zeit unternahm er Reisen für Funk und Fernsehen nach Italien, Frankreich, England, CSSR und Polen und schrieb erste Hörspiele. 1950 heiratete er Katharina Neuner-Jehle. Aus dieser Ehe gingen die Töchter Franziska, Alissa, Johanna und Theresia hervor. Seit 1953 wurde Walser regelmäßig zu den Tagungen der Gruppe 47 eingeladen, die ihn 1955 für die Erzählung Templones Ende auszeichnete. Sein erster Roman Ehen in Philippsburg erschien 1957 und wurde ein großer Erfolg. Walser lebte von da an mit seiner Familie als freier Schriftsteller erst in Friedrichshafen und dann in Nußdorf am Bodensee. Martin Walser verstarb am 26. Juli 2023 in Überlingen am Bodensee.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2003

Wer sich ins Subjekt versenkt, kommt darin um
Kündigung statt Verkündigung: Der Aphoristiker Martin Walser schickt einen Strohmann auf Reisen / Von Hans-Jürgen Schings

Meßmers Reisen" knüpfen an "Meßmers Gedanken" von 1985 an und präsentieren den sprachlichen Alleskönner Martin Walser als hochkarätigen Aphoristiker. Das kommt nicht von ungefähr, hat doch die aphoristische Form besondere Vorteile: Aphoristiker "plappern" und "plaudern" nicht. Und Walser zeigt, daß er über das gattungsspezifische "génie de la brièveté" verfügt, mit Lust und oft genug mit Glanz. "Der geradezu jubelnde Zugriff, sprachlich, wenn es um Genauigkeit beziehungsweise Ausdruck geht."

Das kann er; das einzige Mal, wo Meßmer sich lobt, ist er im Recht. Es funkelt und blitzt in der künstlichen Ökonomie des knappsten Raumes. Und dies, obwohl Walser den apodiktischen Entlarvungston der alten Moralisten, der gern Verachtung und Heiterkeit paart, nur selten anschlägt. Dazu ist Meßmer, bei allem Witz, nicht stark und hochfahrend genug, zu sehr mit sich selbst beschäftigt, zu anfällig für die eigenen Nöte. Jouberts "Il faut cacher sa sensibilité" ist deshalb seine Sache nicht. Meßmers Aphorismen sind empfindlich und subjektiv, lassen ihre Pointen nicht brillieren, verbergen ihre Aggressivität. Wenn er ins Schwarze trifft, ist es oft genug die eigene Schwärze. Doch auch dafür ist die aphoristische Schreibweise, zumindest seit Lichtenberg, zuständig.

Denn der Feind des Aphorismus ist seit je das System und sein Partner die ganz individuelle Erfahrung. Und so verlaufen auch hier die Fronten. Walser sagt nicht "System", sondern "Meinung" und "öffentliche Meinung" oder auch "adressierte Sprache" und "Verkündigung" oder kurzum "Universalismus". Schon bei Chamfort ist zu lesen: "Es gibt Zeiten, wo die öffentliche Meinung die schlechteste aller Meinungen ist." Von Schopenhauer übernimmt Meßmer den Satz George Berkeleys: "Few men think, but all will have opinions."

"Die öffentliche Meinung als die neueste Kirche, der letzte Gott", weiß Meßmers Schriftstellerkollege im Roman "Ohne einander" (1993). Der "Gott Öffentlichkeit" habe die "größten Chancen, seine Vorgänger zu übertreffen", wiederholt Meßmer, und er sagt sich, auch sonst auffällig theologiekritisch gestimmt, los von diesem Gott, Schlag um Schlag: "Was willst du machen, wenn sich jeder außer dir für den Sohn Gottes hält." - "Verkündigung. Tritt heute auf als Theorie . . . Sich aufplustern mit etwas, das mehr ist als man selbst . . ." - "Die Geringfügigkeit unserer eigenen Erfahrung führt manchen dazu, sich universalistisch zu geben. Je beschränkter unsere Erfahrung ist, desto allgemeiner wollen wir zuständig sein." Am Ende der Sequenz schließlich: "Nichts, als was ihn selber sein läßt. Das Gegenteil von Verkündigung. Entkündigung. Oder einfach: Kündigung." Das widerständige Losungswort ist gefunden.

Und im Aphorismus hat solche Kündigung ihr angestammtes Medium. Das aphoristische Selbstgespräch jedenfalls entgeht dem performativen Widerspruch, der die Paulskirchen-Rede ins Zwielicht rückte. Wohl aber läßt es das Ausmaß des Öffentlichkeitshasses spüren, der im höchst umstrittenen Roman "Tod eines Kritikers" hervorgebrochen war. Wie Michael Landolf sich dort auf das denkbar entlegene Gebiet von Mystik und Geheimwissenschaften verlegt, um ein Buch über die Geschichte der "Ichwichtigkeit" zu schreiben, so sucht der Ketzer Meßmer Zuflucht vor "Vokabularquirlen" und öffentlichen Tribunalen, um in der kleinen Form und in der kleinen Erfahrung nichts als er selbst sein zu wollen. Er folgt damit dem Gesetz des Genres. "Nichts, was mir wichtig ist, ist links oder rechts", auch so kann man es formulieren.

Sätze, die mit Ich anfangen, solle man streichen, hatte Meßmer früher erklärt, und er meinte es weniger höflich denn sarkastisch. Jetzt ist das Ich, meist auch grammatisch, immer präsent und streicht den Fiktionsvorbehalt des Romans durch. Kaum noch kann Meßmer als Versteck dienen. Erfahrungen wollen in eigener Sache und auf eigenes Risiko gemacht werden. Sogar eine kleine Philosophie stellt sich dafür ein, ein provokanter Impressionismus. Die "gesündeste Religion" heißt sie, weil sie ohne Transzendenz, ohne Geschichte, ohne Lehre, ohne Standpunkt auskommt: "Die Welt ist, was man gerade sieht."

Das sind immer auch Abwehrreaktionen von trotziger und zunehmend beängstigender Konsequenz. Betreiben sie noch "Selbst- und Welterkundung", wie der Klappentext vorschlägt, ist hier womöglich die Liebe zum Hiesigen zu Hause, wie Walser gelegentlich mit Nietzsche sagt? Oder läuft das nicht schon auf Weltverengung, ja Weltverlust zu? Meßmers Existenzraum wird schmal. Mehr noch: Ein Autor kündigt, samt zugehörigem "Richtlinieneifer", die Wertetafel, die gut ein halbes Jahrhundert über die deutsche Nachkriegsliteratur gewacht hatte.

Ein Beben durchläuft dieses Buch, auch wenn es nicht zum Ausbruch kommt. Verletzungen bilden den cantus firmus, sie sind gut bekannt. Niederlagen im Fernsehen kommen vor, natürlich "der" Kritiker und die "Opernfoyersprache der bürgerlichen Kritik für die Krankheitsberichte anderer", nicht weiter benannte "Feinde" auch, Kafka ähnelnde Albträume gar von Schlägern und ehrenwerten, ja prominenten Erschießungskommandos. Für Larmoyanz bleibt kein Raum, auch davor schützt die Form, glücklicherweise, denn welcher Leser hätte noch Lust, vom ewigen Kampf mit dem kritischen Widersacher zu hören? Entlastung bietet zudem ein willkommener Szenenwechsel - das ausgedehnte satirische Intermezzo, das den (allzugern) reisenden Meßmer als Gastprofessor nach Los Angeles versetzt. Sein Witz entspannt sich und genießt die Chancen, die ihm die "Lächel-Society" einer amerikanischen Universität zuspielt. Ein paar hübsche Party-Anekdoten, Bonmots am Kaffeeautomaten, ein paar Geplänkel mit der leidigen "Biopflicht", viel mehr kommt nicht heraus: "You may never be able to go so far for so little."

Nach der nicht eben geglückten Erholungspause freilich zeigt Meßmers Existenzkurve wieder und entschieden nach unten. "Ich möchte schneller stürzen", notiert er (gleich zweimal). Seine Leiden überspringen die öffentlichen Bezugspunkte und werden grundsätzlich. "Unsere Empfindungsfähigkeit ist spezialisiert auf Schmerz. Etwas anderes läßt sich gar nicht empfinden." Sicher weiß Walser, daß ähnlich schon Goethe die Falle für jeden Selbstbeobachtungsfuror beschrieben hat: Wer sich ins Subjekt versenkt, kommt darin um. In Meßmers Worten: "Ich möchte tauschen mit einem Toten, der leben möchte." Das flüstert derselbe Meßmer, der vor "Wohlgesonnenheit" und Verehrungsbereitschaft schier überströmen und zu den anrührendsten Weltzustimmungsbildern finden konnte: "Jeder Vogel bohrt mit seinem Gesang nach Gold in mir."

"Ich vertraue. Querfeldein" hatte Walser im Jahr 2000 eine Essay-Sammlung überschrieben. Das alte "Welt- und Lebensvertrauen", so steht zu befürchten, ist endgültig dahin. Der Schriftsteller Meßmer schreibt sich in die altehrwürdige Gegen-Sozietät der Melancholiker und Saturniker hinein; der Saturnismus-Experte Hans Lach war ihm darin vorangegangen. Opposition und Verzweiflung werden eins. "Jemand hat uns das Licht weggetrunken", heißt es. Manchmal versammeln sich lyrisch gleich alle schwarzen Begriffe: "Willkommen Schwärze und Schwere, / herein Lichtlosigkeit und Sturz, / tänzerisch führt sich die Leere auf, / Sauerstoff gewährt das Nichts." Am Ende regiert die Schwärze in jedem nur möglichen Sinn. Aus Kierkegaards "Entweder-Oder" notiert sich Meßmer: "Der Unglückliche ist allezeit abwesend von sich selbst, niemals sich selber gegenwärtig." Der Befund steht bei Kierkegaard in einem Wettstreit um das Maximum an Unglück, betitelt "Der Unglücklichste". Man darf nur hoffen, daß Meßmer, trotz einschlägiger Indizien, diese Konkurrenz nicht gewinnt. Solange er schreibt, solche Aphorismen schreibt, ist er nicht verloren.

Martin Walser: "Meßmers Reisen". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 191 S., geb., 17,90 [Euro].

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»Meßmers Reisen ... ist ein urkomisches Buch. ... Das ihm zugrundeliegende Selbstgefühl, die Situation, nicht mit sich identisch zu sein. Und wie Walser aus dieser mittlerweile für die Moderne klassischen Situation Funken schlägt, das zeigt ihn auf der Höhe seines Könnens.« Tilman Krause DIE WELT 20030726