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Kurt Ruh legt in diesem Buch die Summe seiner jahrzehntewährenden Beschäftigung mit Meister Eckhart vor. In eindringlicher Form und unter vielfach neuen Perspektiven stellt er das Leben Eckharts dar und interpretiert souverän seine lateinischen und deutschen Werke. So wird dem Leser eine Schlüsselgestalt des hohen Mittelalters nahegebracht, ein Mensch, dessen herausforderndes Denken uns auch heute noch etwas zu sagen hat.

Produktbeschreibung
Kurt Ruh legt in diesem Buch die Summe seiner jahrzehntewährenden Beschäftigung mit Meister Eckhart vor. In eindringlicher Form und unter vielfach neuen Perspektiven stellt er das Leben Eckharts dar und interpretiert souverän seine lateinischen und deutschen Werke. So wird dem Leser eine Schlüsselgestalt des hohen Mittelalters nahegebracht, ein Mensch, dessen herausforderndes Denken uns auch heute noch etwas zu sagen hat.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.1999

Wenn Gott nicht gerecht wäre
Philosoph des Christentums: Meister Eckharts Werke und Predigten · Von Kurt Flasch

Die soziale, politische und kulturelle Entwicklung der führenden Regionen Europas - dazu gehörten Mittel- und Norditalien, die Ile de France und die Rheinlande, aber auch Neapel und Südengland - erreichte zu Beginn des vierzehnten Jahrhunderts ein kritisches Stadium: Nach einem ökonomischen und demographischen Aufschwung von etwa zweihundert Jahren geriet das Wachstum an seine Grenze. Die Stadtbürger entwickelten ein Selbstbewußtsein, das mit den agrarisch-feudalen hierarchischen Formen der vorausgegangenen Zeit nicht mehr kompatibel war. In Mallorca, Florenz, Straßburg und in Köln erwarteten die Bürger, in ihrer eigenen Sprache die Kriterien erklärt zu bekommen, nach denen sie belehrt und regiert wurden. Raimundus Lullus, Dante und Meister Eckhart haben auf diese Situation geantwortet; sie wurden Mitbegründer einer neuen volkssprachlichen Literatur, also der katalanischen, toskanischen, mittelhochdeutschen.

Meister Eckhart hat gepredigt, dem gerechten Menschen sei es so ernst mit der Gerechtigkeit, daß er, wäre Gott nicht gerecht, sich nicht die Bohne um ihn kümmern würde. Weder die Qualen der Hölle noch die Freuden des Himmels könnten ihn bewegen. Dies ergab einen neuen Begriff von Christentum. Egon Friedell fand, neben Eckharts Reform des Christentums nehme sich die sogenannte Reformation als kleinliches Mönchsgezänk aus. So weit möchte ich nicht gehen, aber eine weltgeschichtlich signifikante Figur war Eckhart zweifelsohne.

Dabei ist keinem Autor des Mittelalters so übel mitgespielt worden wie Meister Eckhart. Hildegard von Bingen, Abaelard und Joachim von Fiore folgten erst in großem Abstand. Zuerst verurteilte ihn, den hochrangigen Ordensführer, der Papst als Ketzer. Das war 1329, kurz nach Eckharts Tod. Im neunzehnten Jahrhundert geschah das zweite Unglück. Zuerst wurden Eckharts deutsche Predigten wieder bekannt; seine umfangreicheren lateinischen Schriften schlummerten in Bibliotheken. Eckharts Sonntagsreden wurden veröffentlicht; seine Lebensarbeit als Denker blieb verborgen. Die verlegenen Gelehrten suchten eine Deutung der isoliert stehenden Predigttexte, und da sie keine historische Einordnung fanden, nannten sie, was sie nicht verstanden, "Mystik". Das war eine verständliche Reaktion, aber keine historische Forschung. Als die lateinischen Schriften sehr zögernd ans Licht kamen, stand für Eckhart die Kategorie "Mystiker" fest.

Dann kam das dritte Unheil, das Eckhart widerfuhr. Er wurde zum Urbild der deutschen Spekulation. Er wurde der erste deutsche Christ. Nicht erst die Nazis haben sich seiner bemächtigt; schon Paul Natorp erklärte den "Deutschen Weltberuf" anhand einiger Fetzen von Eckhart-Texten. Sowohl Rudolf Eucken als auch Max Scheler sahen in Eckharts Denken das Germanische am Werk: Eckhart wurde, längst vor Rosenberg, das Muster "deutschen", des "germanischen" Glaubens. Die Berufung auf Eckhart wurde zur feingeistigen Mode, bei Bloch und Heidegger, bei Steiner und Fromm.

Dann kam das vierte Unglück. Gegenüber groben Versuchen, Eckhart aus dem Mittelalter geschichtslos herauszureißen, standen gelehrte Männer auf, die zeigten, daß man Thomas von Aquino kennen muß, um Eckhart zu lesen. Damit hatten sie recht, aber daraus folgte nicht, daß ihre thomistische Vereinnahmung Eckharts richtig war. Es gab im Mittelalter noch ganz andere Bezugspunkte als Thomas, zum Beispiel Moses Maimonides, Averroes und vor allem Albert. Eckhart war kein Thomist.

Das fünfte Unglück war, daß Eckhart zum Apostel einer unbestimmten Spiritualität wurde. Man sah richtig, daß sein Christentum freier war als das der offiziellen Kirche. Darauf einigten sich dogmatisch unklare Katholiken, gebildetere Protestanten und Anthroposophen. Mit Hilfe Eckharts verklebten sie manch arge Verkrustung ihrer Organisationen. Aber auch das war ein Mißbrauch: Eckhart war ein Philosoph der strengen Schule, ein Eierkopf der Sorbonne. Er heißt "Meister", weil er in Paris Magister war. Ökumenische Orgien lassen sich unter seinem Namen nur feiern, wenn man ihn wie durch Milchglas sieht.

Er gehörte in die lebendigste Zeit der mittelalterlichen Expansion: Eckhart ist kurz vor 1260 geboren und vermutlich 1328 gestorben; die großen Krisen der Zeit kündigten sich erst an. Er dachte an eine neue Philosophie des Christentums und öffnete das intellektuelle Leben für Leute, die kein Latein lasen. Er konnte noch glauben, sich im Rahmen der Orthodoxie zu bewegen, und wollte sie nur neu deuten. Aber wie Augustin und Anselm vor ihm veränderte er, was er auslegte.

Eckhart arbeitete an einer Rangerhöhung des Menschen; er dachte den Johanneischen Begriff von einem Gott zu Ende, der die Menschen nicht mehr seine Knechte, sondern seine Freunde nennt und ihnen alles mitteilt, was er war und wußte. Der Gott Eckharts war nicht mehr "der Herr", er war nicht mehr der Felsen des Seins oder das jenseitige höchste Gut. Eckhart revolutionierte das Modell des sozialen Lebens, indem er Hierarchien aller Art zwar nicht abschaffte, aber radikal relativierte. Gott, so predigte er, habe die Frau weder aus dem Kopf noch aus den Füßen Adams erschaffen; er wollte, daß sie ihm gleich sei. Ebenso sei die gerechte Seele Gott gleich, nicht darunter, nicht darüber.

Die Seele, nicht sofern sie betet oder mystische Erfahrungen sucht, sondern sofern sie gerecht ist, wird Gott gleich. Das Schlüsselwort heißt hier: sofern. Eckhart gab dafür ein einfaches, ein philosophisches Argument: Bestimmungen wie "Wahrheit, Einheit, Gerechtigkeit" sind als erschaffene nicht denkbar. Gott hat sie nicht hergestellt, denn sie sind ihrem Wesen nach nichts, was herstellbar wäre. Sofern Menschen sich in der Wahrheit oder Gerechtigkeit bewegen, sind sie in Gott. Und in Gott sind sie Gott, nicht passiv, nicht ruhend, sondern als das Sich-selbst-Bewirken Gottes. Insofern sind sie nicht geschaffen, sondern erzeugt; sie leben in Wechselwirkung innerhalb der Wahrheit. Sie sind der Sohn Gottes.

Diese Philosophie macht bestimmte Voraussetzungen, die ansatzweise in der arabischen Philosophie, bei Augustin, Dionysius und Albert vorhanden waren. Dietrich von Freiberg hat sie vorbereitet; Eckhart hat sie originell entwickelt. In seinen lateinischen Schriften hat er seine Intention klar angezeigt und argumentativ entfaltet; in deutschen Predigten und Traktaten trug er sie öffentlich vor.

Als der Papst ihn nach langer, fachmännischer Beratung schließlich verurteilte, warf er ihm vor, erstens, er habe mehr wissen wollen, als sich gehört, zweitens, er habe seine Ideen auch einfachen Leuten in ihrer Sprache vorgetragen. Beide Vergehen waren gleich schlimm: Dem Gelehrten warf er vor, den Glauben in Wissen verwandeln zu wollen. Der Papst sprach nicht von rhetorischen Übertreibungen oder von spekulativer Zuspitzung, sondern von Häresie. Aber der zweite Vorwurf bezog sich auf Eckharts soziale Funktion und ihre politisch-kirchlichen Folgen: Eckhart hatte seine gewagten Thesen dem unruhigen Volk, selbst Frauen, gepredigt. Das war Satanswerk.

Ihn als "Mystiker" zu bezeichnen, war so lange plausibel, als seine lateinischen Schriften unbekannt waren. Wir kennen heute die intellektuelle Umgebung, in der er gearbeitet hat. Es ist allerdings bequemer, weiter von Spiritualität und Mystik zu reden, als die vielen tausend lateinischen Seiten Alberts und Dietrichs von Freiberg zu lesen. So wird es noch eine Weile dauern, bis die Unterscheidung von Mystik und Scholastik verschwindet. Bis dahin werden die deutschen Schriften Eckharts weiterhin in künstlicher Isolierung präsentiert, in der sie rätselhaft, "kühn", mystisch oder abenteuerlich erscheinen.

Als der sozialistische Anarchist Gustav Landauer 1903 wegen Majestätsbeleidigung im Gefängnis saß, übersetzte er Eckharts Predigten. Er meinte, Eckhart sei zu gut für eine historische Analyse; er wollte, daß Eckhart als Lebendiger auferstehe. Wenige Jahre darauf erschien die Übersetzung von Hermann Büttner; sie wurde kurz vor dem Weltkrieg ein Riesenerfolg. Seitdem gilt Eckhart als "Gigant unter allen Mystikern", als die "erste Großtat der deutschen Philosophie". Alfred Rosenberg hat eine verbilligte Volksausgabe von Eckharts deutschen Predigten gefordert; er hat sein Ziel erreicht. Die volkstümlichen Ansichten über Meister Eckhart tröpfeln heute noch aus dieser trüben Quelle, denn die mittelhochdeutschen Texte, die Büttner benutzte, waren schlecht ediert.

Dann brachte Josef Quint eine wesentlich verbesserte Ausgabe und eine korrektere neuhochdeutsche Übersetzung. Aber mittlerweile regen sich Einwände gegen Quints mittelhochdeutschen Text. Alle Kundigen waren verwundert, als der Deutsche Klassikerverlag eine neue Eckhart-Ausgabe vorlegte, die wegen ihrer handlichen Form nicht ohne Verdienst ist, aber doch wieder die kritisierte alte Quint-Übersetzung abdruckte. Quint hat zuerst offen mit der Nazi-Interpretation Rosenbergs sympathisiert und dann, nach dem Krieg, die rekatholisierenden Eckhartdeutungen rezipiert. Diese Unsicherheit wirkte sich auf seinen Text und auf seine Übersetzung aus.

Das Bedürfnis nach einer neuen Übersetzung besteht, und die Auswahlausgabe von Louise Gnädinger kommt diesem Bedürfnis entgegen. Sie enthält "vierzig der schönsten deutschen Predigten" in einem wunderschönen Manesse-Bändchen; sie bietet etwa ein Drittel der überlieferten deutschen Predigten. Es wäre seelische Roheit, gegenüber dem verlegerischen Schmuckstückchen mit strengen Maßstäben zu urteilen. Das Deutsch der Übersetzerin klingt moderat modern, manchmal umständlich und betulich; die intellektuelle Brillanz Eckharts klingt nur gebrochen durch. Louise Gnädingers Nachwort gibt den konventionellen Kenntnisstand einer ebenso achtbaren wie theoriefernen Germanistenschule wieder; die philosophiegeschichtliche Forschung ist nicht berücksichtigt. Sie ordnet Eckhart der Seins- und Wesensmystik zu, erklärt aber nicht, was das heißt. Eckhart war aber nicht nur der Verfasser "schöner" Predigten; er war Philosoph des Christentums und hat erklärt, daß er nichts als das sein wolle.

Die Beschränkung auf eine bestimmte Art von Germanistik läßt sich verschmerzen, denn einer der wirklichen Eckhartforscher dieses Jahrhunderts, Loris Sturlese, Mitarbeiter dieser Zeitung und Entdecker einer neuen lateinischen Eckhart-Handschrift, hat ein kurzes Porträt Eckharts geschrieben: "Meister Eckhart. Ein Porträt". Hier findet sich auf zwanzig Seiten der Stand der gegenwärtigen Forschung. Kehrt man von dort zu der neuen Eckhart-Übersetzung zurück, kann man sich sogar mancher geglückten Wendung erfreuen.

Die Übersetzerin kündigt an, sie wolle den Text Eckharts möglichst "original" belassen. Das ist ihr nicht durchweg gelungen, aus mindestens zwei Gründen nicht: Einmal verläßt sie sich zu sehr auf Quints mittelhochdeutschen Text. Zuweilen setzt sie dazu an, Quints Lesarten zu korrigieren, aber das geschieht sporadisch und ohne konsequente Handschriftenarbeit. Ihre Kritik an Quints Ausgabe beweist nur, daß deren mittelhochdeutscher Text neu bearbeitet werden muß, bevor man ihn übersetzt. Zweiter Grund: Die Übersetzerin bewegt sich, ohne es zu rechtfertigen, in Quints veralteten Kategorien. Diese schwankten zwischen Quints Suche nach dem Urdeutschen, Gotisch-Faustischen und Nordischen in Eckhart, einer irrationalistischen Lebensphilosophie und dogmatisch korrektem Thomismus.

Ich möchte einen Beleg dafür geben, wie falsch es ist, sich auf Quint zu verlassen, der 1941 aus Eckharts Schriften die Aufforderung zum "letzten Einsatz für den Gefolgschaftsherrn" herauslas. Die neue Übersetzerin feiert nicht mehr mit Quint Eckharts "unbändig faustisch-nordischen Drang in die Tiefe": Sie teilt nicht Quints Nationalismus. Sie verläßt sich nur zu sehr auf seinen mittelhochdeutschen Text, der von Quints intellektueller Unklarheit nicht so leicht abzulösen ist, wie man wohl meint: In Predigt 52 lehrt Eckhart, daß ich der Grund dafür bin, daß Gott Gott ist. Quint fand diesen Gedanken unverständlich und half sich, indem er die Vokabel "Gott" bei ihrem zweiten Vorkommen in Anführungszeichen setzte. Dieser Eingriff war ebenso unscheinbar wie dreist. Es heißt also bei Quint: Daß Gott "Gott" ist, dafür bin ich die Ursache. Das klingt unklar, suggeriert aber, daß ich nur die Vokabel "Gott" verursacht habe, nicht den lebendigen, wirkenden Gott.

Eckharts Text kennt aber keine Anführungszeichen. Will man ihn original belassen, dann muß man ihn sagen lassen, was er gesagt hat: Ich bin der Grund dafür, daß Gott Gott ist. Dann müßte man weiterfragen, was für ein Begriff von "Ich" Eckhart voraussetze. Dies ist exakt erforschbar und hat mit einer Rückdatierung Fichtes nicht das mindeste zu tun. Aber eine solche Nachfrage unterbleibt, und so hilft die Übersetzerin sich, Quint folgend, mit Anführungszeichen, die Eckharts Text sanft, fast unauffällig entstellen. Eckharts entscheidende Aussage verschwindet unbemerkt.

Damit könnten wir leben, wenn es nur darum ginge, die "schönsten" Texte des vierzehnten Jahrhunderts zu genießen oder als "geistiges Abenteuer", wie die Übersetzerin sagt, zu erleben. Aber dann bleiben wir vom geschichtlichen Verständnis eines der großen Denker der Achsenzeit weit entfernt. Die dramatische Tatsache, daß der Papst diese neue Fassung des Christentums verurteilt hat, diese für die Folgezeit entscheidende Erstarrung einer Institution von weltgeschichtlicher Größe, schrumpft zusammen zu einem Mißverständnis mit betäubenden ästhetisierenden Nebenwirkungen. Wenn Gott sich nicht mehr als Wahrheit inhaltsreich mitteilt, dann nahen Zeiten, die sich an Eckharts Rat halten und sich nicht mehr die Bohne um ihn kümmern.

Meister Eckhart: "Deutsche Predigten". Hrsg. und übertragen von Louise Gnädinger. Manesse Verlag, Zürich 1999. 472 S., geb., Abb., 36,- DM.

Meister Eckhart: "Werke". Zwei Bände. Hrsg. von Niklaus Largier. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1993. Zus. 2135 S., geb., 256,- DM.

Loris Sturlese: "Meister Eckhart". Ein Porträt. Friedrich Pustet Verlag, Regensburg 1993. 27 S., br., 12,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.04.2010

Die scharfe Muskatnuss
Kurt Flasch sucht den wahren Meister Eckhart
Verstehen ist eine Kunst, Missverstehen geht von allein. Und wie es geht, davon legt die Rezeptionsgeschichte manches Philosophen oder Theologen beredtes Zeugnis ab. Der Tiefpunkt in der Rezeption des Dominikaners Meister Eckhart war sicher mit Alfred Rosenberg erreicht, der ihm im „Mythus des 20. Jahrhunderts” einen Stahlhelm aufsetzte und zum germanischen Vorkämpfer der „Bewegung” machte. Viele Wege führen heute zu einem getreueren geschichtlichen Eckhart-Bild. Man nimmt ihn nicht mehr heraus aus seiner Zeit und stilisiert ihn nicht mehr zum einsamen Künder einer mystischen Botschaft. Philosophische und historische Nüchternheit prägen das Bild. Philologische Kunst und Beflissenheit sind am Werk. So, wenn es Eckhart-Forschern wie Kurt Ruh oder Loris Sturlese ausdrücklich um ein geschichtliches Eckhart-Bild geht, und eben so, wenn Kurt Flasch in seinem 2007 erschienenen Buch über Meister Eckhart die Geburt der „Deutschen Mystik” aus dem Geist der arabischen Philosophie untersucht. Wobei „Deutsche Mystik” in Bezug auf Eckhart von Flasch nur in Anführungsstrichen geduldet wird. In seinem neuesten Buch stellt der lange Zeit in Bochum lehrende Philosophiehistoriker seine Gesamtansicht Meister Eckharts vor.
Der Dominikaner wird in der heutigen Forschung wieder an den Stätten seines Wirkens aufgesucht, in Erfurt, in Köln, in Paris, Straßburg oder anlässlich seines Prozesses in Avignon. In einem von Klaus Jacobi herausgegebenen Forschungsband werden diese Lebensstationen als Redesituationen vergegenwärtigt, und auf einer Erfurter Tagung 2003 wurde über Eckhart in Erfurt nachgedacht. All dies verortet den Meister. Und es zeigt: Wir haben es mit einem Pariser Magister der Theologie an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert zu tun oder mit einem Vikar des Predigerordens, mit einem Provinzial der Ordensprovinz Saxonia oder mit einem Angeklagten in einem mittelalterlichen Häresieprozess. Wir können seine Quellen ausfindig machen und seinen Ort in zeitgenössischen Debatten bestimmen. Verstehen ist eine Kunst, die Arbeit macht. Kurt Flasch hat gezeigt: Wer Eckhart verstehen will, muss auch Dietrich von Freiberg
studieren.
Aber Eckhart spricht selbst auch noch von anderem, und er predigt über die schwierigsten Dinge zu – welch ein Skandal! – den ungebildeten Laien. Etwa von der Gottesgeburt in der menschlichen Seele, von dem vernunftgemäßen Leben nach jenem Teil, jenem Funken der Seele, der nichts will als Gott, und der weder Zeit kennt noch Raum und Ort, damit auch kein Fremdsein und Fernesein. Es ist ein Denken der Ortlosigkeit. „Kommt ihr nicht über die Welt und die Zeit hinaus, so sehet ihr Gott nicht.” Es ist eine Vernunft, die so wenig Geschichte hat wie das Selbstbewusstsein Descartes’ oder das transzendentale Subjekt Kants, auf welche sie laut Flasch vorausweist. Kurt Flasch hat mit unerschrockener Verve der hergebrachten Deutung Meister Eckharts als Mystiker widersprochen. Eckhart selbst habe mehrfach gesagt, wie er verstanden werden wollte, nämlich, wie Kurt Flasch es sieht, als Philosoph des Christentums. Aber mit dem Selbstverständnis eines Autors hat es seine besondere Bewandtnis.
Einen Autor zu verstehen, wie er sich selbst verstand, ist eine hermeneutische Maxime, die zwei Seiten hat. Ein Autor sagt etwas, und er verbindet damit einen Anspruch. Oft macht ein mittelalterlicher Autor es seinem zeitgenössischen Leser und Hörer wie auch uns Heutigen zunächst einmal leicht. Denn er nennt eingangs ausdrücklich seine Intention. Kurt Flasch geht mit gutem historischen Recht von solchen Selbstzeugnissen Meister Eckharts aus. „Wie in allen seinen Werken hat der Verfasser bei der Auslegung dieses Wortes und der folgenden die Absicht, die Lehren des heiligen christlichen Glaubens und der Schrift beider Testamente mit Hilfe der natürlichen Gründe der Philosophen auszulegen.” Er, Eckhart, wolle die Inhalte des christlichen Glaubens also mit den Mitteln der natürlichen Vernunft erweisen. So lautet das eckhardische Programm in den entscheidenden Worten der Vorrede zu seiner Auslegung des Johannesevangeliums, und Kurt Flasch will ihn beim Wort nehmen.
Und wie genau kann Kurt Flasch sein, wenn es um Worte geht! Wer Meister Eckhart studiert, gewinnt den Eindruck, es mit einem kühnen Geist zu tun zu haben. Und so sagt man es dann auch, historisch unvorsichtig, wie man eben ist. Anders Kurt Flasch. Vielleicht war es ihm nur zu unpräzis, von Kühnheit, gar von „Überkühnheit” zu reden. Er rechnet die übersteigernden Adjektive ohnedies zum rhetorischen Schutt einer überholten Eckhartrezeption. Gern aber möchte man annehmen, er weise das Attribut auch deshalb zurück, weil es den so Beschriebenen von vornherein ins Unrecht setzt. Denn es diente Josef Quint als Übersetzung des Ausdrucks „temerarius” aus der päpstlichen Verurteilungsbulle Johannes XXII. (1329). Und wie dieser Papst, dem Eckhart als ein Mann galt, der zuviel wissen wollte, so spricht der sensible Philosophiehistoriker über seinen Meister Eckhart nicht.
Einen Autor zu verstehen, wie er sich selbst verstand, hat aber noch eine zweite Seite. Es verlangt nicht nur zu wissen, was jemand sagt, sondern auch zu erfassen, was er tut und bezweckt, indem er es sagt. Es geht um einen Wahrheitsanspruch, und es geht um eine bestimmte Wirkung auf den Hörer oder Leser, insbesondere da, wo Schriften nicht nur behaupten, was der Fall ist und warum, sondern auch eine Lebensweise als vorbildlich erweisen und dazu auffordern, dem Gesagten praktisch zu folgen. In Meister Eckhart verweisen Theologie, Metaphysik und Ethik – Gott, das Sein, die menschliche Seele und die Lebensführung – aufeinander. „Solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, so lange wird er diese Rede nicht verstehen”. Warum sollte dies nicht Mystik genannt werden dürfen oder zumindest als eine Hinführung zu ihr verstanden
werden?
In den vergangenen Jahren hat der „embedded journalist” Karriere gemacht, der in das Kriegsgeschehen eingebettete Reporter. Kurt Flaschs geharnischte Lektionen von den Kampfplätzen der Philosophie lesen sich einerseits wie die Berichte eines „embedded philosopher”. Seine historische Sensibilität und seine Kunst der Darstellung sind ebenso bemerkenswert wie seine Fähigkeit, anspruchsvolle und komplexe denkstrategische Manöver in den historischen Auseinandersetzungen nachvollziehbar zu machen. Wie sehr man glaubt, dabeizusein, wenn der Philosophiehistoriker beschreibt, wie philosophisches Neuland betreten und beansprucht wird, zeigte Jürgen Kaube jüngst, der Kurt Flasch zu dessen 80. Geburtstag in der FAZ als bedeutendsten lebenden „Landnehmer” der Ideengeschichte vor 1600 feierte. Der Erfolg seiner Bücher spricht für sich und ist nicht nur mit ihren unverkennbaren stilistischen Qualitäten zu erklären. Andererseits gleichen sie doch eher dem scharfen Blick durch ein Fernrohr in eine andere geistige Welt hinüber, aus der die Kraft der Argumente, mit denen die Kontroverse geführt wird, wie auch der Anspruch der Lebensformen nicht mehr zu uns herüberreicht. „Eckhart ist tot und folglich Gegenstand historischen Wissens.” Die Lektüre wird zur Schule der Differenzerfahrung.
Ein außergewöhnlicher Denker war Meister Eckhart schon zu seiner Zeit. Kurt Flasch attestiert ihm ein Außenseiterbewusstsein. So etwas ist ein Ehrentitel. „Er stand gegen eine kulturelle Welt.” Und doch ist etwas anders in dieser Bilanz, die keine zurückblickende sein will. Kurt Flasch will noch einmal von vorn anfangen und spricht (neben den unvermeidlichen scharfen Muskatnüssen, mit denen Eckhart seine Predigten verglichen hat) auch im honigfließenden Ton methodischer Skrupulösität und Versöhnlichkeit. Der Titel „Philosoph des Christentums” diene als Hypothese, die an Eckharts Texten überprüft werden soll. Von dessen Philosophie des Christentums heißt es, sie versöhne Wissen und Offenbarung und gebe der Menschheit den Frieden. Zuletzt geht es auch um das richtige Leben.
Natürlich ist das letzte Wort dann doch kein anderes als die Bestätigung der Hypothese: Meister Eckhart ist als Philosoph des Christentums zu lesen. Aber so, wie Flasch es diesmal angeht, hat es den Anschein, dass er seinem Eckhart auch anders noch einmal näher gekommen ist. Insofern nämlich, als Meister Eckhart zu verstehen auch heißt, den Weg des Lassens, der Gelassenheit und des Sich-Lassens zu gehen. „Die deutschen Predigten lehren und fordern auf; sie popularisieren keine abstrakte Metaphysik; sie zeigen Lebenswege und sagen, warum sie verfehlt werden.” Sie stellen den kategorischen Imperativ jeder negativen Ethik auf: „Lass dich!” Wer ihn versteht, der gibt den Eigenwillen auf. Aber sicher, nein, sicher sein kann man sich natürlich nicht, wer so weit schon gelangt ist. Und noch einmal eine andere Frage ist es, ob man es Kurt Flasch und uns, seinen Lesern mit diesem unerhörten Appetit auf scharfe Muskatnüsse, wirklich wünschen möchte. DIRK LÜDDECKE
KURT FLASCH: Meister Eckhart. Philosoph des Christentums. Verlag C. H. Beck, München 2010. 365 Seiten, 24,95 Euro.
Wer diesen Mann studiert, gewinnt den Eindruck, es mit einem kühnen Geist zu tun zu haben
Kommt ihr nicht über die Welt und die Zeit hinaus, so sehet ihr Gott nicht
Meister Eckhart: Miniatur aus dem 15. Jahrhundert. Foto: Ullstein
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