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Produktdetails
  • suhrkamp taschenbuch wissenschaft
  • Verlag: Suhrkamp
  • Seitenzahl: 722
  • Abmessung: 178mm x 110mm x 24mm
  • Gewicht: 422g
  • ISBN-13: 9783518289709
  • ISBN-10: 3518289705
  • Artikelnr.: 24697261
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.07.1999

Die ganze Schöpfung ist ein Quiz
Das Theorieprogramm der Fernsehanalyse wird wirklich immer schlechter

"Das Zeitungslesen des Morgens ist eine Art von realistischem Morgensegen. Man orientiert seine Haltung gegen die Welt an Gott, oder an dem, was die Welt ist. Jenes gibt dieselbe Sicherheit wie hier, daß man wisse, wie man daran sei."Günther Thomas zitiert diesen Hegel-Aphorismus, um eine theologische Theorie des Fernsehens zu entwickeln. TV-Konsum deutet er als eine gleichsam religiöse Praxis und das Medium selbst als eine Transformationsgestalt von Ritual und Religion. Der ununterbrochene Fluß der vielen Programme repräsentiere eine komplexe liturgische Ordnung, die fragmentarisierten, funktional differenzierten Gesellschaften eine symbolisch integrierende Kosmologie zur Verfügung stelle. Klassiker der Integrationsthese wie Durkheim und seine Schüler sahen die zentrale Funktion der Religion darin, eine kontrafaktische Einheit der zersplitterten Gesellschaft symbolisch zu repräsentieren. Auf ihren Spuren deutet Thomas das Fernsehen als eine implizite Religion, die die Menschen in zwar fiktionalen, aber doch geteilten Erlebniswelten vergemeinschaftet. Die TV-Kosmologie kommuniziere das Versprechen, daß die Welt letztlich gut geordnet sei. Selbst die rechtlichen, politischen und explizit religiösen Institutionen der Moderne sollen ihre Legitimität nun von Gnaden der neuen Glotzenreligion empfangen.

In den Prozessen systemischer Differenzierung ist die symbolische Darstellung von Ganzheit in ein eigenes Subsystem ausdifferenziert worden. Im Subsystem Medien repräsentiert dessen Leitmedium Fernsehen also die "systemische Ausdifferenzierung einer kulturellen Entdifferenzierung". Thomas deutet die immer gleichen, den Alltag der Individuen strukturierenden Vollzüge des TV-Konsums, die Tagesschau um acht oder das Pinkeln in der Halbzeitpause, als "sekundäre Ritualisierung". Denn im Unterschied zu den alten kirchlichen Riten sind die Teilnehmer im TV-Ritual "nicht physisch kopräsent". Gleichwohl soll ihnen das Fernsehen elementarste Gewißheit bieten können. Wer sich vor die Flimmerkiste setze, gewinne ontologisches Grundvertrauen. Die Vertrautheit der Genres und Übersichtlichkeit der Handlungsmuster stabilisiere eine Erwartungssicherheit, die risikobelastete endliche Wesen im Glauben stärke, ihr Leben meistern zu können.

Selbst der medial inszenierten "Obsession der Gewalt" kann der Medientheologe professionsspezifischen Sinn geben. Die "audiovisuelle ,Teilhabe' an Prozessen der Zerstörung von Leben, die den ,Betrachter' unversehrt daraus hervorgehen läßt", sei "eine Transformationsstufe des religiösen Vorgangs des ,Sühneopfers'". Medientheologie wird so zur Wissenschaft vom allvernetzenden Universalassoziierer. Genausogut könnte man die Chips und Bierflaschen beim Länderspiel zur tertiären Transformation des Abendmahles erklären.

Thomas legt keine Primäranalysen der Medienkultur vor, sondern zappt sich durch alle gängigen medienwissenschaftlichen, ethnologischen, kommunikationspsychologischen, literaturwissenschaftlichen und psychoanalytischen Theorieprogramme. Kein Zitat eines Medienwissenschaftlers über heilige Handlungen vor dem flimmernden Hausaltar fehlt. Beim Durchgang durch die Gegenwartstheologie hat Thomas sich für einen postmodernen gelesenen Barth entschieden. So steht Paul Virilios These, daß den Telekommunikationsmitteln göttliche Züge eignen und wir uns im Fernsehen in gottgleiche Wesen verwandeln, neben Barths Lehre vom Worte Gottes, die der Unterscheidung von Gott und Mensch diente und aller Selbstverabsolutierung der Kultur die Grundlage entzog. Wenn im Fernsehen simultan Politik, Sport, Crime, Sex und Dauertalk angeboten werden, darf auch in der Wissenschaft alles mit allem verknüpft werden. Systemtheoretisch Gebildete nennen dies aber nicht Ineinandermanschen oder wildes Kobinieren, sondern sprechen von der Vernetzung multipler Perspektiven oder, schicker noch, vom Kopräsenthalten heterogener Theoriedesigns. Wer noch fragt, wie Widersprüchliches zusammenpaßt, ist nur ein Alteuropäer.

Sofern jeder Theoriejargon für jeden anderen "anschlußfähig gemacht" ist, wird die spätmoderne Wissenschaftswelt immer unübersichtlicher. So braucht auch der Wissenschaftler symbolische Einheitsstiftung. Thomas leistet dies durch zwei Rituale. Alle zehn Seiten blendet er sein Theorielogo von der Kosmisierungsfunktion des Fernsehens ein. Der Grundbotschaft entsprechend, daß wir in einer postliteralen Medienwelt leben, sind viele Sätze schlicht unverständlich. Mit ritueller Konstanz werden die immer gleichen Grammatikfehler wiederholt. So kann der Leser wissen, wie man mit der Medientheologie dran ist. Fernsehkonsum ist unterhaltsamer als die Lektüre medientheologischer Dissertationen.

FRIEDRICH WILHELM GRAF

Günter Thomas: "Medien - Ritual - Religion". Zur religiösen Funktion des Fernsehens. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 722 S., br., 36,80 DM.

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