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Produktdetails
  • Verlag: Harvard University Press
  • 2000.
  • Seitenzahl: 560
  • Englisch
  • Abmessung: 230mm
  • Gewicht: 734g
  • ISBN-13: 9780674003873
  • ISBN-10: 067400387X
  • Artikelnr.: 12386600
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.07.1999

Aus tiefer Not fand ich zu mir
Ritter, Tod und Teufel auch: Ein Atheist fühlt sich in Martin Luther ein

Ein neues Bild aus dem Museum der Geschichte kann betrachtet werden: Martin Luther, in der Robe eines Ritters auf einem himmelblauen Plüschsofa sitzend, mit Gwyneth Paltrow aus "Shakespeare in Love" an seiner Seite. Ihnen gegenüber: der Maler, Regisseur, Therapeut, Weltanschauungsherold und bekennende Atheist Richard Marius, emeritierter Professor für Englische Literatur in Harvard. Biographien evozieren Bilder, dieses entsteht durch ein neues Buch: "Martin Luther. The Christian Between God and Death". Der Autor ist durch die Herausgabe der Morus-Gesamtausgabe, durch eine Morus-Biographie sowie durch verschiedene Romane einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. Schon 1974 hatte er sich an Martin Luther herangewagt. Das vorliegende Buch ist sein zweiter Versuch.

Der Inhalt ist schnell erzählt. Hat man den kulturhistorischen Flickenteppich überschritten, auf dem vielerlei lose miteinander verwoben wird, die politische Struktur in Europa, die Pest und als revolutionär apostrophierte Veränderungen, trifft man im zweiten Kapitel auf Martin Luther selbst. Beginnend in Luthers Elternhaus folgt man den äußeren und inneren Wegmarken Luthers bis in das Jahr 1526. Man vollzieht Luthers Bekehrungserlebnis bei Stotternheim nach, seine Flucht in das Kloster, seinen Konflikt mit Eck, den Prozeß, den Reichstag zu Worms und so weiter, bis das lebendig geschriebene Buch mit der Fehde gegen Erasmus endet. Das Ende einer Luther-Biographie in die Mitte der zwanziger oder in die frühen dreißiger Jahre zu setzen hat Tradition. Der alternde Luther und der schwierige Fortgang der Reformation können nach Meinung mancher Biographen von der entscheidenden theologischen Wende nach 1517 abgekoppelt werden.

Der äußere Werdegang Luthers bis 1526 ist lückenlos erzählt, die Spannung zwischen den einzelnen Konfliktparteien auf den insgesamt 487 Seiten literarisch eingefangen. Nicht ganz transparent bei dieser Biographie ist die Wahl der Perspektive auf Luthers Werke. Man ist fast geneigt, sich als Leser in die Zeiten konfessioneller Forschungspolemiken zurückversetzen zu lassen, weil hier die Urteile aus dem Feindeslager wenigstens noch sichtbare Konturen und klare Motive mit sich trugen. Warum? Marius fällt hinter die neuere nüchtern beurteilende Literatur eines Brecht, Bornkamm, Lohse, Obermann und vieler anderer zurück, weil er Luthers Theologie zur Demonstration seiner eigenen Weltanschauung verwendet. Er trägt psychologische und religionskritische Thesen vor. Dies wäre durchaus legitim, wenn er sich dabei an alle Standards der "scientific community" halten würde.

Sein Leitfaden zur Interpretation von Luthers Theologie ist die These, daß Luthers bahnbrechende Entdeckung des gnädigen Gottes allein durch seine Todesangst provoziert worden sei. Es sei eine Angst, die nicht theologisch, sondern psychologisch definiert werden sollte. Luther fürchtete weniger einen hinter dem Tod lauernden strafenden Gott oder einen rächenden Christus, nein, Luthers Angst konzentriere sich vor allem auf das hinter dem Tod liegende Nihil. Luther habe Angst gehabt vor dem Tod und nicht vor der Hölle. Und messerscharf folgert Marius: Wenn Luther keine Angst hatte vor der Hölle, dann hatte er keine Angst vor dem strafenden Gott, sondern nur vor dem physischen Tod. Auf diese Weise liest der Autor seine eigene "atheistische" Eschatologie in Luther hinein. Diese Schlußfolgerung markiert er als seine persönliche Auffassung.

Der Wille, den Leser damit zu überzeugen, ist nicht zu erkennen. Man kann sich höchstens Rat bei einem von ihm erwähnten Psychologen holen. Verschwiegen wird, daß bereits in den dreißiger Jahren auf dem deutschen Buchmarkt zum Beispiel von Carl Stange in ähnlicher Weise argumentiert wurde.

In der Einleitung verknüpft Marius sein Bekenntnis zum Atheismus noch mit dem Versprechen, eine objektive Beurteilung von Luthers Theologie liefern zu können. Es wird jedoch im Laufe des Buches augenfällig, daß ihm an einer solchen nicht gelegen ist. Marius hat Luthers Gnadenlehre, die eine Lösung auf die alle Menschen gleichermaßen betreffende Frage nach dem Tod darstelle, einer persönlichen Revision unterzogen, mit dem Resultat, Luthers Meinung nicht teilen zu können. Nach seiner Einschätzung macht es sich Luther stellvertretend für alle irgendwie Gläubigen in der Rechtfertigungslehre sehr "bequem".

Weniger um historische Schlüssigkeit als um literarische Stimmigkeit ist es Marius zu tun. Subtilität ist ihm nicht abzusprechen. Er inszeniert mit Luther als Hauptdarsteller eine wahre "Elizabethan tragedy" mit allem Pomp und Zubehör. Die Handlung verläuft folgendermaßen: Luther, der Held, geschlagen mit einem aufbrausenden Temperament, ewig im Streit mit Gott und der Welt, findet zwar nicht bleibende, aber doch immer wiederkehrende Seelenruhe in der Rechtfertigungslehre. Hier stellt sich bei der Lektüre das Bild des himmelblauen Plüschsofas ein. Spätestens seit dem Jahr 1526 wird Luther sich seines eigenen Scheiterns bewußt und stirbt zwanzig Jahre später in großer Enttäuschung. Und Gwyneth Paltrow weint.

Leser der Morus-Biographie von Marius werden sich der genau gleichen Struktur der Inszenierung erinnern. Störend allenfalls, daß Luther nicht ganz in das Elisabethanische England paßt. Marius merkt dies wohl selbst, denn das Temperament Luthers, das ihm zuwider ist, fügt sich nicht recht in das Bild englischer Edelmänner und Humanisten. Besonders dann nicht, wenn er entgegen aller neueren Forschung Luthers Haltung gegenüber den Juden nicht an die zeitbedingte antijudaistische Theologie bindet, sondern sie als Luthers persönlichen radikalen Judenhaß interpretiert und ihn somit doch wieder in die antisemitische Haßgeschichte einzeichnet, obwohl er dies nicht will. Ein radikaler Verzicht auf dramatische Effekte wäre hier sinnvoll gewesen.

Anstößig auf den Leser wirkt ferner die mentale Staffage, die Luther umgeben haben soll: Luther haßte die Epikureer, verabscheute die Skeptizisten und zeigte sich dennoch ab und an stoisch. Bei diesen schwierig erfaßbaren, aber doch einzugrenzenden intellektuellen Strömungen läßt es Marius an historischer Genauigkeit fehlen. Ihre Namen sind nur Phrasen. Ihm fehlt der Wille, die subtilen Schwierigkeiten historischer Gegebenheiten mit feinen Eroberungstechniken zu meistern; es genügt ihm, in der Rüstung der eigenen Weltanschauung den Schlachtzug gegen die Geschichte zu führen. Mit seiner Luther-Biographie und mit seiner Morus-Biographie kämpfte er gegen einen Protestanten und gegen einen Katholiken. Es gibt zahlreiche verläßliche Bücher über Luther, die nicht schlecht erzählt sind. Wer wird sich ein Bild aufhängen, bei dem die Phantasie eines Schwärmers den Pinsel geführt hat?

CLAUDIA BROSSEDER

Richard Marius: "Martin Luther". The Christian Between God and Death. Harvard University Press, London 1999. 542 S., geb., 19,95 Brit. Pfund.

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