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Stories über Sex, Krieg, Krankheit, Wissenschaft und Musik, stilistisch brillant, bewegend und originell: Mit diesen Kurzgeschichten beweist Yann Martel, Gewinner des Booker Prize und Autor von 'Life of Pi', erneut sein überragendes literarisches Talent.

Produktbeschreibung
Stories über Sex, Krieg, Krankheit, Wissenschaft und Musik, stilistisch brillant, bewegend und originell: Mit diesen Kurzgeschichten beweist Yann Martel, Gewinner des Booker Prize und Autor von 'Life of Pi', erneut sein überragendes literarisches Talent.
Autorenporträt
Yann Martel wurde 1963 in Spanien geboren. Seine Eltern sind Diplomaten. Er wuchs in Costa Rica, Frankreich, Mexiko, Alaska und Kanada auf und lebte später im Iran, in der Türkei und in Indien. Er war nominiert für den Governor General Award und den Commonwealth Writers Prize und gewann den Booker Prize 2002. Yann Martel lebt mit seiner Familie in Saskatchewan.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.07.2005

Die Pranke des Tigers
Schicksalsmusik: Frühe Erzählungen von Yann Martel

Als Günter Grass sein zwanzigstes Jahrhundert in hundert Episoden durcharbeitete, bezog er jeden Jahresring auf sich und die deutsche Katastrophengeschichte. Yann Martels Horizont ist größer, sein Ehrgeiz kleiner. Wenn der in Spanien geborene Frankokanadier in "Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios" seine Jahrhundertgeschichten erfindet, geht es ihm nicht um einen synoptischen Rückblick im Zorn, sondern um einen Akt der Liebe, nicht um die Rettung der Welt, sondern um die des sterbenden Freundes. Die Machart ist ähnlich: Der Tod von Queen Victoria steht für das Jahr 1901, die Relativitätstheorie für 1905, die Erfindung des Reißverschlusses für 1913. Aber Martels Intention und Perspektive ist eine ganz andere: Seine historischen Episoden sollen eine Familiensaga rahmen. Daß wir von den finnischen Roccamatios wenig erfahren, daß die Geschichten "Typisches" über das Jahrhundert verraten und 1963 jäh abbrechen, hängt mit der Erzählkonstellation zusammen.

Das Geschichtenerfinden ist ein Spiel zwischen dem Autor und seinem todkranken Freund Paul, und je näher die Hintergründe des Roccamatio-Romans an die Gegenwart heranrücken, desto mehr drängt sich Pauls Leiden und Sterben in den Vordergrund. Er wählt seine Geschichten nach seinem Gesundheitszustand aus: Jeder Rückschlag, jeder Hoffnungsschimmer spiegelt sich unmittelbar in seiner privaten Weltgeschichte ab. Sein Koautor muß erst noch lernen, daß so unwägbare Dinge wie Mitleid, Zärtlichkeit, Erbarmen, Trotz und Trost wichtiger sind als historische "Wahrheiten". Schreiben ist eine Funktion des Lebens. Das zwanzigste Jahrhundert war voller Greuel und Gewalt, und das Decamerone der beiden Freunde kann sie weder verdrängen noch Pauls qualvollen Tod aufhalten. Aber im gemeinsamen Erzählen von Geschichten haben sie der Geschichte die Stirn geboten, mit ihrer ungerichteten Phantasie die ganze Welt umarmt und so doch noch so etwas wie "Sinn aus all diesem Unsinn" destilliert.

Für Yann Martel ist Erzählen praktizierter Humanismus, aufgeklärter Idealismus, denkbar weit entfernt von Pessimismus und Zynismus. Noch in der ausweglosesten Situation findet er einen Funken Hoffnung, der das Weiterleben lohnt. Sein "Schiffbruch mit Tiger" war eine Hymne auf skeptische Demut, Toleranz und kreatürliche Solidarität: Wenn ein mißtrauisch lauerndes Raubtier und ein schiffbrüchiger Waisenknabe auf einem Floß friedlich koexistieren können, ist das Paradies noch nicht verloren. Der Welterfolg des Romans ermutigte Martell jetzt, seinen 1994 noch sang- und klanglos untergegangenen Erzählband in einer überarbeiteten Fassung noch einmal aufzulegen.

Die vier Erzählungen sind sichtlich Jugendwerke. Martel hat zwar, wie er im Vorwort bekennt, Ungeschicklichkeiten ausgebügelt und den "Drang zum Überschwang" gezügelt, aber die Pranke des Tigers zeigt sich in diesen eigentümlichen Kreuzungen aus jugendfrischem Sturm und Drang, Orientierungssuche und konzeptualistischen Abstraktionen selten. Eben als Philosophiestudent zweimal durchgefallen und wieder bei den Eltern untergeschlüpft, war Martel damals "unschlüssig, was ich mit meinem Leben anfangen sollte": Er arbeitete als Tellerwäscher und Nachtwächter; seine ersten literarischen Versuche - Kurzgeschichten, absurde Theaterstücke, ein Roman - genügten nicht einmal seinen eigenen Ansprüchen. Aber das Erfinden fremder Welten war für ihn eine "private Universität", und im Gegensatz zu vielen seiner deutschen Kollegen schaute er schon immer lieber nach außen als nach innen. Eine Geschichte bedarf einer "guten Idee, die zugleich rührt": Sie muß bewegen, den Verstand ansprechen und unterhalten, und das ist Martell jedenfalls schon ganz gut gelungen.

"Tut mir leid, besser konnte ich es nicht", sagte Paul kurz vor seinem Tod. "Jetzt bist du dran." Martel hat den Stab aufgenommen und weitergetragen: Alle Geschichten handeln von Niederlagen, Verzweiflung und Tod; keine entläßt den Leser ungetröstet. In "Der Tag, an dem ich das ,Soldat-Donald-J.-Rankin-Streichkonzert mit einer dissonanten Violine' des amerikanischen Komponisten John Morton hörte", entdeckt er in den Ruinen eines aufgelassenen Theaters seinen Kulturtempel und in dem herzergreifend mißtönenden Konzert eines als Putzmann vegetierenden Vietnamveteranen seine Schicksalsmusik: "Jeder falsche Ton ließ die unerreichbare Vollkommenheit anklingen, jede Schwäche war eine Befreiung. Wie Punkrock, wie Jackson Pollock, wie Jack Kerouac war es durch und durch menschlich, eine Mischung aus perfekter Schönheit und befreiender Unvollkommenheit." In "1096 Arten zu sterben" schreibt ein Gefängnisdirektor neun Kondolenzbriefe an die Mutter eines Hingerichteten: Mal bestellte der Todeskandidat Kaviar, mal Pellkartoffeln als Henkersmahlzeit; mal ging er ernst und blaß, mal schreiend oder auch hysterisch lachend zum Galgen. Immer war er im Sterben allein; aber noch in nüchternen, formelhaften Sätzen des Direktors (und dem seriellen Erzählverfahren Martels) schimmert das Erstaunen darüber durch, wie ein Verworfener im Angesicht des Todes Individualität, Menschenwürde, Anspruch auf Respekt und Erbarmen zurückgewinnt.

In "Spiegel für die Ewigkeit" treibt Martel seine Lust an typographischen und literarischen Experimenten am weitesten: Während die Großmutter in einer Textspalte ihre Jugenderinnerungen ausbreitet, kommentiert in der anderen ihr Enkel die Suada mit gelangweilten, mürrischen Einwürfen. Zu spät bemerkt er, daß ihr endloses "Bla-bla", ihre Sammelwut und ihre kuriose "Spiegelmaschine" dem verzweifelten Versuch entsprangen, die Zeit an- und die Erinnerung festzuhalten. Die Geschichte ist die schwächste; sie hantiert mit aufdringlichen Symbolen und überflüssigen Erläuterungen. Aber sie enthält auch Martels ganze Poetik: Wo für Stendhal der Roman ein Spiegel auf der Landstraße war, ist das Erzählen für ihn ein magischer Apparat aus dem Trödelladen, der menschliche Erinnerungen auf oxydierten, an den Rändern schon blinden Spiegeln fixiert und so vor der Korrosion durch Vergessen schützt: "Neue Spiegel sind uninteressant. Sie sind Industrieprodukte, glatt und makellos klar. In ihnen gibt es nichts zu lesen."

MARTIN HALTER

Yann Martel: "Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios". Aus dem Englischen übersetzt von Manfred Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005. 191 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.07.2005

Scheherazade-Trick
Yann Martel packt Fleisch aufs Erzählskelett
2003 konnte man von Yann Martel den Roman „Schiffbruch mit Tiger” lesen. Schiffbruch mit was? Tiger? Nicht im Ernst, oder? Die gewagte Konstellation des Romans klingt wie eine übermütige Wette des Autors. Nun verdankt die Literaturgeschichte ihre schönsten Bücher übermütigen Autorenwetten. Wetten, ich interessiere meinen Leser für einen hypersensiblen Pädophilen? „Lolita”. Wetten, ich stopfe einen gut Teil der abendländischen Kultur in einen einzigen Dubliner Werktag? „Ulysses”. Wetten, ich bekomme zwischen Zeugung und Geburt meines Helden mehr als zweihundert Abschweifungen? „Tristram Shandy”.
Es empfiehlt sich, nur sehr gut vorbereitet in solche unmöglichen Wetten zu gehen. In dem kleinen Erzählungsband „Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios” finden sich vier Beispiele für Martels Vorbereitungen für seine erste große Prosawette. In einem Vorwort berichtet der Autor von seinen literarischen Anfängen. Beherzt erzählt er, wie schlecht seine ersten Texte waren. Und wie sehr ihn alles andere als Schreiben langweilt. Die Schlusslektion dieser kurzen Werkstattauskunft ist, dass es letztlich nur eine einzige Maxime für einen Autor geben kann: Weitermachen. Egal, wie schlecht die ersten Texte sind, egal, wie unerträglich es ist, sie wiederlesen zu müssen - einfach immer weitermachen: „Aber ich würde mit dem Schreiben weitermachen, bis sich etwas anderes ergab. Es ergab sich nie etwas anderes, bis heute nicht - und ich bin froh darüber.”
Phantastische Höchstleistungen
Die Storys in diesem Band beobachten allesamt junge Männer beim Erwachsenwerden. Männer mit offenen Sinnen, bereit, sich Abenteuern zu stellen und ihr Gegenüber zu entdecken. Solchen Figuren folgt man gern. Martels junge Helden entdecken den Tod, die Schönheit und die Kraft der Erinnerung. Schon in seinen ersten Texten zeigt sich Martels Vorliebe für forcierte literarische Konstellationen. In der Titel gebenden Story pflegt ein junger Mann seinen an Aids erkrankten Freund. Beide beschließen, sich abwechselnd Geschichten zu erzählen. Sie versuchen sich an dem alten Scheherazade-Trick: Sie wollen den Tod durch die Kunst des Erzählens bannen. Die Struktur ihrer Erzählungen ist geschult an den Techniken der Oulipo, der Ouvrage de Litérature Potentielle, jenes literarischen Zirkels, der von der Prämisse ausgeht, dass nur größtmögliche formale Zwänge die Phantasie zu Höchstleistungen beflügeln.
So wählen die beiden Freunde historische Ereignisse des 20. Jahrhunderts als Matrix ihrer knappen Erzählungen über die finnische Familie der Roccamatios aus. Martel erzählt nun nicht etwa diese Roccamatio-Chroniken, sondern collagiert in seinen ergreifenden Krankheitsbericht nur die Lexikon-Artikel, die den beiden Freunden als Vorlage und Inspirationsquelle zu ihren lebenserhaltenden Erzählungen dienen. So bewegt sich der Leser durch eine Spiegelflucht von Verweisen: Die Ereignisse des mörderischen Jahrhunderts spiegeln die Geschichten der Roccamatios, die wiederum die unterschiedlichen Stadien der Krankengeschichte spiegeln. Ein Artikel über die Erfindung des Reißverschlusses etwa deutet fast verschämt einen bescheidenen Optimismus des Erkrankten an. Die Verbindungen zwischen der Krankengeschichte und den Lexikonartikeln sind sehr diskret, und aus eben dieser Verhaltenheit beziehen sie ihre Kraft. Die fiktiven Roccamatios bleiben die großen Abwesenden in dieser Erzählung. Ihre Abenteuer sind der Phantasie des Lesers überlassen. So werden sie ein Abbild für all das Unsagbare in diesem langen Abschied von einem Freund.
Diese Konstruktion ist äußerst wirkungsvoll: Die staubtrockenen Lexikon-Einträge bilden einen ergreifenden Kontrast zu den aufwühlenden Zeugnissen über einen zerfallenden Körper. Hier offenbart sich das Talent des Autors, einer überkonstruierten literarischen Konstellation durch plastische Charaktere und glaubwürdige Schicksale Leben einzuhauchen. In Martels besten Texten setzt ein sehr formalistisches Skelett bald erzählerisches Fleisch an, so dass vor des Lesers Auge ein lebendiges, lockeres, leichtes Prosagebilde entsteht.
In „Spiegel für die Ewigkeit” findet der Erzähler im Keller seiner Großmutter eine phantastische Maschine, die aus den Zutaten Sand, Silber und Öl unter Beigabe von lebendig erzählten Erinnerungen Spiegel herstellt. Nicht im Ernst, oder? Wieder sticht als Erstes die bemüht konstruierte Grundidee des Textes ins Auge. Man muss solche parabelhafte Programmprosa nicht unbedingt mögen. Die allegorischen Zahnrädchen von Martels Spiegelmaschinen knirschen schon ziemlich penetrant, und manchmal schimmert die erbauliche, semi-philosophische Botschaft allzu heilversprechend und naseweis durch den Text. Im vorliegenden Fall lernen wir, dass sich das Selbstbild eines jeden Menschen nur im Spiegel lebendig gehaltener Erinnerungen konstituiert. Wer hätte das gedacht? Doch trotz aller Vorbehalte bleibt bewundernswert, wie es dem Autor immer wieder gelingt, noch den gewagtesten Konstrukten durch versierte Charakterzeichnung Leben einzuhauchen.
Es ist auffällig, wie sehr Martel in seinen frühen Texten nur die Hintergründe zu seinen Geschichten beschreibt. In „1096 Arten zu sterben” imaginiert er die unterschiedlichen Arten, auf die sich die Hinrichtung eines jungen Mannes hätte abspielen können. Das ist ergreifend, denn auch hier wird das Unsagbare vorsichtig umkreist. Doch auch hier wird wieder der Respekt des jungen Autors spürbar, der sich noch nicht wirklich zur eigentlichen Erzählung vorwagt, der die Möglichkeiten eines Textes erkundet, sich an den Abgrund der Geschichte herantastet, ihn manieristisch umtänzelt, aber noch nicht zum Sprung ansetzt.
Auf die Dauer möchte der Leser natürlich nicht nur verspielte Prosa-Prämissen lesen, sondern eine mutig ausgearbeitete Erzählung. Schön, dass Martell sich durch nichts hat beirren lassen, dass er weiter, immer weiter gemacht hat, und schließlich nicht nur in aller technischen Finesse die Hintergründe zum Schiffbruch mit Tiger angedeutet hat, sondern es endlich richtig im Schiffsgebälk hat krachen lassen.
STEPHAN MAUS
YANN MARTEL: Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios. Stories. Aus dem Englischen von Manfred Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005. 191 Seiten, 19,90 Euro.
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