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Produktdetails
  • Verlag: Suhrkamp
  • Seitenzahl: 206
  • Abmessung: 24mm x 125mm x 204mm
  • Gewicht: 322g
  • ISBN-13: 9783518407233
  • Artikelnr.: 06009422
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.1996

Odysseus heißt jetzt Proust
Licht in einem Bücherleben: Olof Lagercrantz liest die "Recherche"

Vier Jahre vor seinem Tod ließ Marcel Proust sich von einem Freund überreden, die berühmte Wahrsagerin Madame de Thèbes aufzusuchen. Die Pythia der großen Gesellschaft, die Fürsten und Komtessen das Schicksal aus der Hand gelesen hatte, warf einen kurzen Blick auf das Gesicht des Besuchers und weigerte sich, die Zeremonie zu beginnen: "Was erwarten Sie von mir, Monsieur? Es steht Ihnen zu, mir mein eigenes Wesen zu enthüllen."

Die Seherin hatte recht, und sie wußte gar nicht, wie sehr. Wieviel Hellsicht sie bewies, in dem bleichen Mann ihren Meister zu erkennen, wäre ihr erst nach der Lektüre der "Recherche" aufgegangen. Vor diesem Enthüller, das merken seine Leser bald, kann man sich die Orakelsprüche sparen. Der Monsieur mit den glühenden Augen ist klüger als sie; bis sie der "Recherche" auch nur eine Linie deuten, hat er ihnen schon zehnmal wahrgesagt. Viele Proust-Chiromanten vergessen das mit den Jahren, wie man die Wohltaten anderer gerne vergißt. Einer, dem Madame de Thèbes Bescheidenheit nicht erst in Erinnerung gerufen werden muß, weil er sie vollkommen verkörpert, ist Olof Lagercrantz.

Die Eminenz der schwedischen Literaturkritik liest Proust wie ein Jugendlicher, dem aus einem Vorleben der Wissensschatz eines Greises vererbt wurde. Seine Lektüre ist die des ersten Blicks, bei der es dem Leser geht wie dem Helden der "Unsichtbaren Loge", der unter der Erde erzogen wird und zur großen Initiation zum ersten Mal unters Sonnenlicht tritt: Er blinzelt noch, läßt sich vielleicht auch blenden, nimmt aber viel mehr wahr als bei jedem späteren durch Kenntnis zwar schärfer gewordenen, durch Gewohnheit aber auch wieder getrübten Blick. Die Frische dieser Erstlektüre bewahrt sich Lagercrantz auch nach aller Vertiefung und zugleich Abstumpfung, die jedem Studium so antinomisch folgen.

Lange Zeit hat er sich mit Proust zurückgezogen; wie Michelangelo, der acht Monate in den Bergen von Carrara verbringt, um die vollkommensten Marmorblöcke für das Grabmal Julius' II. auszusuchen, Vorbild für Françoise, die den weiten Weg in die Markthallen macht, um die besten Kalbsfüße und Rinderfilets für ihr Boeuf à la gelée zu beschaffen, oder wie der von Prousts Freund Berry beschworene Fakir, der sich mit verschlossenen Augen und eingerollter Zunge beerdigen und sieben Monate später geringfügig abgemagert und guter Dinge wieder ausgraben läßt. Bei Lagercrantz waren es nicht Monate, sondern Jahre, und was er aus seinem Leseexil mit Proust zurückbringt, ist weder Stein noch Gelee, sondern etwas Körniges dazwischen; keine strenge Komposition und keine neuschäumende Deutung, sondern sechzehn lose verbundene, wohlübersetzte Kapitel über Themen und Motive der "Recherche", in denen mehr geplaudert wird als doziert, mehr gezeigt als behauptet und mehr gefunden als gesucht.

Lagercrantz liest genau und läßt sich keinen Kniff und keinen Schatten entgehen, ist aber so unpedantisch wie Proust, dessen Fehler er mit freundlicher Ironie umhüllt. Nicht alle sind sie so leicht nachzuweisen wie der plötzliche Wechsel der Haarfarbe Marcels von Blond zu Schwarz. Es gibt sublime und notwendige Fehler, die nichts mit Prousts frühem Tod zu tun haben. "Irgend etwas stimmt hier nicht", bemerkt Lagercrantz an zwei Stellen und erklärt, warum es so nicht sein kann und wie Proust wieder einem Leoparden ausgewichen ist.

Drei wilde Tiere, Panther, Löwe und Wölfin, hindern Dante am Anfang der "Göttlichen Komödie" daran, die sonnige Höhe zu erreichen. Sie zwingen ihn zum Umweg durch Inferno und Purgatorio. Das siegreiche Werk verdankt sich einer Ausweichbewegung. Lagercrantz zieht daraus eine Leitmetapher. Auch Proust ist zu einem Umweg gezwungen, aus dem die "Recherche" besteht, auch ihm stellen sich drei wilde Tiere entgegen, an denen er nicht vorbei kann: Homosexualität, Judentum und Mutterbindung. Tiefenpsychologen würden das erste und das letzte der Tiere zu einem Leopardenwolf kreuzen, ohne Lagercrantz damit sehr beeindrucken zu können. Er mißtraut der Tiefe, dem Verzwickten und dem Jargon. Er liebt die Geheimnisse der Oberfläche, auf der die Kunst steht oder fällt. Auf die Lebensabgründe sieht er mit der Altersweisheit, die sich manchmal sanft über die der Binsen beugt. Der juvenile Leser wird morgen, am Sonntag, fünfundachtzig, da hat er den Blick der Ferne aufs Elementare. Es lichtet sich viel im Lauf eines Bücherlebens, und was bleibt am Ende übrig? Dante, Vergil, Homer. Das sind die Ombudsmänner, die er Proust an die Seite stellt; die netteste Hommage, die er ihm machen konnte.

Aus der "Odyssee" stammt auch die zweite seiner Leitmetaphern. Odysseus dringt in die Unterwelt, um von Madame de Thèbes' Urahn Teiresias sein künftiges Schicksal zu erfahren; die Toten stürzen herbei, um Blut eines geschlachteten Schafes zu trinken und dadurch für einen Augenblick ins Leben zurückzukehren, unter ihnen Odysseus' Mutter. Er ist gezwungen, sie fernzuhalten, erst nachdem er Teiresias hat trinken lassen, ist sie an der Reihe. Nur einmal in der "Recherche" wird an diese Episode erinnert, aber Lagercrantz liest den ganzen Roman vor ihrem Hintergrund. Proust ist Odysseus, der Schatten in lebendige Wesen verwandelt und Abgeschiedene zum Sprechen bringt. Der Dichter erbarmt sich ihrer und gibt ihnen einen Mundvoll Blut. Die "Recherche" spielt in einer Zwischenwelt, in der sich Wesen mit leeren Adern unter die lebendigen mischen. Marcel und seine Mutter wohnen ihr Leben lang zusammen. Aber irgend etwas stimmt hier nicht.

Sobald die Erzählung es erfordert, verschwindet sie, reist ab, um einen kranken Verwandten zu pflegen, oder macht andere endlose Besuche. Sie ist in Wirklichkeit tot. Doch ab und zu kehrt die Schattenmutter ins Leben zurück, wie Odysseus' Mutter in der Unterwelt. Gealtert und traurig sitzt sie in Venedig an der Marmorbalustrade ihres Hotels und liest, da nähert sich Marcel, sie blickt auf, erkennt ihn und schickt ihm den tiefen strahlenden Blick der Mutterliebe zu. Nichts war umsonst; sie lebt wieder, nach dem Blutopfer des bleichen Transmutators, der kurz vor seinem Erschöpfungstod dem Bruder aus der "Odyssee" zitiert, die Zukunft ruhe unsichtbar auf den Knieen der Götter; von woher uns, wie wir hoffen, noch manche Lesefrucht seines klugen Deuters entgegenkullert. MICHAEL MAAR

Olof Lagercrantz: "Marcel Proust oder Vom Glück des Lesens". Aus dem Schwedischen übersetzt von Angelika Gundlach. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 206 S., geb., 38,- DM.

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