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Der Weltruhm der in Hanau geborenen Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mag überblendet haben, dass hier außerdem eine stattliche Reihe von Autorinnen und Autoren lebte und arbeitete bzw. lebt und arbeitet, an die in diesem Buch erinnert werden soll. Manche scheinen gar nicht oder wenig bekannt. Von Ferdinand Grimm weiß man kaum etwas, Ludwig Emil Grimm ist immer noch wiederzuentdecken. Im Umkreis der Schwestern Hassenpflug sind etliche Personen ausführlicher zu würdigen, die zu den Kinder- und Hausmärchen mehr oder weniger direkt beigetragen haben. Auch die Schwestern Günderrode sind zu nennen.…mehr

Produktbeschreibung
Der Weltruhm der in Hanau geborenen Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mag überblendet haben, dass hier außerdem eine stattliche Reihe von Autorinnen und Autoren lebte und arbeitete bzw. lebt und arbeitet, an die in diesem Buch erinnert werden soll. Manche scheinen gar nicht oder wenig bekannt. Von Ferdinand Grimm weiß man kaum etwas, Ludwig Emil Grimm ist immer noch wiederzuentdecken. Im Umkreis der Schwestern Hassenpflug sind etliche Personen ausführlicher zu würdigen, die zu den Kinder- und Hausmärchen mehr oder weniger direkt beigetragen haben. Auch die Schwestern Günderrode sind zu nennen. Für die Literatur des Barock ist neben dem großen Grimmelshausen an Johann Michael Moscherosch zu erinnern. Dass Johann Wolfgang von Goethe einen Onkel hatte, der in Hanau eine kaufmännische Lehre absolvierte, erfährt in dieser Hanauer Literaturgeschichte Erwähnung. Ebenso dass Adolph Knigge in Hanau einiges schrieb, nicht aber die Briefe eines Schweizers über das Wilhelmsbad. Kaum bekannt ist, dass Hanau nach Basel der bedeutendste Druckort hebräischer Literatur war und die einmalige Zensurpraxis im Vormärz mit der Tendenz eines weltoffenen liberalen Hanau praktiziert wurde. All dies möge dazu betragen, die Literaturstadt Hanau zu entdecken oder wiederzuentdecken.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.02.2021

"Es that immer wohl, wenn eine Laus knickte"

HANAU Mehr als nur die Brüder Grimm: Eine Literaturstadt mit Tradition und Freigeist im Wandel der Jahrhunderte, dargestellt von Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz.

Von Luise Glaser-Lotz

Verdient die Stadt Hanau wirklich den offiziellen Zusatz "Brüder-Grimm-Stadt"? Diese Frage stellte man sich, als Hanau im Jahr 2016 den tourismusfördernden Titel zugesprochen bekam. Schließlich, so sagte man etwa in den anderen Grimm-Städten wie Kassel oder Marburg, weilten die in Hanau geborenen berühmten Brüder Wilhelm und Jacob in Hanau nur während ihrer frühen Kindheitstage in der Stadt, bevor die Familie im Jahr 1791 nach Steinau übersiedelte. Jacob war da gerade einmal sechs Jahre alt und Wilhelm fünf. Da liegt der Gedanke nahe, dass es viele Erinnerungen der Sprachwissenschaftler und Märchensammler Jacob und Wilhelm an ihre Geburtsstadt nicht gegeben haben könne. Doch die Bindungen an Hanau waren offenbar recht intensiv. Das zeigt die erste große Hanauer Literaturgeschichte auf, die von den beiden renommierten Literaturforschern Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz erarbeitet wurde.

Der umfangreiche Band, er umfasst rund 450 Seiten, wurde vom Magistrat der Stadt Hanau und dem Hanauer Geschichtsverein 1844 in Auftrag gegeben und erschien im Rahmen der traditionsreichen Hanauer Geschichtsblätter. Der Titel des Buches "Märchen und so viel mehr" ist Programm. Natürlich bilden die Brüder Grimm, ihre Beziehung zu Hanau und die mit Hanau verbundenen Märchenerzählerinnen Schwerpunkt sowie Auftakt der Literaturgeschichte, aber Hanau hat literarisch viel mehr zu bieten. So nehmen die beiden Autoren den Leser mit auf eine literarische Zeitreise von der Renaissance über das Barock und die Romantik bis hin zu den frühen Jahren der Kunst des Buchdrucks, zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus und zur Nachkriegszeit. Beleuchtet wird die Rolle der Hanauer Literaten und Verleger in der unruhigen Zeit des neunzehnten Jahrhunderts und in den Jahren des Übergangs von der Hitler-Diktatur in die Demokratie.

Die Hanauer Literaturgeschichte enthält zahlreiche neue und überraschende Fakten. So ist die Detailgenauigkeit, mit der sich der dreißigjährige Jacob Grimm in einem Text aus dem Jahr 1814 an seine frühen Kindertage in Hanau erinnert, sehr erstaunlich. "Ich weiß mir das Haus, wo die Eltern in der langen Gasse zu Hanau lebten, noch ziemlich vorzustellen", schreibt er. "Es war hellroth angestrichen, neben links (wenn man inwendig aus dem Fenster guckte) lag ein anderes von dunkler Steinfarbe, das zu dem auf der Gegenseite des Viertels liegenden Neustädter Rathaus gehörte." Jacob beschreibt seine Wohngegend und Lebensumstände sehr genau, auch wenn es um die Körperhygiene geht: "Bei dem Nägelbeschneiden hatte ich immer eine Art Grauen, und litt es nicht gern. Das Kämmen und Lausen litt ich schon lieber, ich legte mich mit dem Gesicht an den Leib der Mutter und es that immer wohl, wenn eine Laus knickte." Lebhaft erinnert sich Jacob an die berühmte Tante Schlemmer, die den Jungen das Lesen und Schreiben beibrachte und sie erstmals in Kontakt mit deutschen Volksmärchen brachte. "Bei der Tante Schlemmern war ich täglich und mehr als bei den Eltern fast und hing damals mehr an ihr als an Vater und Mutter, zum Eßen und abends ging ich nach Haus um die Ecke, des Abends brachte uns ihre Wilhelmine, ein Waisenmädchen aus Schlüchtern, das sie erziehen ließ und einen sehr feinen und schmächtigen Bau hatte, nach Haus." Die Märchensammler Jacob und Wilhelm bilden eine wichtige Facette der Literaturgeschichte, das Umfeld mit den Brüdern Ferdinand, Ludwig Emil und Carl, deren spannende Biographien Boehncke und Sarkowicz erforschten, sowie die literarischen Kreise der Grimms eine weitere. Spannung kam bei den beiden Autoren auf, als sie bei ihren Recherchen im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt eine Mappe mit Schriften entdeckten, die Kontakte der Dichterin Karoline von Günderrode und ihrer Schwestern mit der zeitweise in Hanau beheimateten Familie Hassenpflug belegen. Die Hassenpflug-Schwestern zählten zu den wichtigsten Märchenzuträgerinnen der Grimms.

Wie ein roter Faden zieht sich die Erkenntnis durch das Buch, dass Hanau seit Jahrhunderten nicht nur eine Stadt der Märchen, sondern auch eine des Freigeistes ist, in der um Demokratie und Gerechtigkeit gekämpft wurde, etwa in der Zeit des Vormärz und der Revolution von 1848/49, in der Hanau eine besondere Rolle spielte. Gerade jetzt, da sich die Stadt des schrecklichen rassistischen Attentats vom 19. Februar 2020 erinnert, erscheint das Kapitel über den Verlagsort Hanau im 17. und 18. Jahrhundert willkommen. Schon seit dem Jahr 1593 wurden in der gräflichen Residenz Hanau Bücher verlegt und hochwertig gedruckt. Zwei gebürtige Hanauer zählten laut Sarkowicz und Boehncke zu den ersten Druckern im deutschsprachigen Raum. Die daraus erwachsene Tradition des Druckhandwerks war verbunden mit einer liberalen Haltung in der Stadt, die etwa die Ansiedlung des ersten hebräischen Verlags in Hanau ermöglichte. In Hanau, so Sarkowicz, durften reformatorische und religiöse Druckerzeugnisse hergestellt werden, die anderswo nicht erlaubt gewesen wären. So habe sich das weltoffene Hanau zu einem der wichtigsten Druckorte der hebräischen Literatur nach Basel entwickelt.

Der Band "Märchen und so viel mehr" von Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz ist im Buchhandel für 39 Euro erhältlich.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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