
Henriette Valet
Gebundenes Buch
Madame 60a
Übersetzt und benachwortet von Norma Cassau
Übersetzung: Cassau, Norma
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Das Hôtel-Dieu, im Schatten der Pariser Kathedrale Notre-Dame, nimmt seit Jahrhunderten mittellose Schwangere auf, die kurz vor der Entbindung stehen und nicht wissen, wohin. Es ist ein Mikrokosmos, der die Gesellschaft unter Extrembedingungen spiegelt - und doch weiß man wenig über die konkreten Bedingungen, das Erleben an diesem vielfach tabuisierten Ort.In den Jahren um 1930 betritt eine junge Frau dieses Heim. In den überfüllten Saal wird, zwischen die Nummern 60 und 61, ein weiteres Bett geschoben: 60a.Henriette Valets Roman Madame 60a begleitet die namenlose, aber nummerierte Protag...
Das Hôtel-Dieu, im Schatten der Pariser Kathedrale Notre-Dame, nimmt seit Jahrhunderten mittellose Schwangere auf, die kurz vor der Entbindung stehen und nicht wissen, wohin. Es ist ein Mikrokosmos, der die Gesellschaft unter Extrembedingungen spiegelt - und doch weiß man wenig über die konkreten Bedingungen, das Erleben an diesem vielfach tabuisierten Ort.In den Jahren um 1930 betritt eine junge Frau dieses Heim. In den überfüllten Saal wird, zwischen die Nummern 60 und 61, ein weiteres Bett geschoben: 60a.Henriette Valets Roman Madame 60a begleitet die namenlose, aber nummerierte Protagonistin bis zur Geburt ihres Kindes und zur Entlassung aus dem Hôtel- Dieu. Wir sehen die Routinen und Schmerzen, die Gehässigkeit und Verzweiflung der Frauen, aber auch ihre Freimütigkeit und ihren Zusammenhalt. Die Niedertracht der Situation, in die sie geraten sind, konzentriert die Niedertracht einer ganzen Gesellschaft. Valets Beobachtungen sind unbestechlich, ungeschönt, aber Madame 60a gestattet sich selbst keine Verbitterung: Gegen die Unterdrückung der Frauen ebenso wie gegen deren Resignation erhebt sie eine wütende und ergreifende Anklage.
Henriette Valet (1900-1993) wird in Paris in bescheidenen Verhältnissen geboren. Sie wächst in der Auvergne auf, wo sie beginnt, als Telefonistin zu arbeiten, ehe sie 1924 zurück nach Paris zieht. Dort findet sie Anschluss an linke Intellektuellen- und Künstlerkreise. Für Arbeiter- und Gewerkschaftszeitschriften schreibt sie sowohl journalistisch als auch literarisch. Ihr erster Roman, Madame 60a, erscheint 1934 bei Grasset. 1936 heiratet sie den marxistischen Philosophen und Soziologen Henri Lefebvre, mit dem zusammen sie den Roman Le mauvais temps (Grasset 1937) schreibt. Nach dem Weltkrieg spielt man in Paris ein Theaterstück von ihr, danach verliert sich ihre literarische Spur. Sie stirbt 1993 in Paris.
Produktdetails
- Verlag: Verlag Das Kulturelle Gedächtnis
- Seitenzahl: 229
- Erscheinungstermin: Februar 2022
- Deutsch
- Abmessung: 214mm x 149mm x 25mm
- Gewicht: 404g
- ISBN-13: 9783946990628
- ISBN-10: 3946990622
- Artikelnr.: 63119798
Herstellerkennzeichnung
Verlag Das Kulturelle Gedächtnis GmbH
Heinrich-Roller-Str. 7
10405 Berlin
vertrieb@xn--daskulturellegedchtnis-g5b.de
www.daskulturellegedaechtnis.de
+49 (0176) 41923335
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Marie Schmidt stellt drei Romane vor, die sich mit der Klinik als "Ort literarischer Freiheit" beschäftigen. Einer davon ist die Wiederentdeckung von Henriette Valets "Erfolgsbuch" vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Eine Ich-Erzählerin begibt sich hochschwanger in das Pariser "Hôtel Dieu", einem Geburtshaus für mittellose Schwangere und erzählt die Geschichten ihrer Mitpatientinnen, resümiert Schmidt. Bei aller "sozialrealistischen Härte", die die Beschreibung von Gerüchen, Körpern und den Schicksalen der Prostituierten und hoffnungslosen Frauen mit sich bringt, erkennt die Rezensentin dieses Haus auch als utopisches Vorbild für Frauen, die sich frei von Scham und beschränkenden Konventionen auf ihre Gemeinsamkeiten besinnen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Die Revue der irrsinnigen Bäuche
Wiederentdeckt nach achtzig Jahren: Henriette Valets literarische Beobachtung eines Frauenspitals
Henriette Valet beginnt ihren Text unmittelbar, ohne Absatz, ohne Kapitelmarkierung. Zwei, drei Seiten benötigt sie nur, bis ihre Erzählerin das Tor zum ältesten Krankenhaus von Paris aufstößt, dem ganz in der Nähe der Kathedrale Notre-Dame gelegenen Hôtel-Dieu. Schon seit Jahrhunderten wenden sich an dieses Haus vor allem Frauen, die krank, schwanger oder arm sind oder alles zugleich. Am Tor genügt ein Blick der Schwestern auf die runden Bäuche, um die Frauen genauso einzulassen wie die namenlose Ich-Erzählerin, der keine Fragen gestellt und keine Papiere vorgelegt werden. Sie bekommt
Wiederentdeckt nach achtzig Jahren: Henriette Valets literarische Beobachtung eines Frauenspitals
Henriette Valet beginnt ihren Text unmittelbar, ohne Absatz, ohne Kapitelmarkierung. Zwei, drei Seiten benötigt sie nur, bis ihre Erzählerin das Tor zum ältesten Krankenhaus von Paris aufstößt, dem ganz in der Nähe der Kathedrale Notre-Dame gelegenen Hôtel-Dieu. Schon seit Jahrhunderten wenden sich an dieses Haus vor allem Frauen, die krank, schwanger oder arm sind oder alles zugleich. Am Tor genügt ein Blick der Schwestern auf die runden Bäuche, um die Frauen genauso einzulassen wie die namenlose Ich-Erzählerin, der keine Fragen gestellt und keine Papiere vorgelegt werden. Sie bekommt
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nur ein Bett, eine Bettpfanne und um die sechzig Nachbarinnen, die sich im Dachgeschoss des Krankenhauses ein paar ineinander übergehende Zimmer teilen. Ihr Bett trägt die Nummer 60a.
"Madame 60a" wird die Erzählerin fortan genannt, und so lautet auch der Titel des Buches, das 1934 erstmals bei Grasset erschien und mehrere Auflagen erlebte, bevor es vollkommen in Vergessenheit geriet und erst vor drei Jahren von den französischen Éditions de l'Arbre Vengeur wieder aufgelegt wurde. Dieser Neuausgabe folgt die nun erschienene deutsche Übersetzung von Norma Cassau. Das Buch ist, wie es in dem ebenfalls von Cassau stammenden, sehr kundigen Nachwort heißt, am ehesten als literarische Reportage zu verstehen. Mit etwas Zynismus ließe es sich auch als teilnehmende Beobachtung beschreiben. Zynisch, weil die Erzählerin auf ihre Teilnahme wohl gut hätte verzichten können, denn im Paris der Zwischenkriegszeit kommt im Entbindungsheim das Elend der ganzen Stadt zusammen. Huren, Dienstmädchen, Minderjährige, Verlassene, Betrogene, Geflohene - der Dimension der Misere sind ebenso wenig Grenzen gesetzt wie der Deformation der weiblichen Körper, die sich in der Enge des Mikrokosmos unerträglich nah kommen. Das ist der erste Schock für die Neuangekommene: zu sehen, wie sich im Dampf des Waschraums die nackten Körper aneinander reiben, wie die Frauen sich immer wieder, wenn die Langeweile zu groß wird, zur "Revue" aufstellen, ihre Hemden heben und mit irrsinnigen Bäuchen durch die Gänge toben. "Ein obszöner Reigen, ein makabrer und spaßiger Kreistanz, eine närrische Karikatur der Fruchtbarkeit." Das Ausmaß an Körperlichkeit wird nur von der Intensität übertroffen, mit der die Frauen ihr Innenleben teilen. Es gibt kaum eine Geschichte, die nicht preisgegeben wird.
Mit vorgehaltenem Gewehr vom Hof gejagt
Die Ich-Erzählerin bei Henriette Valet, die, so legen es wissenschaftliche Nachforschungen nahe, in ihr Buch eine eigene Erfahrung einbringt, hat einen glasklaren Blick für die Besonderheiten ihrer Leidensgenossinnen. In ihrer erzählerischen Perspektive verdichten sich die Frauen zu Typen, die nie beim Namen genannt, sondern stets mit Begriffen bezeichnet werden, die sie gut charakterisieren. So tauchen auf das junge Bauernmädchen, die Minna, die Schnüfflerin, die Hure, die Jüdin, die Halbverrückte und die kleine Bucklige. Jede von ihnen hat ein eigenes Schicksal. Das junge Bauernmädchen beispielsweise ging, wie sie in voller Unschuld berichtet, nur einmal mit einem Jungen ins Feld, kam aber schwanger zurück und wurde vom Vater mit vorgehaltenem Gewehr vom Hof gejagt. Weil irgendjemand ihr verriet, dass man in Paris gut durchkomme, landete sie im Entbindungsheim und schätzt sich dort glücklich. Sie bekommt ein Bett und täglich warmes Essen.
Was sie mit allen anderen eint, ist ihre Unfähigkeit, die eigene Geschichte nicht als (womöglich noch selbst verschuldetes) Schicksal, sondern als Teil eines gesellschaftspolitischen Systems zu sehen, das manche bevorzugt und andere benachteiligt. Die Erzählerin selbst ist sich der Macht dieses Systems allzu bewusst. Für sie sind die Dramen, die in den Dachkammern zur Aufführung kommen, ein Spiegel der äußeren Verhältnisse, in denen neben kapitalistischen auch jene linken Ideen gedeihen, mit denen Henriette Valet ihre Erzählerin ausgestattet hat. So zeigt die sich fassungslos angesichts der Bereitschaft der Frauen, ihr Leid als gegeben hinzunehmen; sich mit den faits divers in den Tageszeitungen zu begnügen, statt die Politikseiten zu lesen; sich dem Pfarrer anzuvertrauen, der wöchentlich einen Besuch abstattet, wobei er "Worte der Hoffnung, des Trostes und des Sichabfindens" verteilt. "Auf das Sichabfinden kommt es an. Der Herr Pfarrer hat mit echten Schmerzen nichts am Hut, er will nur, dass sie hingenommen werden, wie es sich gehört."
Keine Illusionen über die angebliche Mutterfreude
Es gibt kaum ein Thema, das die Erzählerin nicht aufspießt. Es geht um Religion und Politik, um Bigotterie und Ausbeutung. Es geht um Liebe, die sich als Illusion entpuppt - in einem wunderbaren Monolog entzaubert von der Hure, die sich ein einziges Mal erhebt, um den versammelten Frauen ihre Wahrheit über die Männer darzulegen, bevor sie in der Hackordnung der kleinen Gemeinschaft wieder den untersten Platz einnimmt. Denn auch die Dynamiken des Miteinanders werden von der analytischen Beobachtungsgabe der Erzählerin fein seziert. Sie weiß genau, dass andere Regeln gelten, je nachdem ob die Frauen unter sich sind und sich hin und wieder in eine ausgelassen-obszöne Meute verwandeln. Oder ob sie als Angehörige einer sozialen Klasse jene devote Haltung einnehmen, die man ihnen zugesteht. Auch den eigenen psychologischen Prozess des Sicheingewöhnens in die Welt auf dem Dachboden reflektiert die Erzählerin genau, allerdings ohne von sich selbst viel preiszugeben.
Mehr als dass sie glaubte, das "große Glück" gefunden zu haben, erfährt man nicht über sie. Dass sie den anderen in der Einschätzung der Lage, in die sie dieser Glaube brachte, weit überlegen ist, erschließt sich von selbst. Auch über das, was gemeinhin als Mutterfreude bezeichnet wird, macht sie sich keine Illusionen und verweist in stiller Klage auf einen Konflikt, der an vielen Orten dieser Welt noch heute erstaunlich aktuell klingt: "Lügner! Lügner! Ist das Freude, wenn wir nicht wissen, wie wir unser Kleines ernähren sollen? Ist das Freude, wenn wir arbeiten gehen und es allein lassen müssen, oder in traurigen, dunklen Heimen, umgeben von Feuchtigkeit und Langeweile? Und wenn unser Kind rachitisch wird, ist das etwa Freude?" Als Zeitdokument ist "Madame 60a" erschütternd und erhellend. Als literarisches Werk ist es ein psychologisch dichtes und gesellschaftlich hochinteressantes Fundstück, das sicher nicht zufällig in einer Zeit wiederentdeckt wird, die im Zuge von "#MeToo" und "Regretting motherhood" das Frau- und Muttersein neu verhandelt. LENA BOPP
Henriette Valet: "Madame 60a".
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Norma Cassau. Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin 2022. 229 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Madame 60a" wird die Erzählerin fortan genannt, und so lautet auch der Titel des Buches, das 1934 erstmals bei Grasset erschien und mehrere Auflagen erlebte, bevor es vollkommen in Vergessenheit geriet und erst vor drei Jahren von den französischen Éditions de l'Arbre Vengeur wieder aufgelegt wurde. Dieser Neuausgabe folgt die nun erschienene deutsche Übersetzung von Norma Cassau. Das Buch ist, wie es in dem ebenfalls von Cassau stammenden, sehr kundigen Nachwort heißt, am ehesten als literarische Reportage zu verstehen. Mit etwas Zynismus ließe es sich auch als teilnehmende Beobachtung beschreiben. Zynisch, weil die Erzählerin auf ihre Teilnahme wohl gut hätte verzichten können, denn im Paris der Zwischenkriegszeit kommt im Entbindungsheim das Elend der ganzen Stadt zusammen. Huren, Dienstmädchen, Minderjährige, Verlassene, Betrogene, Geflohene - der Dimension der Misere sind ebenso wenig Grenzen gesetzt wie der Deformation der weiblichen Körper, die sich in der Enge des Mikrokosmos unerträglich nah kommen. Das ist der erste Schock für die Neuangekommene: zu sehen, wie sich im Dampf des Waschraums die nackten Körper aneinander reiben, wie die Frauen sich immer wieder, wenn die Langeweile zu groß wird, zur "Revue" aufstellen, ihre Hemden heben und mit irrsinnigen Bäuchen durch die Gänge toben. "Ein obszöner Reigen, ein makabrer und spaßiger Kreistanz, eine närrische Karikatur der Fruchtbarkeit." Das Ausmaß an Körperlichkeit wird nur von der Intensität übertroffen, mit der die Frauen ihr Innenleben teilen. Es gibt kaum eine Geschichte, die nicht preisgegeben wird.
Mit vorgehaltenem Gewehr vom Hof gejagt
Die Ich-Erzählerin bei Henriette Valet, die, so legen es wissenschaftliche Nachforschungen nahe, in ihr Buch eine eigene Erfahrung einbringt, hat einen glasklaren Blick für die Besonderheiten ihrer Leidensgenossinnen. In ihrer erzählerischen Perspektive verdichten sich die Frauen zu Typen, die nie beim Namen genannt, sondern stets mit Begriffen bezeichnet werden, die sie gut charakterisieren. So tauchen auf das junge Bauernmädchen, die Minna, die Schnüfflerin, die Hure, die Jüdin, die Halbverrückte und die kleine Bucklige. Jede von ihnen hat ein eigenes Schicksal. Das junge Bauernmädchen beispielsweise ging, wie sie in voller Unschuld berichtet, nur einmal mit einem Jungen ins Feld, kam aber schwanger zurück und wurde vom Vater mit vorgehaltenem Gewehr vom Hof gejagt. Weil irgendjemand ihr verriet, dass man in Paris gut durchkomme, landete sie im Entbindungsheim und schätzt sich dort glücklich. Sie bekommt ein Bett und täglich warmes Essen.
Was sie mit allen anderen eint, ist ihre Unfähigkeit, die eigene Geschichte nicht als (womöglich noch selbst verschuldetes) Schicksal, sondern als Teil eines gesellschaftspolitischen Systems zu sehen, das manche bevorzugt und andere benachteiligt. Die Erzählerin selbst ist sich der Macht dieses Systems allzu bewusst. Für sie sind die Dramen, die in den Dachkammern zur Aufführung kommen, ein Spiegel der äußeren Verhältnisse, in denen neben kapitalistischen auch jene linken Ideen gedeihen, mit denen Henriette Valet ihre Erzählerin ausgestattet hat. So zeigt die sich fassungslos angesichts der Bereitschaft der Frauen, ihr Leid als gegeben hinzunehmen; sich mit den faits divers in den Tageszeitungen zu begnügen, statt die Politikseiten zu lesen; sich dem Pfarrer anzuvertrauen, der wöchentlich einen Besuch abstattet, wobei er "Worte der Hoffnung, des Trostes und des Sichabfindens" verteilt. "Auf das Sichabfinden kommt es an. Der Herr Pfarrer hat mit echten Schmerzen nichts am Hut, er will nur, dass sie hingenommen werden, wie es sich gehört."
Keine Illusionen über die angebliche Mutterfreude
Es gibt kaum ein Thema, das die Erzählerin nicht aufspießt. Es geht um Religion und Politik, um Bigotterie und Ausbeutung. Es geht um Liebe, die sich als Illusion entpuppt - in einem wunderbaren Monolog entzaubert von der Hure, die sich ein einziges Mal erhebt, um den versammelten Frauen ihre Wahrheit über die Männer darzulegen, bevor sie in der Hackordnung der kleinen Gemeinschaft wieder den untersten Platz einnimmt. Denn auch die Dynamiken des Miteinanders werden von der analytischen Beobachtungsgabe der Erzählerin fein seziert. Sie weiß genau, dass andere Regeln gelten, je nachdem ob die Frauen unter sich sind und sich hin und wieder in eine ausgelassen-obszöne Meute verwandeln. Oder ob sie als Angehörige einer sozialen Klasse jene devote Haltung einnehmen, die man ihnen zugesteht. Auch den eigenen psychologischen Prozess des Sicheingewöhnens in die Welt auf dem Dachboden reflektiert die Erzählerin genau, allerdings ohne von sich selbst viel preiszugeben.
Mehr als dass sie glaubte, das "große Glück" gefunden zu haben, erfährt man nicht über sie. Dass sie den anderen in der Einschätzung der Lage, in die sie dieser Glaube brachte, weit überlegen ist, erschließt sich von selbst. Auch über das, was gemeinhin als Mutterfreude bezeichnet wird, macht sie sich keine Illusionen und verweist in stiller Klage auf einen Konflikt, der an vielen Orten dieser Welt noch heute erstaunlich aktuell klingt: "Lügner! Lügner! Ist das Freude, wenn wir nicht wissen, wie wir unser Kleines ernähren sollen? Ist das Freude, wenn wir arbeiten gehen und es allein lassen müssen, oder in traurigen, dunklen Heimen, umgeben von Feuchtigkeit und Langeweile? Und wenn unser Kind rachitisch wird, ist das etwa Freude?" Als Zeitdokument ist "Madame 60a" erschütternd und erhellend. Als literarisches Werk ist es ein psychologisch dichtes und gesellschaftlich hochinteressantes Fundstück, das sicher nicht zufällig in einer Zeit wiederentdeckt wird, die im Zuge von "#MeToo" und "Regretting motherhood" das Frau- und Muttersein neu verhandelt. LENA BOPP
Henriette Valet: "Madame 60a".
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Norma Cassau. Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin 2022. 229 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Auf der letztjährigen Frankfurter Buchmesse bin ich auf den mir bis dato völlig unbekannten „Verlag Das Kulturelle Gedächtnis“ gestoßen. Die dort verlegten Bücher sind oft Widerentdeckungen und kulturelle Bestandsaufnahmen. (Wieder-)Verlegt werden die …
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Auf der letztjährigen Frankfurter Buchmesse bin ich auf den mir bis dato völlig unbekannten „Verlag Das Kulturelle Gedächtnis“ gestoßen. Die dort verlegten Bücher sind oft Widerentdeckungen und kulturelle Bestandsaufnahmen. (Wieder-)Verlegt werden die Bücher mit Farbschnitt, tollem Einband und geprägtem Verlagslogo – also richtige Kunstwerke.
So auch „Madame 60a“ von Henriette Valet. 1900 in einfachen Verhältnissen geboren, kommt die Autorin in den 1920ern in Paris mit linken Intellektuellen in Kontakt – und heiratet 1936 den berühmten Henri Lefebvre. Im Gegensatz zu ihm hat man sie vergessen, obwohl sie erst 1993 starb. Selbst in seinen Texten erwähnt Lefebvre sie kaum – und das, obwohl ihre Bücher bei Erscheinen durchaus für Aufmerksamkeit sorgten.
„Madame 60a“ erschien 1934. Im Buch begleiten wir eine namenlose Protagonistin, die, mittellos und hochschwanger, im Hôtel-Dieu landet, deren Bett im Saal zwischen den Betten 60 und 61 aufgestellt wird – Madame 60a. Beim Hôtel-Dieu handelt es sich um eine Mischung aus Klinik und Frauenhaus, die ebensolchen Frauen Zuflucht und Versorgung bietet und ihnen eine halbwegs sichere Geburt ermöglicht. Was dieser Ort auch ist: Ein Ort, an dem Dutzende schwangere und verzweifelte Frauen aufeinandertreffen, die alle aufgrund ihres Geschlechts und der Schwangerschaft in dieser Situation sind, die untereinander eigene Kämpfe austragen, Hierarchien etablieren, aber auch einen wahnsinnigen Zusammenhalt leben.
Die Protagonistin beobachtet die Rituale der Frauen distanziert. Sie wertet, flicht politische Gedanken ein und viele dieser Wertungen sind zumindest aus heutiger Perspektive problematisch – etwa, wenn sie bei einer durch einen Unfall körperlich behinderten Frau deren Schwangerschaft kritisiert, wo das Kind doch sicher diese Behinderung erben würde. Zugleich blickt sie kritisch auf den auch unter den Frauen verbreiteten Antisemitismus. Sie beschönigt nichts, stellt sich moralisch wiederholt über die (noch) nicht politisierten Frauen und verrät über sich selbst kaum etwas. Man kann aber davon ausgehen, dass Valet hier auch persönliche Erfahrungen verarbeitet hat.
Ich habe das Buch an einem Samstagvormittag begonnen und an diesem Tag beendet, weil ich es nicht aus der Hand legen konnte. Die Figuren sind oft überspitzt, viele Stellen erinnern an ein absurdes Theaterstück, dann wieder folgt eine messerscharfe Beobachtung. Die Sogwirkung entsteht gerade auch durch die Sprache, die von Norma Cassau großartig übersetzt wurde. Dass „Madame 60a“ auf der Hotlist von 2022 stand, ist mehr als verdient – und wer eine vergessene, feministische Autorin entdecken will, deren Werk sich einbrennt, sollte dieses Buch hier definitiv lesen.
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