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Der Romanzyklus November 1918. Eine deutsche Revolution von Alfred Döblin (1878-1957) ist in der deutschsprachigen Literatur dieses Jahrhunderts einzigartig. Döblin zeichnet die geschichtliche Entwicklung der Deutschen zwischen 1918 und 1945 in ihren machtpolitischen Konstellationen nach. Geschichte wird zu einem Gesamtzusammenhang, der die Begegnung des Lesers mit einer vergangenen, tatsächlichen Lebenswirklichkeit ermöglicht. Das historische Erkenntnisinteresse vorliegender Studie erstreckt sich auf alle Bereiche der Handlung. Analysiert werden die vielschichtigen Gründe für das Erstarken…mehr

Produktbeschreibung
Der Romanzyklus November 1918. Eine deutsche Revolution von Alfred Döblin (1878-1957) ist in der deutschsprachigen Literatur dieses Jahrhunderts einzigartig. Döblin zeichnet die geschichtliche Entwicklung der Deutschen zwischen 1918 und 1945 in ihren machtpolitischen Konstellationen nach. Geschichte wird zu einem Gesamtzusammenhang, der die Begegnung des Lesers mit einer vergangenen, tatsächlichen Lebenswirklichkeit ermöglicht. Das historische Erkenntnisinteresse vorliegender Studie erstreckt sich auf alle Bereiche der Handlung. Analysiert werden die vielschichtigen Gründe für das Erstarken des Nationalsozialismus wie des Extremismus und Irrationalismus insgesamt. November 1918 bringt in vielen Details eine geradezu verblüffende Hellsichtigkeit Döblins ans Licht: Er erspürt historische Zusammenhänge, die zur Zeit der Abfassung des Romans noch nicht bekannt waren oder jahrzehntelang anders interpretiert wurden.
Autorenporträt
Die Autorin: Christina Althen wurde 1959 geboren. Sie studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte in Frankfurt, München und Göttingen. Von 1984 bis 1987 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der Jungen Union Deutschlands in Bonn, von 1987 bis 1992 Pressereferentin der Präsidentin des Deutschen Bundestages im Bundestagswahlkreis Göttingen. 1992 promovierte sie an der Universität München zum Dr. phil. Seit 1992 betreibt sie Döblin-Forschung an der Harvard-Universität.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.11.2008

Das Leben radikal anders denken

Dieses Buch ist ein Solitär, nicht nur in der deutschen Literatur: Alfred Döblins Romantrilogie "November 1918" wird neu aufgelegt. Ein Meisterwerk des engagierten Schreibens

Man isst, schläft, macht was. Daraus wird kein Zeitgenosse. Wer sich aber Zeitungen und ähnliche dem Tag gewidmete Quellen anschaut, wer sich informiert über das, was in der Welt geschieht, der kann sich vielleicht Zeitgenosse nennen. Man redet mit, hat Ansichten parat. Wenig später geht man mit den Ansichten wieder zur Arbeit. Die Bundestagswahl alle vier Jahre macht den Kohl auch nicht fett. Wahrscheinlich wird man kein historischer Mensch mehr sein können, einer, der mit sehr vielen anderen in eine entscheidende Lage gerät. Manche Menschen mag diese geschichtliche Abstinenz ihres Daseins quälen.

In solcher Untätigkeit reimt sich der eine oder andere kleine historische Phantasien zusammen, wodurch selbstgemachte Geschichte wieder naherückt: Lenin blieb in Zürich, die Schweiz wurde rot. Das hat sich der Schriftsteller Christian Kracht ausgedacht. Man könnte diesen Modellbau ästhetizistische Geschichte nennen, ein künstliches Surrogat für einen Mangel an realen historischen Zugriffen.

Theoretisch findet sich nur schwer ein Zugang zur Geschichte, der in das Geschehen hineinzieht. Das beliebteste Nadelöhr sind die Revolutionen. Jene tatendurstigen Kamele zum Beispiel, die in den siebziger und achtziger Jahren Marx und Lenin lasen, fühlten das Verlangen, Geschichte zu machen. Die Revolution ist attraktiv, sie verspricht den sofortigen Einsatz, schafft die Beruhigungssysteme ab und dafür Fronten des Kampfes, sie fordert auf allen Ebenen Entschlüsse. Die Revolution ist ein radikaler Anfang, ideal für Anfänger, etwas Eindeutiges - ein Sprung in die Geschichte. Das sollte man trainieren.

Das beste Buch zur Revolution stammt von dem Schriftsteller Alfred Döblin. Es heißt "November 1918" und wurde im Exil geschrieben. Dieser Roman ist ein Solitär, und zwar nicht nur innerhalb der deutschen Literatur. Grandios komponiert er Fakten, Fiktionen, Ereignisse, Erlebnisse, Geschichte, Geschichtsphilosophie, Politik, Poesie, Diagnose und Drama, Lebenswelt und Lebensanschauung. Das ist der blaue Pool, in den springen sollte, wer herausfinden möchte, wie sich das anfühlt, die Revolution, die Geschichte, und man selbst mittendrin. Man kann von diesem Buch viel lernen. Vor allem erfährt der Leser auf diesen über zweitausend Seiten, was es bedeutet, als historischer Mensch in die Pflicht genommen zu werden. Mit Zeitunglesen beim Brötchenkauen kommt in der deutschen Revolution von 1918/19 keiner weiter.

Von einem historischen Roman kann keiner mehr erwarten, als dass er den Leser in die Zwickmühle der Entscheidungen klemmt, aus der er sich nicht einfach herausziehen kann wie einen Stöpsel aus der Badewanne. Die radikale Umwälzung ist aufregend, heikel, bedrohlich und geschichtsintensiv. Diese Art von künstlicher Erfahrung der Realitäten mag die Essenz dessen sein, was historischer Roman genannt werden kann. Döblins monumentaler "November 1918" gehört zu der leider zahnlos gewordenen Kategorie der "engagierten Literatur". Die Form des welthaltigen dezionistischen Erzählens wird durch den in den dreißiger Jahren im Pariser Exil begonnenen Roman über die gescheiterte deutsche Revolution von 1918/19 vorbildlich ausgefüllt. Doch das Lehrbuch des Handelns hat keine Nachfolger gefunden. Es zwingt in die Parteinahme und, zugleich, in die Introspektion, es zwingt in die Ereignisse und, zugleich, in die Empathie. Jeder muss sehen, welchen Weg er geht.

Der Roman ist eine letzte Totale - dank Döblins umfassendem Blick auf eine zersprungene, doch einzigartig einzige Wirklichkeit. Ihm entgeht nichts von dem Amalgam aus Historischem und Menschlichem. Hier machte es sich einer, der mit Links sympathisiert, mit Links, nicht mit der SPD-Führung, nicht einfach. Als Rahmen reichen einige dramatische Wochen. Hinzu kommt ein immenses Wissen über die Ereignisse. Alles entscheidend sind die analytischen und synthetischen, die intellektuellen und künstlerischen Fähigkeiten Döblins. Vor allem eine tief erfahrene und gelebte Sicht auf das Dasein.

Kein Dogma, keine Doktrin, nichts, was an schale Behauptungen, hölzerne Regeln, leere Pamphlete oder literarische Streitigkeiten erinnern könnte. Döblins Kunst definiert Größeres, über den Augenblick, über das Ereignis einerseits weit hinausreichend, in den Augenblick, in das Ereignis andererseits tief hineinreichend: Realität als Wirklichkeiten zu verstehen, Leben als Weltzeiterfahrung. Einerseits wissen, was Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wollten, wissen, wie der SPD-Ebert mit der Obersten Heeresleitung paktierte. Andererseits erkennen, dass, beließe man es nur dabei, bei den Meistern der Zukunft und den Fallenstellern der Gegenwart, der Krieg nicht verstanden würde, in dessen Schatten weiter gelebt wird. Es müsste die Zeit nach dem Krieg doch wie eingefroren stillstehen, damit erkannt werde, was in der Ungeheuerlichkeit der Schlachten mit den Menschen angerichtet wurde.

Döblin war mit seinem Roman "Berlin Alexanderplatz" in den dreißiger Jahren berühmt geworden. Im Jahr 1940 flüchtete der jüdische Schriftsteller und Arzt über Spanien in die Vereinigten Staaten. Dort konvertierte er zum Katholizismus. Der erste Teil der Novembertrilogie heißt "Bürger und Soldaten 1918" und erschien 1939 im Querido-Verlag, der letzte Teil "Karl und Rosa" und wurde 1950 veröffentlicht. Das war kein Erfolg.

Das Romangeschehen reicht vom Aufstand der Matrosen in Kiel Ende 1918 bis zur Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Berlin Anfang 1919. Erzählt wird in einem schnellen Wechsel der Szenen. Man muss überall zugleich sein. Zahlreiche historisch verbürgte Personen treten auf, darunter Ebert, Scheidemann und Noske, der Bluthund von der SPD. Aber auch ausgedachte Figuren, in denen sich Symptomatisches, Grundlegendes sammelt und formt wie Sand in Muscheln zu Perlen: der kriegsversehrte Lehrer für Klassische Philologie Friedrich Becker, der zum Christentum findet; sein Lazarettkamerad Maus, der zum Freikorps stößt; der Dichter Erwin Stauffer, der in seinem kleinen privaten Schicksal wie im Liegestuhl sitzt. Aus den gleißend hellen Sphären der Sehnsüchte schwirren herbei der Mystiker Johannes Tauler und Satan.

Die kunstvolle Mischung verschiedener Welten, die weit über das Eigenheim Ich, Es, Über-Ich hinausreichen, hebt die Revolution aus ihren theoretischen, die Politik aus ihren pragmatischen und die Möglichkeit eines fest gefügten, auf das Vergessen des Krieges gegründeten Daseins aus ihren existentiellen Angeln. Das Leben nach dem Krieg muss radikal anders gedacht und gefühlt werden. Wahn und Wirklichkeit, Wollen und Verlangen, Denken und Wünschen liegen ineinandergefaltet wie die Hände beim Beten. Wer sie zum parteiischen Handschlag trennt, teilt, was ein Ganzes ist. Das gilt auch für Historiker. Der einhändige Mensch wird zum ausführenden Organ auf dem Feld der Realität. Dort agieren die amputierten Machtmenschen, Leute wie Ebert & Co., die in Döblins Darstellung die deutsche Revolution erstickt haben. Dort rennt der Kommunist Radek herum, überall Lenin sehend. Dort schießt der SPD-Noske den Aufstand nieder.

Wie ein frisches weißes Leichentuch breitet sich über den toten Lebenden und den lebendigen Toten, über den zerstörten Hoffnungen und den hoffnungsvollen Zerstörungen eine Weltsicht aus, die Altes und Neues verbindet, Adaptionen der Relativitätstheorie mit einem leicht buddhistisch eingefärbten christlichen Erlösungsglauben und dem Wirklichkeitssinn eines Berliner Arztes, der kein Schamane war. Döblins "November 1918" ist die letzte deutsche Geschichtsstunde. Man sollte sie nicht schwänzen.

Keinem Historiker ist gelungen, was diesem Roman gelungen ist. Sogar Sebastian Haffner gelang das mit seinem hinreißenden Buch über die deutsche Revolution nicht, in dem einer der entscheidenden Protagonisten der Novemberereignisse rasch in das schlechteste Licht gerät: die SPD unter Ebert, die Verräter der deutschen Revolution. Das Buch ist der engagierte Versuch, die Ereignisse mit einer Hand zu fassen, die maßgeblichen politischen Motive und Handlungen zu analysieren, deren fatale Folgen bis zu Hitler reichten. Da schrieb sich ein Journalist in die Vorfälle hinein wie in das aktuelle Tagesgeschehen, das er mit seinen Kommentaren nicht nur begleiten, sondern am liebsten beeinflussen wollte. Ein Kerl muss eine Meinung haben, das hat Döblin einmal geschrieben. Haffner war ein Kerl. Wirkte die Vergangenheit, auch und gerade der SPD, nicht bis in die Gegenwart? Haffner sah Menschen, die politische Entscheidungen fällten. Er zog sie zur Verantwortung, vor allen den dicken Ebert. Liebknecht nicht und Luxemburg auch nicht, denn die spielten seiner Ansicht nach keine wichtige Rolle. Der Leser ist empört - empört über die SPD. Das ist die Empörung des Zeitunglesers, der Reflex des Zeitgenossen. Damit geht man zur Wahl, aber nicht in die Geschichte. Wer in die Geschichte gehen will, der muss sich in Döblins Novemberroman verheddern - verheddern wie in einem Mantel, den man sich schnell überzieht und in dessen Ärmeln man sich mit einem Mal nicht zurechtfindet: Man gibt eine etwas fremdartig anmutende Figur ab, schutzlos, die Arme nach hinten gebogen, hilflos und lächerlich, den Blicken der anderen preisgegeben und in peinlicher Entscheidungsnot steckend: lächelnd wieder heraus oder ernsthaft mit Gespür weiter hinein, bis er endlich sitzt, der Mantel dieser Geschichte.

EBERHARD RATHGEB

Alfred Döblin: "November 1918". S. Fischer 2008. Vier Bände, ca. 2000 Seiten. Einzeln zwischen 17,90 und 19,90 Euro

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