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"Ich lebe in Deutschland / aber viele Leute sagen, ich sehe jünger aus."
Eine neue Generation wird gegründet. - Für die Lebendigkeit der jüngeren und jüngsten deutschsprachigen Lyrik bedarf es keines Beweises. Zeit hingegen ist es für eine Bestandsaufnahme, für eine umfassende Sichtung der dichterischen Werke, die oft nur verstreut zu entdecken sind. Zum ersten Mal in solcher Vollständigkeit wird eine Generation von Lyrikerinnen und Lyrikern vorgestellt, deren Geburtsjahr nicht vor 1965 liegt - und 74 Mal finden 4 Gedichte zusammen, die jeweils als repräsentativ für einen Stil gelten…mehr

Produktbeschreibung
"Ich lebe in Deutschland / aber viele Leute sagen, ich sehe jünger aus."

Eine neue Generation wird gegründet. - Für die Lebendigkeit der jüngeren und jüngsten deutschsprachigen Lyrik bedarf es keines Beweises. Zeit hingegen ist es für eine Bestandsaufnahme, für eine umfassende Sichtung der dichterischen Werke, die oft nur verstreut zu entdecken sind. Zum ersten Mal in solcher Vollständigkeit wird eine Generation von Lyrikerinnen und Lyrikern vorgestellt, deren Geburtsjahr nicht vor 1965 liegt - und 74 Mal finden 4 Gedichte zusammen, die jeweils als repräsentativ für einen Stil gelten können. Lyrik von Jetzt: Hervorragende und aufregende Gedichte, bekannte Namen und die besten unter den noch kaum bekannten. Lyrik von Jetzt: Eine neue Generation organisiert sich ihre Öffentlichkeit. Wie vielfältig die gegenwärtige Lyrikszene ist und aus wie vielen Traditionen sie sich speist, das ist hier zu entdecken. Die jungen Lyriker Björn Kuhligk und Jan Wagner sind die Herausgeber und haben ihre Sammlung nach Geruch, Farbe und Geräusch komponiert, das Konzertstück, das daraus entstand, heißt: Lyrik von Jetzt.
Für die Lebendigkeit der jüngeren und jüngsten deutschsprachigen Lyrik bedarf es keines Beweises.
Lyrik von Jetzt erschien vor drei Jahren als eine Bestandsaufnahme, als eine umfassende Sichtung der dichterischen Werke aus der jüngsten Gegenwart.
Zum ersten Mal in solcher Vollständigkeit wurde eine Generation von Lyrikerinnen und Lyrikern vorgestellt, deren Geburtsjahr nicht vor 1965 liegt und 74 Mal fanden 4 Gedichte zusammen, die jeweils als repräsentativ für einen Stil unserer Zeit gelten können.
Lyrik von Jetzt hat nichts von seiner Faszination verloren, aus weniger bekannten Namen sind zwischenzeitlich anerkannte Gegenwartsdichter geworden.
Lyrik von Jetzt erscheint nun als preiswerte Sonderausgabe.
Autorenporträt
Björn Kuhligk, geboren 1975 in Berlin, arbeitet als Buchhändler und freier Autor. Seine Arbeiten wurden mit zahlreichen Förder- und Literaturpreisen ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.07.2003

Lyrik und Geselligkeit
Jetzt, wie es wirklich war: Eine neue Anthologie junger Dichter

Dieser Sommer wird ein Gedicht. Wer in diesen schwülen Tagen die S-Bahn benutzt, der kann es schwerlich übersehen. Die Literaturhäuser bringen wieder landesweit Texte zeitgenössischer Lyriker auf Litfaßsäulen und Plakatwände; zwischen Wetterbericht und Brautwerbung lassen die sogenannten Infoscreens auf Bahnsteigen für Sekunden ein Gedicht aufscheinen, als wollten sie vor allem seinen epiphanischen Charakter demonstrieren. Verweile doch, du bist so schwer lesbar, möchte man noch rufen, da ist es schon Vergangenheit, ganz wie die flüchtige Schönheit in Baudelaires "À une passante". Zum Lesen reicht die Zeit nicht.

Von dieser Allgegenwart, ja Alltäglichkeit der Poesie lasse man sich nicht täuschen. Zwar schmücken Lyriker jedes Literaturfestival, sind Lesungen gut besucht, gibt es ein flächendeckendes Förderpreis- und Stipendienwesen, auch und gerade für junge Poeten. Zudem hat die Popliteratur versucht, die Grenze zwischen Songtext und Gedicht, lyrics und Lyrik einzureißen: Raus aus den geschlossenen Schubladen, rein in die offenen Mikrophone, lautete die Devise, unter der Gedichte massenhaft unters Volk kommen sollten.

Doch diese Scheinblüte ist vorbei. Die Lage der Lyrik ist wie immer: Sie verkauft sich schlecht und wird nicht gelesen. Die Literaturkritik zwar schenkt ihr Beachtung; der Konsument kehrt ihr den Rücken. Der letzte Lyriker, der sich in der literarischen Öffentlichkeit durchgesetzt hat, war Durs Grünbein, vielleicht noch Thomas Kling und der als Erzähler bekanntere Marcel Beyer. In dieser Lage ist es ohne Zweifel wichtig, wenn eine neue Anthologie einen umfassenden Überblick über die jüngere Lyrikergeneration geben will. Ihre Herausgeber Björn Kuhligk und Jan Wagner, der eine Jahrgang 1975, der andere 1971, sind beide selbst Lyriker und intime Kenner einer schwer zu überschauenden Szene, in der viele Talente nicht mit selbständigen Veröffentlichungen hervorgetreten sind.

Beste Voraussetzungen eigentlich, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Jeder Autor ist hier mit jeweils vier Texten vertreten. Die Altersgrenze wurde auf den Jahrgang 1965 festgelegt; recht willkürlich, wenn man bedenkt, daß mancher erst mit Mitte Dreißig debütiert und so auch mit Vierzig noch ein neues Gesicht (und eine neue Stimme) sein mag. Die scharfe Grenzziehung verwundert noch mehr, wenn man sich das Ergebnis ansieht: Vierundsiebzig Dichter sind insgesamt in dieser Sammlung vertreten. Vierundsiebzig Dichter? Und diese mit ganz wenigen (noch jüngeren) Ausnahmen zwischen '65 und '75 geboren - sollte die Generation Golf, sollten die langweiligen achtziger Jahre gegen ihren Ruf in Wahrheit die reinste Talentschmiede der Poesie gewesen sein? Eine ungeahnte Dichterdichte als Überraschungserfolg der sozialdemokratischen Bildungsreform? Wohl kaum. Die Herausgeber bekennen sich zum Prinzip der "dokumentarischen Anthologie", das Gerhard Falkner in seinem Vorwort wie folgt erklärt: "Was sich gezeigt hat, besitzt per se den Wert, in Betracht gezogen zu werden." Mit anderen Worten: Wer allein ist, ist noch im Geheimnis, wer drin ist, ist drin. Statt des Willens zur kritischen Sichtung waltet hier das positivistische Ethos des neutralen Sammlers.

So sind in dieser Sammlung die in anderen Genres bereits durchgesetzten Autoren wie Albert Ostermaier, Tanja Dückers oder eben Marcel Beyer ebenso vertreten wie die Poetry-Slammer Stan Lafleur, Kersten Flenter, Crauss oder Bastian Böttcher. Wegen dieser Autoren muß man nicht zur Anthologie greifen. Die einen sind längst bei großen Verlagen greifbar; die kalauernden, alltagssprachspielerischen Texte der anderen brauchen die stickige Lesebühnenluft zum Atmen und entblößen auf dem Papier ihre inhaltliche Leere: "Wir verbringen schon lange / Zeit / Miteinander reden / Sitzen in Cafés / Oder vögeln" (Kersten Flenter). Oder schreiben: "Wir sind ausgezogen, um neue Gebiete zu erkunden. / Inne Gegend, die wir beide noch nicht kenn. Und haben einen / reizvollen Fleck gefunden, zum Verlaufen wie Dein / Lidstrich im Regen" (Bastian Böttcher). Dazu ließe sich leicht ein MTV-taugliches Video denken. Rolf Dieter Brinkmann lebt, er tanzt gar im Club wie ein unerkannter Auferstandener mitten unter uns, wie es ein Text von Crauss will. Doch bloße imitatio christi bürgt nicht für Literatur.

Der Hang zur Gemeindebildung, zur Kristallisation in Szenen ist bei Lyrikern, den vermeintlichen Einzelgängern, paradoxerweise besonders ausgeprägt: Gemeinsam sind sie stark. Weil - trotz einiger verdienstvoller Ausnahmen wie Dumont, Suhrkamp oder Berlin Verlag - die Fleischtöpfe der großen Publikumsverlage für Lyriker zu hoch hängen, sind diese mehr noch als Erzähler auf das Netzwerk von Literaturzeitschriften, Stipendien, Klein- und Kleinstpreisen angewiesen. Mit bürokratischer Genauigkeit werden in den Autorenbiographien dieses Bandes selbst bloße Wettbewerbsteilnahmen und Trostpreise vermerkt, als ginge es um die Bewerbung zum Lyrikdezernenten von Idar-Oberstein. Die penibel dokumentierte Literaturbetriebszugehörigkeit muß das öffentlich nicht vorhandene Werk ersetzen.

Dennoch: Der Wert dieser Anthologie liegt darin, auf Autoren aufmerksam zu machen, die mit großem Formbewußtsein und sprachlichem Ausnahmetalent in die Fußstapfen jener älteren Generation treten könnten, die unser Bild von Gegenwartslyrik immer noch bestimmt: Hans Magnus Enzensberger, Volker Braun, Sarah Kirsch, Friederike Mayröcker und Peter Rühmkorf. Und es gibt eine Reihe jüngerer Dichter, die das Zeug, den Stoff und die Form dazu haben. Beginnen wir mit den Ausläufern der einstigen Szene am Prenzlauer Berg, von denen es praktisch keinem bisher gelungen ist, im Kielwasser von Durs Grünbein eine spezifisch ostdeutsche Stimme hörbar zu machen. Johannes Jansen etwa, der in "Bilanz des Sommers" die Erfahrung einer jähen Unlesbarkeit der Welt formuliert: "Nichts war zu deuten. / Ein giftgrüner Dampfer gab Zeichen / von fern aus dem Regen / und die notierten Worte entschuldigten sich / für das Unverständnis der anderen." Die Texte der in Leipzig lebenden Thomas Kunst und Jörg Schieke, beide Jahrgang 1965, sind ebenfalls herausragend, etwa die surrealistisch-verrätselte "Nizeser Apathie" von Kunst.

Während hier an Avantgarde-Traditionen angeknüpft wird, die die DDR-Literatur ohnehin bewußter fortgeführt hat als die oft zwischen formloser Innerlichkeit und virtuosem Blendwerk pendelnde westdeutsche Dichtung, ist nun bei vielen Traditionsbewußtsein zu entdecken. Nicolai Kobus etwa variiert souverän Rilkes "Panther" oder überblendet Nietzsches "Ecce homo" mit den Songtexten von Jimi Hendrix zu einer bewegenden Hommage. Reim, Metrum und klassische Formen wie das Sonett sind ganz unironisch wieder verfügbar, etwa auch bei dem aus Rußland stammenden Alexander Nitzberg, der sich ausdrücklich auf Rühmkorf bezieht. Ob sie sich vom Ruch der Epigonalität lösen können, ist noch nicht ausgemacht, doch beeindruckt die Beherrschung des Repertoires. Andere haben den eigenen Ton schon gefunden: Marion Poschmann, die das atmosphärische Knistern zwischen Körpern und Seelen mit feinsten Wortantennen aufzeichnet. Nico Bleutge, ein weiterer poeta doctus, dessen technisch-kühler Blick die Welt zerrastert und zergliedert und dann zu hochauflösendem Sprachkonzentrat wieder zusammennäht. Hendrik Rost, der traditionelle Motive der Natur- und Landschaftslyrik zu einer Reflexion auf die mediale Prägung unserer Wahrnehmung und Erinnerung verwendet. Oder die an Kling anknüpfende Sabine Scho. Oder Raphael Urweider. Oder Uwe Tellkamp.

Zu entdecken gibt es vieles hier; wenn auch wichtige Stimmen fehlen - etwa die Wienerin Kirstin Breitenfellner oder der auch als Lyriker glänzende Henning Ahrens, der die Altersgrenze knapp verfehlt. Doch der Geburtsfehler dieser Anthologie ist der Verzicht auf eine ästhetische Wertung, der mangelnde Mut zu einer kritischen Auswahl. In der vorliegenden Form brauchte es eigentlich gar keine Herausgeber; deren Job hätte auch eine Suchmaschine erledigen können. Kurzum: Das Buch ist zu dick; die Hälfte der Autoren hätte gereicht. So wird Herausragendes nivelliert, auf über dreihundert Gedichte muß sich der Leser seinen eigenen Reim machen. Wer vieles gibt, wird manchem etwas geben, sicher. Doch Auswahl ist nicht Bevormundung und Zensur, sondern Dienst am Leser, der kein Experte sein kann. Und zu dem muß sie endlich hin, die wichtige, virtuose, aufregende neue Lyrik. Immerhin: Ein Anfang ist gemacht.

"Lyrik von Jetzt". 74 Stimmen mit einem Vorwort von Gerhard Falkner. Herausgegeben von Björn Kuhligk und Jan Wagner. Dumont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2003. 432 S., br., 14,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.12.2003

Die verschwitzten Verse der jungen Milden
Ordentliche Beete, geharkte Wege, gedämpfte Intimität: „Lyrik von Jetzt” zeigt, wie gut der neueste Dichtergarten bestellt ist
Selbst bei günstigen Generationslagerungen hat, wie die Literaturgeschichte unbarmherzig klarmacht, kaum mehr als ein Dutzend Dichternamen das Zeug, zur beständigen Präsenz. Und nun das: 74 neue Stimmen! Die Herausgeber der handlichen 400-Seiten-Anthologie nehmen für sich in Anspruch, einen kompletten Generationsauftritt vorgelegt zu haben. Zwar stolpert man schon beim ersten Blättern über lauter alte Bekannte, doch relativiert sich schnell die Annahme, diese fungierten hier als Köder, um eine Reihe lyrischer local heroes mit präsentieren zu können. Jedem der Aufgenommenen wurde nämlich ein gleich großer Raum von jeweils vier Gedichten eingeräumt, wobei die Entscheidungshoheit darüber, welche Texte Aufnahme fanden, ganz allein den Herausgebern oblag.
Diese Entscheidung ist als eine ebenso gewagte wie überlegte zu würdigen. Gewagt deswegen, weil die Aufmerksamkeitsdifferenzierungen seitens des Literaturbetriebes komplett ignoriert werden, überlegt, weil sie damit die Chance von Neubewertungen durch Kritik und Wissenschaft nicht nur einzelner Autoren, sondern eines Generationseinsatzes eröffnen.
Das marktkalkülbehauchte „Jetzt” der „Jungen” 2003 fällt in eine eher somnambul ermüdete Atmosphäre diffuser Ängste und Überdrüssigkeiten. Doch waren nicht gerade die gespürten Erschöpfungszustände gesellschaftlicher Verfasstheiten stets noch die Brache, in die die Unkrautsamen wuchernder Empörungen gesät wurden? Epiphanien der Plötzlichkeit, die Beschwörer der ästhetischen Hoch-Moderne wie Karl-Heinz Bohrer emphatisch herbeiwünschen?
Fehlanzeige. Der neueste Dichtergarten ist gar wohl bestellt, die Beete ordentlich angelegt und die Wege geharkt. Und wenn denn doch einer zeigen möchte, was eine Harke ist, klingt das so: Ich lebe in Deutschland aber / Viele sagen ich sehe jünger aus / Mit der Ruhe einer Vogelscheuche / Stehe ich hier und seh meinem Leben / Von außen zu (Karsten Flenter, Ich lebe in Deutschland). Dass sich oft der Eindruck narzisstischer Kleinfixierung auf naheliegende Erlebnisgegenstände bei hochreflektierter Affektsteuerung aufdrängt, verfestigt den durch Ausnahmen wie stets zu bestätigenden Anschein, es hier mit einer Generation der „Jungen Milden” zu tun zu haben. Sie beherrschen passabel das Vershandwerk und die geläufigen Tricks der Branche, etwa aphorismusnahe Sequenzen zu generieren oder Gesten ironischer understatements vorzuführen.
Ich gestehe, dass mir die Semiprofessionalität, mit der die „nomenklaturischen Updates” (so Bevorworter Gerhard Falkner) auf die Geläufigkeiten der Moderne-Tradition betrieben werden, ein wenig unheimlich anmutet, weil sie den Stempel der kalkulierten Umtriebigkeit in den sehr kleinen Lyrikkreisläufen hierzulande unübersehbar in die Gedichtproduktion selbst einschleusen.
Wie auf fotokopiertem Schnee
Die neuen Lyrikerinnen und Lyriker haben in der Regel Geisteswissenschaftliches studiert, leben überwiegend in größeren Städten, sind dank Internet vernetzt und lesen vorzugsweise vor einer wachsenden Fangemeinde in Clubs und hier vor allem in Berlin. Man sieht es vielen Texten an, dass sie für die Augenblicksaufmerksamkeit einer Zuhörergemeinde geschrieben worden sind. Während die Rap-inspirierten Texte Bastian Böttchers in der schriftlichen Fixierung merkbar an Glanz verlieren, versuchen viele gleichsam die Waage zu halten, und das hat seinen Preis: Die für die Hörerschaft notwendige Eingängigkeit verblasst auf dem Papier oft genug zur spannungsarmen Durchsichtigkeit, die sich vieler Möglichkeiten zur Raffinesse des Gedichtes entledigt hat. Nur wenige Stimmen stechen aus der Gruppendynamik intimer Gedämpftheit heraus. Doch immerhin erlauben die Texte ziemlich interessante Einblicke in die generelle kulturelle Situation, in der sich die jungen Dichterinnen und Dichter bewegen. Symptomatisch das Ende eines „Beat-Gedichts” von Rainer Stolz: .../ Da sah ich die Kunst: ein Turm aus Schrott. / Drumherum lungerten Warengruppen. / Ich sah wie Kontrakte sich schlossen. / Ich ging gespenstisch um in vertrauten Ketten. / Wieder trat die Utopie hart ein. / Happyendverbraucher sah ich / und ging rasch zum Bäcker.
Der Kurzschluss von Zitatresten ideologischer Provenienz mit Alltagsverweisen und Wortneubildungen – „Happyendverbraucher” – generiert eine Lässigkeitsattitüde, die jedoch kaum über die Beschreibung eines Dilemmas hinwegzutäuschen vermag: Noch jede rebellische Geste, noch jedes Fünkchen Utopie wird in der fast vollständigen Umklammerung der Warengesellschaft scheinbar in konsumierbaren Pop verwandelt. daß die Zukunft uns brauchen würde / war ein landesübergreifender Witz, heißt es lapidar in einem Gedicht von Björn Kuhligk. Um so schwieriger erscheint dann die Sache mit der Ich-Bildung, denn: in den dunklen boutiquen der ichbildung / finden wir kinder, gefahren und penisse vor / sag vorhang, sag dingdong, sag deutung, entfährt es Monica Rinck beim „shopping mit melanie klein”. Weiter findet sich viel Verschwitztes in den zahlreichen Selbstfindungstexten – „Ich stehe am Fenster und schwitze mein Ich aus” (Mathias Göritz) –, wie auch diverse Selbstkasteiungen alles andere als umwälzende Erkenntnisse bergen: und das geschöpf, das ich ist / und nicht ich, wälzt sich und rennt gegen die festung (Daniela Seel). Die Kehrseiten von Ich-Diffusion und Handlungsohnmacht, auch das wenig überraschend, zeigen sich in papierenen Gewaltphantasien: Ein neues Leben mit Wochenend-/ Ticketts zu den Ceranfeldern / Auf denen die Augenpaare schmoren (Tom Schulz). Wenn dann doch die Fühler nach Welt ausgestreckt werden, erweist sich diese fast durchweg als Mediensimulation und als Geschehen, in dem Realität und Täuschung ununterscheidbar erscheinen: ein paar tage lang hieß die animateurin tina, dann / blieb sie plötzlich weg und alle ahnten etwas. im hotelzimmer / gab es kabelfernsehen, wir sahen die tagesschau, die terroristen waren wirklich gut gemacht. (Daniel Falb). Kein Wunder, dass Medien-und Körperbezüge oft ineinander fallen: der Körper, pumpend und träumend, / bewegt sich nach Fernbedienung / wir gehen auf Sendung, die Glieder / berühren sich.
Fast schon ein Fazit der Anthologie: Imitate und Tarnungen, halber Aufenthalt / wie auf fotokopiertem Schnee (Marion Poschmann). Die notwendig ableitbare Verunsicherung, sich mit „Welt” außerhalb der Sehweite des sprechenden Ich ins Vernehmen zu setzen, ist überdeutlich. Wo es ausnahmsweise versucht wir, so bei Tom Schulz, Ron Winkler, Sabine Scho oder Thilo Schmid, stoßen sich die Gedichte an mainstream-kompatiblen Geschichtsbildern und machen neugierig. Besänftigt werde ich auch durch die Gedichte unübersehbarer Talente, die den Mut haben zu Bilderwucht und einem „Schadenzauber” (Jörg Schieke), der das Magische taktil hält und den Leser anfasst: Thomas Kunst, Christian Lehnert, Kersten Flenter, Uwe Tellkamp, Monika Rinck sind hier hervorzuheben, gleichfalls die kunstvoll-giftigen Gedichte von Johannes Jansen, auch wenn sie schon fünfzehn Jahre auf dem Buckel haben und eigentlich nicht in eine „Jetzt”-Anthologie gehören.
PETER GEIST
BJÖRN KUHLIGK, JAN WAGNER (HRSG): Lyrik von Jetzt. 74 Stimmen mit einem Vorwort von Gerhard Falkner. DuMont Verlag, Köln 2003. 422 Seiten, 14,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Zwar hätte nach Ansicht von Rezensent Richard Kämmerlings, der das Buch zu dick findet, die Hälfte der Autoren gereicht. Dennoch liegt für ihn der Wert dieser Anthologie darin, auf Autoren aufmerksam zu machen, die seiner Ansicht nach "mit großem Formbewusstsein und sprachlichem Ausnahmetalent in die Fußstapfen jener älteren Generation treten könnten", die unser Bild von Gegenwartslyrik noch immer bestimmt, also Sarah Kirsch, Hans Magnus Enzensberger, Volker Braun oder Friedericke Mayröcker. Andererseits fehlen Kämmerlings in der Auswahl auch wichtige Stimmen der Gegenwartslyrik, wie Kirstin Breitenfellner oder Hennig Ahrens, an dessen Fall für ihn die Fragwürdigkeit der von den Herausgebern festgesetzten Altersgrenze 1965 besonders deutlich wird. Als herausragend werden Texte von Johannes Jansen, Thomas Kunst, Susanne Scho oder Jörg Schielke gelobt. Etwas lästerlich wird die bürokratische Genauigkeit beäugt, mit der die Herausgeber in den Autorenbiografien die Literaturbetriebszugehörigkeit der Dichter dokumentiert haben. Auch der Verzicht auf ästhetische Wertungen wird kritisiert. Den Job der Herausgeber hätte so nämlich auch eine Suchmaschine übernehmen können, meint unser Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH"
" Lyrik von Jetzt zeigt, wie gut der neueste Dichtergarten bestellt ist." Süddeutsche Zeitung