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Die Geschichte eines jungen englischen Schiffsoffiziers, eines sensiblen und phantasiebegabten Menschen, der von Jugend an im Traum lebt, für eine bestimmte Aufgabe bestimmt zu sein, und im Augenblick der Bewährung versagt. Lord Jim träumt vom Heldentum. Seine Geschichte ist jedoch die einer ewigen Flucht, und beinahe scheint es, als sei die Welt »nicht groß genug für ihn«.

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Produktbeschreibung
Die Geschichte eines jungen englischen Schiffsoffiziers, eines sensiblen und phantasiebegabten Menschen, der von Jugend an im Traum lebt, für eine bestimmte Aufgabe bestimmt zu sein, und im Augenblick der Bewährung versagt. Lord Jim träumt vom Heldentum. Seine Geschichte ist jedoch die einer ewigen Flucht, und beinahe scheint es, als sei die Welt »nicht groß genug für ihn«.
Autorenporträt
Joseph Conrad, 1857 in Berditschew (Ukraine) geboren, war Sohn polnischer Landadliger. Er fuhr schon mit siebzehn Jahren für französische und englische Handelsgesellschaften zur See und erwarb zwölf Jahre später das Kapitänspatent. Für seine Romane wählte er die englische Sprache, die er in allen Finessen erlernt hatte, die er allerdings - zum Erstaunen und zur Erheiterung seiner Verehrer - mit fürchterlichem Akzent gesprochen haben soll. Conrad starb 1924 in Bishopsbourne (England).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.1998

Das Grauen als Wille und Vorstellung
Manchmal reicht ein Schmetterlingsschatten: Joseph Conrads "Lord Jim" in neuer Übersetzung / Von Eberhard Rathgeb

Kurtz hieß das moralische Tief, das sich am Anfang dieses Jahrhunderts über die europäische Zivilisation schob. Beobachter der seelischen Großwetterlage sahen später darin eine Voraussage auf die Abgründe des zwanzigsten Jahrhunderts. Joseph Conrad hatte mit seiner Erzählung "Herz der Finsternis" (1899) das Grauen als Kehrseite zivilisatorischen Fortschritts beschworen; die Zukunft wollte er nicht vorhersagen. Daß sich seine Figur Kurtz als Prototyp der rasenden Unmenschlichkeit emanzipierte und den Regisseur Coppola zu seinem Helden in "Apocalypse Now" inspirierte, verdankt sie der Intensität ihrer künstlerischen Darbietung. Archetypisch geronnen, konnte Conrads Erzählung auch Deutern dienen, die dem mythischen Potential in einer geschichtsversessenen Gegenwart zu seinem Recht wieder verhelfen wollten. Kurtz wies nach vorne ins Schlimmste hinein und sprach mit mächtiger, einnehmender Stimme in vorderster Reihe einer Dämonenfront.

Das Unheil, das Leopold II., König von Belgien, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts über die Menschen des Kongo brachte, erschütterte Joseph Conrad, der sich mit eigenen Augen vom Entsetzlichen überzeugen mußte, in seinen Grundfesten. "Herz der Finsternis" kann als der Versuch gelesen werden, den Fluch der Wirklichkeit zu bannen. Das Heer der Toten und Verstümmelten, das der westliche Fortschritt vor sich hertrieb, war so real, daß es einer Figur wie Kurtz bedurfte, um eine Grenze zwischen dem Unsäglichen und dem Verträglichen zu ziehen und den Schaden, den die Seele im Herzen der Finsternis nehmen konnte, ja mußte, überhaupt erzählbar zu machen. Joseph Conrad hat das Unvorstellbare, das Wirklichkeit war, in die Vorstellung gezwungen, die sich um den Menschen wie ein Schutzschild legt, ihn von anderen abkapselt und zum Ungeheuer machen kann. Kurtz ist das Grauen als Wille und Vorstellung, und er bleibt damit innerhalb menschlicher, psychologischer Dimensionen.

Der Roman "Lord Jim" wurde im Wechsel der Jahre 1899 und 1900 abgeschlossen. Im Nachwort der nun vorliegenden Neuübersetzung durch Klaus Hoffer wird ein Brief Jospeh Conrads zitiert, in dem der Schriftsteller einräumt, "Material aus dem Fundus meines eigenen Lebens" heranzuziehen, "um es zu künstlerischen Zwecken neu zu arrangieren, zusammenzusetzen und einzufärben". Er meine aber, daß daran nichts "verwerflich" wäre. "Immerhin bin ich ein Erzähler, und nicht das, was tatsächlich passiert ist, sondern die Art der Präsentation macht den literarischen, ja sogar den moralischen Wert meiner Arbeit aus."

Der Zusatz ist wichtig, der "moralische Wert" und die Beziehung, die zwischen diesem und dem literarischen hergestellt wird. Conrad war ein skrupulöser Schriftsteller, der sich nicht auf blinden Anhieb hin alle Worte zutraute, sondern vielfach verbesserte, änderte und dem Eindruck auf die Vorstellung seine ganze erzählerische Ausdruckskraft widmete. Die Imagination zu erreichen, der Wirklichkeit ihr imaginatives Potential zu entreißen und es als moralische Anschauung, also erzählt, zurückzugeben, machte ihm die Arbeit an seinen Geschichten so mühevoll. Rückblickend ist das Band der Erzählungen scheinbar mühelos geflochten, und auch in seinem Roman "Lord Jim" schlägt die Kunstfertigkeit in eine Anschaulichkeit um, die den Eindruck weckt, man treibe auf dem Fluß der Geschichte mühelos dahin.

Zu Hilfe kommt Conrad dabei, wie in "Herz der Finsternis", der Erzähler Marlowe, der in einer Runde von Zuhörern das Wort ergreift und mit dem Erzählen beginnt, gleichsam anstelle des Autors, der diesen Kreis der Erzählung arrangiert und der Mündlichkeit des Vortrags als dem wahren, weil persönlichen Element der Geschichten Raum gibt. Zugleich wird in der Figur des Erzählers anschaulich, welche Wirkung die Geschichte entfalten kann und daß die Geschichten sich der Vorstellungskraft des Erzählers verdanken, der wiedergibt, was einst geschah, aber so, wie es sich ihm einprägte, wie er es sah. Jede Erzählung ist eine Vorstellung, und jede Vorstellung ist eine Welt, und jede Welt, die aus der Vorstellung entspringt, ist Ausdruck eines Menschen, eines einzigen.

Die Vorstellung als Prinzip der Individuation ist ein Gedanke Schopenhauers, und Joseph Conrad, der den deutschen Philosophen las, gewann daraus ein poetisches Verfahren. Sein Roman "Lord Jim", den als sein ihm liebstes Buch zu nennen er nicht ärgerlich widersprechen würde, wie er im Vorwort bemerkt, ist ein zum Weltruhm hin gelungener Versuch, dieser poetischen Verfahrensweise ein moralisch höchst angemessenes Sujet an die Seite zu stellen.

"Lord Jim" erzählt von einem Romantiker auf See, einem Menschen, der eine Chance sucht, seine Größe zu beweisen, und kläglich scheitert, als er sich von einem leckgeschlagenen Schiff auf offenem Meer mit einem Rettungsboot, in dem schon der flüchtige Kapitän und andere Mannschaftsmitglieder sitzen, davonmacht, die schlafenden Passagiere ihrem Schicksal, das der sichere Tod scheint, überlassend. Das Schiff geht nicht unter, der Kapitän und die anderen Abtrünnigen, kaum an Land, machen sich aus dem Staub, und Jim wird vor Gericht gestellt. Er verliert alles, vor allem seine Ehre. Ihn treibt es darauf von einer niederen Arbeit zur anderen, doch die Geschichte der feigen Flucht vom Schiff verfolgt ihn erbarmungslos. Bis er sich schließlich, Jahre später, auf einen einsamen Handelsposten zurückzieht, inmitten verfeindeter Bevölkerungsgruppen, zwischen denen Frieden herzustellen ihm dank seiner Unerschrockenheit und Tatkraft gelingt. So steigt er auf zum Helden der Wildnis, fern der Heimat, in die er nicht mehr zurückkehren kann, da die Schande zwischen beiden eine Grenze gezogen hat. Hier lebt er vom Vertrauen der Menschen, die von seiner vergangenen Untat nichts wissen, ihn also auch nicht verstehen müssen. Im Dienst dieser erhebenden Pflichten wird er schließlich doch ein Opfer der anderen, fernen Welt der Weißen, als ein Pirat mit seiner Crew in das Gehege einbricht, mordet und den Bann des Vertrauens bricht, der Jim und die Eingeborenen zusammenhält. Jim stellt sich dem in seiner Enttäuschung aufgebrachten Volk und findet den Tod.

Conrad überläßt dem Erzähler Marlowe das Steuer, und Marlowe nutzt Gelegenheiten, vor Anker zu gehen, andere Geschichten einzuflechten, die alle auf dem Weg liegen, wobei jede auf ihre Weise gleich weit vom Ziel entfernt ist. Keiner, der sich in Sachen Jim zu Wort meldet, macht hinter dieser Geschichte einen Punkt. In jedermanns Vorstellung gewinnen Jims Fluch und Flucht eine Färbung, die immer nur eine Beziehung zu diesem Menschen in den Vordergrund hebt und nicht die endgültige Wahrheit über ihn behaupten kann.

Und doch gibt es eine Gemeinschaft von Menschen, die bestimmte Vorstellungen teilen, wie Ehre zum Beispiel, und der anzugehören bedeutet, sich diese Vorstellung zu eigen zu machen und zu erfüllen. Doch was Jim heraushebt und Marlowes Interesse weckt, das ist eine romantische Vorstellung des Selbst, die einen Menschen über das Meer tragen, ihm Flügel verleihen kann, doch eben auch der Möglichkeit Tür und Tor öffnet, bis diese Form des falschen Abenteuers ganz den Raum der Wirklichkeit eingenommen hat, über sie triumphiert.

Jim sei "einer von uns", behauptet Marlowe, und es ist diese konstitutionelle Nähe, die Jims Geschichte zu einer Probe aufs Exempel macht. Daß Conrad in der Konstruktion der romantischen Weltsicht, die ihre Wirkung noch ins zwanzigste Jahrhundert hinein zeitigte, herausragenden philosophischen Positionen des neunzehnten, also seines Jahrhunderts verhaftet ist, gerade dies macht ihn zu einem Schriftsteller der Moderne. Er weiß um die psychohistorischen Folgen dieser philosophischen Positionen. Und so kann man die Geschichte vom in die Möglichkeit verliebten Romantiker Jim auch als eine Antwort auf Kierkegaardsche Extreme lesen, deren Unvermittelbarkeiten in der Kategorie des Sprungs festgefroren sind, welche die ästhetischen, ethischen und religiösen Sphären im Denken des dänischen Philosophen, der auch ein Kritiker der romantischen Ironie war, trennt. Ein "Sprung" ins Rettungsboot ist es, der Jims Schicksal entscheidet, ihn aus der Gemeinschaft der Ehrwürdigen reißt, ihn zum Außenseiter macht; und ein "Sprung" ans andere Ufer ist es, mit dem später sein Aufstieg beginnt. Wenn es den "Sprung" gibt, dann gibt es kein Zurück, weil es keine Brücke, keine Vermittlung gibt.

Als Marlowe nicht mehr weiter weiß, ihm nichts mehr einfällt, wie er Jim, an dessen Schicksal er Anteil nimmt, helfen kann, wendet er sich an den wohlhabenden und angesehenen Kaufmann Stein, der in der Inselwelt seinen Unternehmungen nachgeht. Stein wohnt in einem großzügigen Haus und ist ein in Europa geachteter Entomologe, dessen Sammlung von Schmetterlingen ihm Ruhm eingetragen hat. Stein erzählt Marlowe die Geschichte, wie er eines seiner schönsten Exemplare fand, und zwar an dem Tag, als er von einer Gruppe Bewaffneter überfallen wurde. Es gelang ihm, sie zu töten oder in die Flucht zu schlagen. Einen Sterbenden im Blick - und es sei hier zitiert als ein Beispiel der unvergleichlichen Conradschen Doppelbödigkeit -, "sehe ich etwas wie einen Schatten über seine Stirn huschen. Es war der Schatten dieses Schmetterlings. Sehen Sie sich die Form des Flügels an. Diese Art fliegt hoch und hat einen kräftigen Flügelschlag. Ich hob meine Augen und sah ihn davonflattern. Ich denke: Ist das die Möglichkeit?" (In der älteren Übersetzung von Fritz Lorch heißt es anspielungsärmer: "Ist's möglich?") "Ich machte lange Reisen und litt große Entbehrungen; ich hatte im Schlaf davon geträumt, und da war er nun, zwischen meinen Fingern - und er gehört mir allein!" (Bei Lorch heißt es besitztümelnd ". . . - mein Eigentum".)

Und auf die Frage Steins, wie man leben solle, finden die Übersetzer entsprechend "eine Möglichkeit" (Hoffer) oder "einen Weg" (Lorch), übersetzt der eine: "Er ist ein Romantiker - ein Romantiker . . . Aber ist er das wirklich?" (Hoffer), und der andere: "Er ist romantisch - romantisch . . . Aber ist er es wirklich?" (Lorch) "Was ist es, das ihn durch innere Qual sich selber erkennen läßt? Was ist es, was ihn für Sie und mich - existieren läßt?", so Stein bei Hoffer; während es bei Lorch ganz unexistentialistisch heißt: "Was ist es, das ihn sich selbst durch inneren Schmerz erkennen läßt? Was ist es, das ihn für Sie und mich - existent macht?"

Es ist der Traum, der Schmetterling, dem man in seinem Leben nachjagt, die Möglichkeit, die man mit Händen greifen will, die Idee, der sich schon Kurtz unterwarf, sich selbst und die Welt, die Idee, die ihn heraushob, vorwärtstrieb und die ihn, weil er sie Wirklichkeit werden ließ, trennte von den Menschen, die diese große Macht nicht kennen, sondern nur die kleine Sehnsucht mit Hin- und Rückfahrtschein. Es ist die Möglichkeit als Lebensgefährtin, die Jim den Kopf oben halten läßt und ihn die Suche aufnehmen läßt nach einer Wirklichkeit, die ihm und ihr angemessen sein könnte; die ihn aus der Gemeinschaft derjenigen, die "mit etwas Praktischem" befaßt sind und den Boden nicht unter den Füßen verlieren, ausschließt und in die Ferne verbannt. Und mit seinem ganzen Pathos endet Conrad seinen Roman mit den Sätzen: "Stein ist in letzter Zeit stark gealtert. Er spürt es selbst und sagt oft, er rüste sich schon, das alles zu verlassen, rüste sich schon, wegzugehen . . . - und dabei weist seine Hand traurig auf die Schmetterlinge."

Mit dieser Geste war es nicht getan; das wußte auch Conrad, und so ließ er ein letztes Wort über Jim im Ungewissen sich auflösen, weil ein allerletztes, ein vernichtendes Wort über "einen von uns" und seinen Traum in diesem besonderen Fall so einfach nicht sei. In "Herz der Finsternis" hatte Conrad die Ungeheuerlichkeit, zu der Schmetterlinge mutieren können, beim Namen genannt. Es sei die Eroberung der Welt, so räsonnierte hier Marlowe, die darauf hinauslaufe, daß man sie denen fortnimmt, die eine andere Hautfarbe als wir haben, "nichts Erfreuliches". "Was mit ihr versöhnt, ist die Idee allein. Eine Idee steht fraglos hinter ihr; kein sentimentaler Anspruch , sondern eine Idee, und ein selbstloser Glaube an die Idee - etwas, das man aufrichten, vor dem man sich verneigen, dem man Opfer bringen kann . . ."

Daß mit dieser Idee eine "Einöde des Inneren" (so Matthias Roth, die Hauptfigur in Brigitte Kronauers Roman "Berittener Bogenschütze", in bezug auf Joseph Conrad) korrelieren kann, macht ihr Janusgesicht aus. Es ist diese "Einöde des Inneren", die bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hineinreicht. "Um seinen Vorstellungen von einem ,Idealisten' zu entsprechen, genügte es nicht, an eine ,Idee' zu glauben, nicht zu stehlen und keine Bestechungen anzunehmen, obwohl diese Qualifikationen unerläßlich waren. ,Idealist' war jemand, der für seine Idee lebte - daher konnte er keinen anderen Beruf haben - und der bereit war, seiner Idee alles und insbesondere alle zu opfern." Dies schrieb Hannah Arendt über jenen Angeklagten, in dessen intellektueller und psychischer Physiognomie sie die Züge der Banalität des Bösen erkannte, als sei er "einer von uns".

Joseph Conrad: "Lord Jim". Eine Geschichte. Roman. Aus dem Englischen übersetzt und mit Quellentexten, Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Klaus Hoffer. Haffmans Verlag, Zürich 1998. 560 S., geb., 44,- DM.

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.04.2023

Mutmaßung
über Jim
Die Möwen kreischen, die Schiffshörner blöken:
Martin Heindel inszeniert ein
akustisch opulentes Abenteuer zur See
VON FLORIAN WELLE
wischen Fantasie und Wirklichkeit klafft mitunter eine gewaltige Lücke. Ein junger, hochempfindsamer Engländer ist zur Ausbildung auf einem Schulschiff der Handelsmarine. Angeregt durch die Lektüre von Unterhaltungsromanen durchlebt er dabei die tollkühnsten Seeabenteuer. Im Geiste, unter Deck. Als es Jahre später jedoch wirklich ernst wird, versagt er. Als Erster Offizier der Patna, eines alten Dampfers mit Hunderten Pilgern an Bord, flüchtet sich Jim nach einer nächtlichen Kollision als Letzter der Mannschaft in ein Rettungsboot und überlässt die Menschen ihrem Schicksal. Es ist reines Glück, dass sie überleben.
Warum bloß ist er gesprungen, obwohl er doch als Einziger zunächst seiner Pflicht nachkommen und helfen wollte? Diese Frage steht im Zentrum des von Joseph Conrad um die Wende zum 20. Jahrhundert geschriebenen Romans „Lord Jim“. Auf rund 500 Seiten umkreist der Autor die Problematik, ohne sie jedoch zu beantworten. Jims Satz ins Rettungsboot bleibt geheimnisvolle Leerstelle, aus der das meisterhafte Werk seine Spannung bezieht. Am ehesten zu verstehen als Übersprunghandlung aus dem Augenblick heraus, halb bewusst, halb unbewusst – zur gleichen Zeit mit „Lord Jim“ erschien Sigmund Freuds „Die Traumdeutung“. An einer Stelle gesteht der junge Offizier: „Mir war, als ob ich in einen Brunnen gesprungen sei, in einen unendlich tiefen Schlund.“
Martin Heindel hat die im Malaiischen Archipel angesiedelte Geschichte um Schuld und Scham, verletzten Stolz und verlorene Ehre als vierteiliges Hörspiel inszeniert. Von Conrad ursprünglich als Short Story geplant, weitet sie sich immer mehr zu einer Erzählung über die Conditio humana an und für sich aus. Die im vergangenen Jahr entstandene Gemeinschaftsproduktion des Hessischen Rundfunks mit dem Hörverlag unternimmt den mutigen Versuch, die Komplexität der Vorlage in nur etwas mehr als vier Stunden einzufangen.
Das ist schon deshalb nahezu aussichtslos, weil Conrad seinen Jim, diesen Seemann von der traurigen Gestalt, nach Gerichtsverhandlung und dem Verlust des Offizierspatents immer weiter aus dem Gesichtskreis der Menschen fliehen lässt, bis er in der „unberührten Wildnis“ Patusans eine zweite Chance erhält. Der Patusan-Strang ist nicht weniger als ein Roman im Roman mit völlig neuen Figuren und Erzählfäden.
Hier kämpfen die Insulaner untereinander ebenso um Macht und Einfluss, wie sie sich gegen äußere Feinde zur Wehr setzen müssen. Mittendrin Jim, der als Friedensstifter das Vertrauen der Einheimischen erlangt hat und fortan von ihnen respektvoll mit Tuan Jim, Lord Jim, angeredet wird. In der Gestalt der Eurasierin Jewel winkt sogar so etwas wie Liebesglück. Die verschattete Vergangenheit erscheint endgültig vergessen. Bloß um ihn schließlich doch wieder einzuholen, erbarmungsloser und gewalttätiger als je zuvor.
Der von Conrad dicht gewebten Handlung gerecht zu werden, bedeutet also eine große Herausforderung für eine Hörspielumsetzung. Dementsprechend hat sich der Regisseur Heindel in seiner Bearbeitung auf den Inhalt konzentriert, der hier, gekürzt und gerafft, mit großer Stringenz wiedergegeben wird. Auf diese Weise ist ein durchaus packendes Abenteuerhörspiel mit viel maritimem Flair und einer ausgezeichnet besetzten Schauspielerriege entstanden. Neben den 30 männlichen Figuren ist Jewel, die von Linda Blümchen mit Verve zwischen Liebe, Eifersucht und enttäuschtem Vertrauen gesprochen wird, die einzig nennenswerte Frauengestalt.
„Lord Jim“ ist ein Männerhörspiel, in dem allen voran Sebastian Urzendowsky als Jim und Felix von Manteuffel als Erzähler Charles Marlow glänzen. Conrad wurde nicht müde, immer wieder Jims Jugend hervorzuheben. Alle, die mit ihm zu tun bekommen, verweisen auf sein „jugendliches Alter“, schimpfen ihn „ein kleines Kind“, Marlow nennt ihn gar „das jüngste menschliche Wesen, das es gibt“. Urzendowsky macht dieses Jungenhafte überzeugend hörbar, vor allem wenn Jim glaubt, sich stets aufs Neue verteidigen zu müssen, und sich dabei in emotionale Widersprüche verstrickt.
Felix von Manteuffel als Marlow ist eine Idealbesetzung. Schon in Klaus Buhlerts imposantem Hörspiel „Moby Dick oder Der Wal“ bewies er als einer der Erzähler, wie gut er es versteht, raues Seemannsgarn überaus glaubwürdig zu Gehör zu bringen. Sein Kapitän Marlow strahlt zunächst die Würde dessen aus, der meint, auf See bereits alles erlebt zu haben. Das Schicksal des unglücklichen Jim jedoch bringt ihn an seine Grenzen. Letztlich bleibt der ihm ein Rätsel: „Im Ganzen wurde man aus ihm nicht klug.“
All das zeigt, was für ein unzuverlässiger Erzähler Marlow ist, der im Grunde nur Mutmaßungen über Jim anstellt. Als er von den Geschehnissen auf Patusan berichtet, schickt er voraus, er erzähle sie nun so, als sei er Augenzeuge gewesen. Joseph Conrad hat noch viele solche Fallstricke in seinen akribisch gearbeiteten, seiner angeschlagenen Gesundheit abgerungenen Text eingebaut, um beim Leser ein Gefühl jener Verwirrung zu erzeugen, das auch die Figuren gefangen hält.
So gibt es neben Marlow noch einen anderen, allwissenden Erzähler. Zudem weitere Stimmen, die das Geschehen aus ihrer Sicht kommentieren. Dazu kommt eine ausgiebige Bildsprache des Nebulösen und Opaken. „Lord Jim“ ist auch eine Auseinandersetzung mit der Möglichkeit wie Unmöglichkeit des Erzählens selbst.
All die stilistischen und psychologischen Nuancen werden im Hörspiel zwar berücksichtigt, nehmen aber bei Weitem nicht den Raum der Vorlage ein. Conrads ausführlich entwickelter Gegensatz von romantischer versus realistischer Haltung gegenüber dem Leben bleibt etwa eine Randnotiz. Wolfgang Koeppen nannte Joseph Conrad „einen Meister des inneren Abenteuers“. Dieses steht hier zurück zugunsten der akustisch aufwendig untermalten äußeren Handlung. Da schlagen die Wellen, kreischen die Möwen und ertönen die Schiffshörner. Da schwelgt die Komposition von Felix Rösch, vom HR-Sinfonieorchester mit Aplomb eingespielt, in musikalischer Opulenz, dramatische Höhepunkte inklusive. Martin Heindels Adaption ist gut gemachtes Hörkino, nicht mehr und nicht weniger.
Z
Es geht um die Möglichkeit
wie die Unmöglichkeit
des Erzählens selbst
Joseph Conrad: Lord Jim.
Hörspiel. Mit Felix von
Manteuffel, Sebastian
Urzendowsky, Andreas Fröhlich u.a. 4 CDs, 4h 18 Minuten. Der Hörverlag,
München 2023, 24 Euro.
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»Ich halte Conrad für einen der grössten Autoren unseres Jahrhunderts, einen der wenigen wirklichen Romanciers, die England besitzt.« George Orwell