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Produktdetails
  • Goldmann Taschenbücher
  • Verlag: Goldmann
  • Seitenzahl: 220
  • Gewicht: 200g
  • ISBN-13: 9783442445455
  • ISBN-10: 3442445450
  • Artikelnr.: 08511817
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.12.1998

Die Laufmasche im Lebenssinn
Turiner Nachtstück: Enrico Remmerts "Looove Never Dies"

Turin ist eine Stadt, die prekäre Gemütszustände unheilvoll verstärken kann. Wir denken an den Pferde-Umarmer Nietzsche, an den Selbstmord von Cesare Pavese oder Primo Levi, aber auch daran, daß die Fiat-Metropole in Italien als Hauptstadt der Okkultisten und Schwarzmagier gilt. Carlo Fruttero und Franco Lucentini bannten den sinistren Geist des Ortes in hintergründigen Kriminalromanen. Atmosphärische Düsternis durchzieht auch den Erstling von Enrico Remmert, der uns den Eindruck vermittelt, daß junge Menschen im heutigen Turin von Depressionen und Drogenexzessen, Sexräuschen und Sinnkrisen heftig gebeutelt werden. Allerdings scheint der Autor, Jahrgang 1966, derlei ohne Schäden überstanden zu haben: Er promovierte im Fach Kommunikationssoziologie, arbeitet als Marketingspezialist und wurde für sein Romandebüt mit mehreren Preisen belohnt.

"Entschuldigen Sie, aber was hält Sie eigentlich am Leben?" Die Frage, die der Student Vittorio Rossenotti an wildfremde Passanten richtet, sollte auch außerhalb Turins häufiger gestellt werden. Vittorio fragt nicht in provokanter Absicht, sondern aus einer Neugier heraus, die wiederum ihn am Leben hält. Der Vorname des Helden signalisiert ein wenig pathetisch seine Standhaftigkeit gegenüber der Heroinspritze, bei der einige seiner Freunde die letzte Zuflucht vor der großen Leere suchen. Und in "Rossenotti", dem Originaltitel des Romans, sind die "roten Nächte" zu erkennen, die Vittorios Clique sich in Bars und Diskotheken, auf der Straße oder in diversen Appartements um die Ohren schlägt, mehr oder weniger stockbetrunken und vollgekokst. Die deutsche Fassung für anglophile Leser heißt "Looove Never Dies", nach der elektronischen Botschaft eines Flipperautomaten in der Kneipe, in der Vittorio manchmal aushilft: Eine Grabesstimme verkündet solchen Trost, wenn der Ball ins Aus rollt.

Freilich ist es gerade das Absterben der Liebe, das Rossenotti zu einer Bilanz seines vierundzwanzigjährigen Lebens veranlaßt. Die sanfte, blauäugige Alice hat ihm den Laufpaß gegeben und ihn aus der gemeinsamen Wohnung geworfen. Zwei existenz-erschütternde Verluste für jemanden, der ohnehin von Ängsten geplagt wird und eine wachsende Verwirrung bewältigen muß, "eine Art Betäubung, eine Verschwommenheit angesichts einer unverständlichen Wirklichkeit", die nur einen Schluß zuläßt: "Das Nichts kommt näher."

Gleichwohl bleibt dem Grübler, wie er sich mit piemontesischem Pragmatismus ausrechnet, "genug, um das Gewicht der Welt zu tragen". Dabei spielt eine gewisse Rolle, daß er zwar im metaphysischen Sinne unbehaust, aber keineswegs heimatlos ist: Wie den meisten ledigen jungen Italienern steht ihm die Tür des Elternhauses jederzeit offen. Noch eine kulturelle Besonderheit prägt Enrico Remmerts Nachtstück, dessen Finsternis schon deshalb eine andere Farbe hat als vergleichbare No-future-Literatur aus nördlicheren Gefilden: Der mediterrane Mitteilungsdrang verhindert, daß der junge Stadtneurotiker als einsamer, egomanischer Flaneur auftritt. "Das Hirn rotiert" in Rossenottis Kopf, aber in diese Rotationsbewegung wird hineingezogen, was das unablässige Gerede mit Kommilitonen, Freunden, Verwandten, flüchtigen Bekannten und Fremden hergibt an Denkimpulsen und Blickverschiebungen. Obendrein führt Vittorio imaginäre Gespräche mit dem verschollenen, heroinsüchtigen Milo, und er redet mit dem Leser, denn die Erzählung steht im Präsens der zweiten Person Singular, was in der Übersetzung angestrengter wirkt, als es im Italienischen klingt.

Jedenfalls ist hier alles Kommunikation und Austausch, manche Dialoge erinnern an Eric Rohmers Plauderfilme, und wenn auch Geschwätz, Geplänkel und handgestrickte Philosophie dabei ist, von Sentimentalitäten all'italiana ganz zu schweigen, so läßt sich das Elend der Ecstasy- und Mikrowellenpizza-Generation in dieser Form doch besser ertragen als aus der Perspektive hochmütiger Vereinzelung. Zumal der Autor zwischen seine "mentalen Schleudertrips" beiläufig kleine Lichtpunkte streut, unscheinbare, doch aussagekräftige Alltagsszenen, die ein Gefühl der Geborgenheit schenken, wie diese Beobachtung während einer Autofahrt über Land: "In der Ferne radelt ein alter Mann auf einem Feldweg an einer Pferdekoppel entlang; vor ihm auf der Fahrradstange sitzt ein Kind, und die Wölkchen ihres Atems vermischen sich und sehen aus wie der Rauch einer sonderbaren Dampflokomotive."

Entschuldigen Sie, aber was hält Sie eigentlich am Leben? Am Ende der Geschichte, in der kaum etwas geschieht, wird Rossenotti sogar eine kluge Antwort zuteil. "Leute wie du", sagt ein freundlicher Herr, der "schlohweißes Haar und strahlende, für sein Alter unglaublich lebhafte Augen" besitzt, mithin an Märchenbilder vom lieben Gott gemahnt. Leute wie Vittorio, das sind unter den früh Enttäuschten, Abgebrühten, Übersättigten seiner Generation jene, die trotz allem hartnäckig weiterfragen. Die, obwohl sie am liebsten "raus aus dem Universum" möchten, doch mit stabiler Zuneigung an der Spezies Mensch und dem von ihr fabrizierten Chaos hängen. Wenn es Enrico Remmert darum ging, mit seinem Roman dieses zwiespältige Daseinsgefühl zu transportieren, dann hat er sein Ziel erreicht. KRISTINA MAIDT-ZINKE

Enrico Remmert: "Looove Never Dies". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Maja Pflug. Verlag Antje Kunstmann, München 1998. 180 S., geb., 32,- DM.

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