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  • Verlag: Ammann
  • ISBN-13: 9783250300083
  • Artikelnr.: 10420106
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.1997

Der Seufzer kommt per Telegraph
Magnetischer Funkenflug: Marina Zwetajewa in ihren Gedichten / Von Thomas Poiss

Gewaltige Gefühle gelten gerne als Charakteristikum lyrischer Welterfahrung. Die russische Dichterin Marina Zwetajewa scheint diesem Bild vollkommen zu entsprechen: "Jede meiner Beziehungen ist eine Lawine", schreibt sie.

In einem Brief an den zur Fernliebe erwählten jungen Kritiker Bachrach entwickelt sie sogar eine Theorie der Maßlosigkeit, doch wer dabei gerade "zeitweiliges Flußbett meiner Seele" wird, ist völlig offen: Männer, Frauen, eine Puppe, Hunde und vor allem Dichter, lebende wie tote. Alexander Blok, dessen Tod einen großen Gedichtzyklus der Zwetajewa auslöst, wird postum erfahren: "Ich war seine größte Liebe, obwohl er mich nicht einmal kannte."

Viele dieser Lieben blieben imaginär oder brieflich - die Zwetajewa war verheiratet und hatte drei Kinder -, doch manche erfüllten sich durchaus real, ehe sie ins Gedicht gehoben wurden. Achtet man jedoch genauer auf den Tonfall, so entdeckt man die andere Seite der Dichterin: "Meine Gefühle kennen, wie die der Kinder, keine Grade." Gerade darin, wie der Vergleich in den Gedanken der Maßlosigkeit schneidet, zeigt sich jene poetische Intelligenz, die von Zwetajewa "Seele" oder "Psyche" genannt wird. Aufmerksamkeit, die auch im äußersten Moment nicht versagt. Und vor allem nicht im schönsten:

Und er blickte, wie zum ersten Mal

Man nicht blickt.

Schwarze Augen verschlangen seinen

Blick.

Ich werf meine Wimpern hoch und steh.

- Hell und blank? -

Ich sag nicht, was ich ganz restlos trank.

Jeden Tropfen, das, was die Pupille

Ganz umschloß.

Deine Seele, die in meine - floß.

In diesem meisterhaft gehandhabten, leicht gebrochenen Duktus wird das Unnennbare spürbar, von dem die Worte sonst bloß reden. Zugleich zeigt sich darin die spöttische Weisheit einer Dichterin, die von sich sagt: "Heine wird immer jedes Ereignis meines Lebens überlagern". Wollte man ein Beispiel dafür geben, so wird man wieder in den Briefen fündig. Im September 1923 durchlebte Zwetajewa mit Konstantin Rodsewitsch eine heftige Beziehung, der die (leider nicht übersetzten) Langgedichte "Poem vom Berg" und "Poem vom Ende" entsprangen. Doch schon im Januar 1924 beschreibt sie den schmerzlichen Bruch mit Rodsewitsch in folgendem Kurzdialog: "Werde mein! - Und ich: Oje!".

Zwetajewas Kunst, mittels Gedankenstrich und Rufzeichen zu interpunktieren, wurde von Joseph Brodsky in einem Essay eigens gerühmt, und diese Gestik ist es auch, die ihre Lyrik übersetzbar macht. Die semantische Dichte der russischen Lautbilder und Reime läßt sich kaum wiedergeben, doch das Denken mitten im höchsten Gefühl verfehlt auch im Deutschen seine Wirkung nicht. Unter den vielen luziden Gedichten des Bandes hebt Ralph Dutli im Nachwort zu Recht drei Zyklen hervor. Die siebzehn Gedichte an "Die Freundin" bilden das Dokument einer entzückten Liaison zur Dichterin Sofia Parnok, einer zart angedeuteten Initiation: "Dieser Mund war jung vor deinem / Mund - vor deinem Kuß". Der "Maria Magdalena"-Zyklus stammt aus dem Jahr 1923 und dem unmittelbaren Vorfeld der Leidenschaft zu Rodsewitsch. Im blasphemisch intensivierten Eros zwischen der Ehebrecherin und dem Erlöser zeigt sich das Ineins von Liebe und Tod, das jede Grenze zwischen den Geschlechtern aufhebt:

Als Fußtuch mich dir borgend

Breit ich mich hin . . .

Und hat nicht Er

(Nein Sie!) zum Luder mit den

Feuerlocken

Gesagt: steh auf du, Schwester, geh!

Zwetajewa gestaltet so als biblisches Geschehen, was Ingeborg Bachmann ein Leben später formulieren sollte: "So gewiß ist's, daß nur die Liebe / und einer den andern erhöht." Formaler Höhepunkt des Bandes ist der Boris Pasternak zugeeignete Zyklus "Kabel". Dem gleichrangigen Dichter gegenüber entwickelt Zwetajewa das Bild der Fernliebe unter den grotesken Bedingungen der Moderne. Das "Empyreum" der Liebe wird zu Asche, Gefühle werden in Silben zerhackt:

Durch Alleen

Von Seufzern - in den Draht geschickt -

Telegraphisch: Ich-lie- ie-be-dich . . .

In die Pfähle hinein, Tele graphisch: Le-eb-wohl! Ver-zeih!

Nur selten wurde in solcher Klarsicht das lächerliche Formular für unsere Emotionen zugleich bloßgestellt und überhöht. Die Liebe gelingt ja dennoch - zumindest in der Dichtung. Sie wird Lied noch unter den absurdesten Bedingungen: "Dies mein Herz als magnetischer / Funke - bricht das Metrum - auf". Zwetajewa vermachte den Zyklus Pasternak als das, was sie sich von ihm - mehr oder minder offen - erwünschte: "als wahre Frucht".

Die Größe dieses Werks wächst noch beim Blick auf das Leben, dem es abgerungen wurde. 1892 als Tochter eines Moskauer Museumsdirektors geboren, zur Klaviervirtuosin bestimmt, von russischer, deutscher und französischer Literatur von klein auf durchdrungen, debütiert Marina Zwetajewa bereits 1910 erfolgreich als Lyrikerin. Die frühe Ehe mit dem lungenkranken, nicht nur politisch instabilen Sergej Efron changiert zwischen Halt und schwerer Last. Daß die Oktoberrevolution ihr Leben zerstört, erkennt sie augenblicklich. Auf siebzehn elende Jahre in der Emigration (Berlin, Prag, Paris und deren Vorstädte) folgen zwei noch schlimmere im Rußland Stalins, wohin sie ihrem Mann "wie ein Hund" zurückgefolgt war. Ihr Selbstmord 1941 im tatarischen Jelabuga zählt zu den trostlosesten Momenten dieses traurigen Jahrhunderts. Die meiste Zeit verbrachte Marina Zwetajewa in einem Zustand, den sie selbst lakonisch benennt: "Einsamkeit, vertieft durch Alleinsein". Und auch über ihre Dichtung gab sie sich keinen Illusionen hin: "Mir ist die Sprache gleich, darin / ich jedem unverständlich bin."

Ralph Dutlis Übersetzung liest sich allerdings vorzüglich. Sie ist kohärent, frei von falschen Poetismen und überzeugt durch den lebendigen Gestus. Der einzige Einwand gegen den schönen Band bleibt das Verlangen nach mehr. Doch sei das Unbehagen an der Torsohaftigkeit in einen Wunsch verwandelt: möglichst bald das "Poem vom Berg" und das "Poem vom Ende" in gleicher Qualität lesen zu können.

Die Liebesgedichte der Zwetajewa wollen auch gegen den Hintergrund ihrer übrigen Lyrik gehalten werden: Vogel, Schreibtisch, Strauch, Moskau, Böhmen - alles konnte ihr Stimulus liebender Sprachverwandlung werden, wenn sie nur einen Streifen Zeit und Papier zugestanden bekam. Gegen Ende ihres Lebens geriet sie noch in eine kommunistische Literaturdiskussion, die den synthetischen Kautschuk zur Ehre des Gedichts erheben wollte, doch sie wußte: "Poesie brauchen nur Dinge, die niemand braucht." Vermutlich ist diese Einsicht der tiefste Grund für die Schönheit von Zwetajewas Liebesgedichten. Wer braucht schon - den Menschen?

Marina Zwetajewa: "Liebesgedichte". Mit Aquarellen von Leiko Ikemura. Aus dem Russischen übertragen, herausgegeben und mit einem Nachwort von Ralph Dutli. Ammann Verlag, Zürich 1997. 160 S., geb., 48,- DM.

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