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Die Edition gibt die Gedichte in fotomechanischen Reproduktionen wieder, um die Dynamik des Schreibprozesses möglichst authentisch zu dokumentieren. Die einzelnen Texte und ihre Entstehungsgeschichte werden von kommentierenden Essays begleitet, die Hans Höller verfaßt hat.

Produktbeschreibung
Die Edition gibt die Gedichte in fotomechanischen Reproduktionen wieder, um die Dynamik des Schreibprozesses möglichst authentisch zu dokumentieren. Die einzelnen Texte und ihre Entstehungsgeschichte werden von kommentierenden Essays begleitet, die Hans Höller verfaßt hat.
Autorenporträt
Ingeborg Bachmann, geboren am 25. Juni 1926 in Klagenfurt, wurde durch einen Auftritt vor der Gruppe 47 als Lyrikerin bekannt. Nach den Gedichtbänden Die gestundete Zeit (1953) und Anrufung des Großen Bären (1956) publizierte sie Hörspiele, Essays und zwei Erzählungsbände. Malina (1971) ist ihr einziger vollendeter Roman. Bachmann starb am 17. Oktober 1973 in Rom.

Hans Höller war bis 2012 Professor für Neuere Deutsche Literatur am Fachbereich Germanistik der Universität Salzburg und bis 2020 einer der Gesamtherausgeber der Salzburger Bachmann Edition. Er ist Verfasser zahlreicher Bücher zur zeitgenössischen Literatur, Mitherausgeber mehrerer Bände der Thomas-Bernhard-Werkausgabe und der Jean-Améry-Ausgabe.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.04.1998

Ein Tropfen Zitrone
Die letzten Gedichte Ingeborg Bachmanns · Von Harald Hartung

Ingeborg Bachmann war schon zu Lebzeiten ein Mythos, doch erst ihr Tod und die Nachwirkung ihres Werkes, besonders des "Todesarten"-Projekts, haben ihrem Bild jene Züge verliehen, die in der gegenwärtigen Rezeption dominieren. Im Zeichen des aufkommenden Feminismus wurde die Dichterin (ähnlich wie Sylvia Plath) zur Opfer- und Kultfigur und zur Protagonistin weiblichen Schreibens.

Vor allem weibliche Interpreten entdeckten diese "andere" Bachmann. Der Text "Undine geht" erschien aus dieser Perspektive als Anfang eines Prozesses, in dem das Schreiben progressiv zur "Konzentration auf die patriarchalischen Zerstörungsmodi" führt. Wer in der "Todesarten"-Prosa die Erfüllung dieser Intentionen sieht, mochte die Lyrik einer Vergangenheit zuschlagen, in der das schreibende Ich nur "Wortopern" hergestellt hatte. Aber zumindest die späte Lyrik ist eine Absage ans Kulinarische. Das sollte gewisse Revisionen nahelegen.

Hans Höller, durch eine Werkmonographie als Bachmann-Kenner ausgewiesen, unternimmt eine solche Neubewertung. Er präsentiert uns in Textgenese und Kommentar einige späte Bachmann-Gedichte. Höller geht von der plausiblen Annahme aus, daß es bereits in der frühen Lyrik Szenerien gibt, in denen das weibliche Ich verstummt oder erstickt, Szenerien, die sich vom "Malina"-Roman her schlüssig kommentieren lassen. Triftig scheint mir auch seine These, daß der "kunstferne" Weg, den die Prosaschreiberin einschlug, noch in der entschiedensten Negation auf die Kunst bezogen blieb.

Unter dem etwas umständlichen Titel des Bandes dürfen wir zwei unterschiedliche Komplexe erwarten: "Letzte, unveröffentlichte Gedichte" - das sind im Nachlaß aufgefundene Texte aus Bachmanns Berliner Zeit vom Frühjahr 1963 bis Ende 1965, hauptsächlich aus dem lebensgeschichtlichen Zusammenhang der beiden Prag-Reisen, die die Dichterin im Spätwinter 1964 mit Adolf von Opel unternahm. "Entwürfe und Fassungen" - das meint die textgenetische Darstellung der aus der gleichen Erfahrung stammenden Gedichte, die 1968 im legendären "Kursbuch 15" erschienen, das den Tod der bürgerlichen Literatur ausrief.

Die dort publizierten "Vier Gedichte" waren die letzten, die Ingeborg Bachmann an die Öffentlichkeit gab. "Keine Delikatessen", das die Folge eröffnete, paßte fast zu gut in die Totsagung der Literatur und dürfte damals die Liebhaber ihrer Lyrik erschreckt haben. Da hieß es:

Soll ich

eine Metapher ausstaffieren

mit einer Mandelblüte?

die Syntax kreuzigen

auf einen Lichteffekt?

Wer wird sich den Schädel zerbrechen

über so überflüssige Dinge -

Heute, dreißig Jahre später, geht es nicht um Literatur und Ideologie, sondern um Philologie. Sie könnte die Rolle der Lyrik im Übergang zur Prosa der "Todesarten" klären. Was also bringt die Präsentation und Analyse der Texte aus dem Nachlaß in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien? Und was die Textgenese der "Kursbuch"-Gedichte, mit denen sich die Bachmann von der Lyrik verabschiedete?

Die bei Höller dokumentierten nachgelassenen Gedichte fügen dem Kanon der Bachmannschen Lyrik nichts wesentlich Neues hinzu, aber sie sind biographisch aufschlußreich. Die Verse stammen aus der Zeit nach der Trennung Ingeborg Bachmanns von Max Frisch und markieren eine Krise und ihre vorläufige Überwindung. "Schallmauer" und "In Feindeshand" sind Dokumente der depressiven Erfahrungen des Berlin-Aufenthalts, die sich auch in der Büchner-Preis-Rede mit dem Titel "Ein Ort für Zufälle" spiegeln. Die beiden Prag-Gedichte dagegen zeigen einen positiven, vertrauensvollen Duktus. Alle Texte sind erste Entwürfe, notizenhaft und fragmentarisch. Am ehesten läßt sich "Poliklinik Prag" als vollständiges Gedicht lesen:

Das ist alles umsonst. Kostet nichts mehr.

Nur die krank sind, kein Reichenhaus, kein Armenhaus

nur ein Krankenhaus für die Kranken, kostet nichts,

alles umsonst, kein Vortritt und keine Privilegien,

da sind alle krank und klopfen an wie ans Paradies

und taumeln wie vorm Paradies und

atmen kaum

Höller spricht hier von einem Evangelium der Armut, das der Konsumkritik Pier Paolo Pasolinis nahekomme. Er verweist aber zugleich auf die Ambivalenz des Gedichts, dessen utopische Negation des Tauschprinzips ("alles umsonst") sich auch als totale Vergeblichkeit und Aussichtslosigkeit lesen lasse. Höller zitiert in diesem Kontext Erich Fried: "Die Gegenwelt, in der sie Zuflucht vor der Verzweiflung findet oder doch sucht, wird der Verzweiflung zum Verwechseln ähnlich."

Diese verzweifelte Suche nach einer Gegenwelt läßt sich an den Arbeitsprozessen der "Kursbuch"-Gedichte deutlich ablesen. Sie demonstrieren in ihren diversen Fassungen die augenfällige Schreibqual und ihre progressive Aufhebung in Kunst. Das heißt aber auch: die Verlagerung des Lebensproblems und nicht seine Lösung. Der Blick auf die beigegebenen Reproduktionen der Typoskripte zeigt dem Leser - in den Korrekturen von Hand, vor allem in der sichtlichen Hektik des Tippens -, wie jemand buchstäblich um sein Leben schreibt. Dennoch heißt es in dem Gedicht "Keine Delikatessen": "Ich vernachlässige nicht die Schrift, / sondern mich."

In den ersten Entwürfen dieses Gedichts ist die Autorin in fast selbstzerstörerischer Weise von Ekel und Gewalt fasziniert. Das lyrische Ich setzt sich an die Stelle des Tieres, das zur Delikatesse verarbeitet wird: "Zuschlagen, / mich niederschlagen, / diesen Schädel, der nichts mehr wert ist, / ihn aufbrechen, dieses verderbliche Hirn essen / mit einem Tropfen Zitrone und brauner Butter darüber." Erst die weitere Textgenese macht die Kunst und ihre soziale Problematik zum Thema; und man versteht nun erst, nach soviel Varianten, was die Formulierung vom "Schreibkrampf in dieser Hand / unter dreihundertnächtigem Druck" bedeutet.

Nicht minder faszinierend ist der Entstehungsprozeß des wunderbaren "Böhmen liegt am Meer". Als die Bachmann im Januar 1964 nach Prag kam, fielen ihr die vielen grün gestrichenen Häuser auf, und so lautete der Titel des ersten Entwurfs "Grüne Häuser in Prag". In ihm aber ist schon die emphatische Vorstellung des "Angrenzens" enthalten, die in den folgenden Stufen unter dem schon endgültigen Titel zur utopischen Gedicht-Landschaft ausgefaltet wird: "Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf. / Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren."

Die Bachmann sprach in bezug auf das Gedicht von einer "geistigen Heimkehr". Es ist die Heimkehr ins "Haus Österreich", wie es dann im "Malina"-Roman eine Rolle spielt - ein Indiz für die enge Verflechtung der Impulse in der beginnenden "Todesarten"-Phase. Großartiger, beherzter hätte der Abschied von der Lyrik nicht ausfallen können.

Gewiß wurde das Artifizielle der Bachmann in diesen Jahren immer verdächtiger; und Höller belegt in seinen umsichtigen und materialreichen Analysen, daß ihre Schreibqual die Ablehnung aller Geläufigkeit signalisierte. Man begreift nach dem Studium dieser Entwürfe und Fassungen aber auch, daß die Autorin das endlich vollendete Gedicht für etwas halten wollte, das sie gar nicht selbst geschrieben hatte: "Für mich ist es ein Geschenk und ich habe es nur weiterzugeben an alle anderen, die nicht aufgeben zu hoffen auf das Land ihrer Verheißung."

Ingeborg Bachmann: "Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen". Herausgegeben und mit einem Kommentar von Hans Höller. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 165 S., geb., 56,- DM.

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