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Schernikaus Opus Magnum ist Bibel und Travestie, Epos und Musical, ist äußerste Form und Vielfalt der literarischen Formen, ist als dokumentarische Bestandsaufnahme beider Deutschlands in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts von nachgerade bestürzender Aktualität - und immer heiter vertieftes Spiel mit der Änderbarkeit der Welt. Im Gespräch mit Stefan Ripplinger erklärt Schernikau: "die legende wird als zwischenspiele diese vier großen sachen haben, die bisher nicht gedruckt sind. d.h. es wird fünf große kapitel geben und dazwischen in der chronologischen reihenfolge: die variante, so…mehr

Produktbeschreibung
Schernikaus Opus Magnum ist Bibel und Travestie, Epos und Musical, ist äußerste Form und Vielfalt der literarischen Formen, ist als dokumentarische Bestandsaufnahme beider Deutschlands in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts von nachgerade bestürzender Aktualität - und immer heiter vertieftes Spiel mit der Änderbarkeit der Welt. Im Gespräch mit Stefan Ripplinger erklärt Schernikau: "die legende wird als zwischenspiele diese vier großen sachen haben, die bisher nicht gedruckt sind. d.h. es wird fünf große kapitel geben und dazwischen in der chronologischen reihenfolge: die variante, so schön, irene binz und die schönheit. und in der mittleren szene der legende, von der konstruktion her als zentrum, die gedichtesammlung, das hohelied des pförtners, und die artikel, die wichtig bleiben und sind, auch noch integriert in den text. d.h. es wird, in dem moment, wo die legende rauskommt - gott gebe, daß sie jemals erscheint und daß ich sie schreiben kann -, es wird also das opus magnum und es wird alles drinnen sein. [...]
ich habe ein gewisses vertrauen in die macht dieser texte und denke, daß 1000 seiten schernikau besser sind als 100 seiten schernikau. es wird das kürzeste buch, das ich kenne, dafür kann ich garantieren!"
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.01.2020

Eine Schatztruhe für die Götter
Historische und andere Gegenstände großer Kunst: Ronald M. Schernikaus "Legende" ist wieder da

Das erste Mal erschien dieser außergewöhnliche Roman 1999, finanziert durch Subskription. Das geschah acht Jahre nach dem Tod seines Verfassers, des homosexuellen Dichters und Kommunisten Ronald M. Schernikau, der an den Folgen von Aids gestorben war. Nachdem das Buch einen Teil seines Publikums gefunden hatte, war es vergriffen. So kam ein Hörensagen auf, das die Vorstellung verbreitete, der umfangreiche Text handelte vom Besuch wichtiger Gottheiten auf einer Insel, die nicht von einem Gewässer, sondern einem Land umgeben sei. Die Insel, wurde dies gedeutet, wäre West-Berlin, das Land die Deutsche Demokratische Republik, in die der Verfasser kurz vor seinem und ihrem Tod eingewandert war.

Große Gegenstände also, die im Roman "Legende" aber nicht groß-, sondern kleingeschrieben werden. Der Dramatiker Peter Hacks, Lehrer und Freund Schernikaus, tadelte ihn für diese Kleinschreibung in einem Brief vom 10. Oktober 1988 mit den Worten: "Das Weglassen der Großbuchstaben ist Selbstbetrug. Man täuscht sich eine Eleganz vor, von der man fürchtet, dass man ihrer ermangele."

Schernikau hat von dieser Lehre wie von anderen des bewunderten Älteren nicht durch Fügsamkeit profitiert, sondern indem er danach, bei der Arbeit an "Legende", deutlicher machte, warum er so schrieb, wie er schrieb: Die Kleinschreibung ist bei ihm kein Mittel, sich interessant zu machen, sondern ein Instrument, das den unaufmerksamen Blick irritieren soll, der jeden Satz nach einerseits großgeschriebenen Hauptwörtern, die für seine Gegenstände gehalten werden, und andererseits kleingeschriebenem Beiwerk ohne Mühe sortieren will - man soll sich fragen: Was sind denn hier wirklich die Gegenstände, was deren nähere Bestimmungen, was die Handlungen, was deren Voraussetzungen und Folgen?

Das Hörensagen meint seit 1999, Gegenstände von "Legende" wären die DDR und West-Berlin, deutsche Weltbesonderheiten der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, geschildert aus Kommunistensicht. Es gibt nicht viele deutsche Bücher aus der Zeit nach 1989, die diese Gegenstände aus Kommunistensicht schildern, und obwohl die Nachfrage danach in den letzten zwanzig Jahren nicht überwältigend groß war, ist sie doch bis heute entschieden größer als das Angebot, was nach kapitalistischen Marktgesetzen dazu führte, dass "Legende" zu ungeheuerlichen Preisen verkauft wurde, wenn man es überhaupt bekam.

Der Berliner Verbrecher Verlag hat dem Rarissimum, damit diese Wucherpraxis aufhört, jetzt die ihm gemäße editorische Schatztruhe zur würdigen Aufbewahrung und Weitergabe besorgt. Wer das Buch, wie der Rezensent, zu kennen meinte und es liebt, darf hier erfahren, dass Kennerschaft erst jetzt möglich geworden ist und die Liebe nur wachsen kann beim Staunen über die in der Neuausgabe verwirklichte Sorgfalt der Texteinrichtung, beim Lernen von den Anmerkungen, die noch den entlegensten Verweis des Dichters bis in sein dunkelstes Versteck jagen und zur Strecke bringen (Welches Wort aus welchem Schlager von Peter Alexander hat Schernikau zu welchem Zweck durch welches andere ersetzt?), und beim Studium des Nachworts des Literaturforschers und Politikwissenschaftlers Lucas Mielke. Das Hörensagen ist zu berichtigen: "Legende" handelt nicht von irgendwas mit Westen, Berlin und DDR aus Kommunistensicht, der Einsatz, mit dem Schernikau sein faszinierendes Spiel spielte, war viel höher.

Die Straßenbahn ist mehr als nur ein irdisches Fahrzeug

Den Untergang der DDR, dessen Gründe und Ursachen und Umstände, hatte er ja auch anderswo und vor "legende" bereits untersucht, zum Beispiel in seinem Prosaband "die tage in l. - darüber, daß die ddr und die brd sich niemals verständigen können, geschweige mittels ihrer literatur", erschienen im Kollapsjahr 1989. Was da nackt steht, lässt den Stil, in dem herkömmliche Wirtschafts- und Politikpublizistik politische Planungsfehler in ökonomischen Belangen diskutiert, wie frivoles Geplapper wirken: "ein ddrbetrieb schließt einen vertrag mit einer westfirma, weil die einen kommunistischen betriebsrat hat. Leider geht die firma dann pleite." Und noch kälter, noch wahrhaftiger: "die ddr produziert, weil sie neu sind, quarzuhren mit digitalanzeige, die eroberung des weltmarkts. als sie sie fertig hat, kosten die dinger im westen noch zehn dm. ein verlust."

So viel dazu; in "Legende" aber geht's nicht um Sozialökonomie, sondern eben um Gottheiten, die ins Irdische hinabsteigen, um sich auf eigentümlich wirkungsvolle Weise eigentlich gar nicht einzumischen - so: "die götter in der straßenbahn / du kannst auf so einer insel ja ewig rumfahren, sehr verblüffend. du fährst und fährst und fährst mit dem flughafendoppelstockbus, der schönste mann der welt bevölkert die straßen und irgendwie kommt die insel nicht, auf der du dich befindest. wenn die götter rufen, kommen die menschen auch sofort gelaufen. in den filmen erscheinen die götter und in den büchern, die reklame für sie ist im radio und auf den plakaten. allerdings sind die götter unsichtbar. / deshalb sind die götter umgestiegen. dies ist, sagt fifi und lässt sich erschöpft auf einen der plastiksitze fallen, mindestens die fünfhundertste grüne straßenbahn, die wir auf der suche nach den menschen benutzen."

Der Roman untersucht aus der Nähe vier solcher Gottheiten und außerdem viele Menschen, von der Schlagersängerin über den Schokoladenfabrikanten bis zur Krankenschwester. Die vier Gottheiten heißen fifi, kafau, stino und tete. Sie waren, sagt das Hörensagen, weil der Roman das nahelegt, einst als Menschen vier historische Gestalten: die Publizistin und Terroristin Ulrike Meinhof, die Schauspielerin Therese Giehse, der KPD-Politiker Max Reimann und der Schriftsteller Klaus Mann. Das Hörensagen stimmt indes nicht ganz: Schernikaus Götter "sind" nicht einfach Nachlebensgestalten dieser Menschen, sondern spielen deren Erinnerungen, wie ein Theaterensemble nicht nur einen Stücktext, sondern auch Ideale spielt, wo das Theater funktioniert, wie Aristoteles, Shakespeare, Goethe, Schiller und Hacks sich das dachten.

Das sprechende Detail und die Totale der literarischen Form

Schernikau persönlich wiederum ist als Verfasser der "Legende" so etwas wie ein um seine eigene moralische Achse gedrehter Schöpfergott; denn während Goethe sagt: "Eigentlich ist es nur des Menschen, gerecht zu sein und Gerechtigkeit zu üben, denn die Götter lassen alle gewähren: Ihre Sonne scheint über Gerechte und Ungerechte", ist Schernikau bewusst mal gerecht, mal ungerecht zu den Urbildern seiner Schöpfungen, denen mit Geld und denen ohne, denen mit Geist oder Schönheit und denen ohne. Das aber erfasst man nur, wenn man so genau liest, wie die Verbrecher-Edition gearbeitet ist, und damit Kleinigkeiten bemerkt wie den Umstand, dass in der zitierten Stelle über die Götter in der Straßenbahn ein Blick aus dem Fahrzeug erkennt: "der schönste mann der welt bevölkert die straßen", dass also ein Typus zwar in der Einzahl wahrgenommen, aber als Träger eines nur Kollektiven möglichen Tuns begriffen wird ("bevölkern" kann keiner allein irgendwas). Die schöne Schrift ist konsequent bis in die Eigennamen: Jemand heißt "fank" und nicht "Frank" oder "berbel" und nicht "Bärbel", damit man am scheinbaren Schreibfehler hängenbleibt und sich dabei erinnert: Richtig, ein Menschenname ist etwas Eigen-Einziges, man soll ihn nicht flüchtig lesen, kein Mensch ist selbstverständlich. Aus Details dieser Güte gebaut, will das Werk als Exempel der großen Form wie nur je ein klassischer Roman oder Drama Gesellschaft als Totalität künstlerisch gestalten. Damit ist auch gerechtfertigt, was Hacks nicht gern gesehen haben kann, nämlich die romanfremden Formelemente in diesem Roman. Hacks sah auf Gattungsgerechtigkeit; ein Drama sollte so wenig adaptierter Film sein wie ein Bericht aus dem Leben eine Erzählung.

In "Legende" aber ist die kraftvolle Unruhe, mit der Lyrisches, Dramatisches, halbe Musicals, ein Epos zwischen zwei Zeilen, eine Dokumentensammlung, ein Zitat oder eine Witzparade vorkommen, die völlig kunstgemäße Widerspiegelung der Wahrheit, dass "Totalität" im Geschichtlichen wie Gesellschaftlichen als wechselseitige Durchdringung heterogener Einzelmomente realisiert ist: Die Politik, Teil des Sozialen, kann die Wissenschaft oder die Kunst, zwei andere Teile, politisch behandeln, wie die Wissenschaft umgekehrt Kunst und Politik wissenschaftlich behandeln mag oder die Kunst sowohl Politik wie Wissenschaft künstlerisch. Drama, Epos, Lyrik, Dokument, alle werden sie bei Schernikau zum Roman, in einem so starken Sinn, dass das Romanmuster weniger befolgt als vielmehr neu geprägt wird. Von Balzac bis António Lobo Antunes nur eine Handvoll Texte in der Literaturhistorie, denen man das bescheinigen kann. Damit, vor allem anderen, wäre das Hörensagen über "Legende" entscheidend zu ergänzen: Ja, das ist tatsächlich ein Roman über die deutschen Weltbesonderheiten der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts aus Kommunistensicht und damit zweifelsohne selten, aber zugleich ist "Legende" etwas noch viel Selteneres und Wertvolleres: ein tiefes, klares Geschichtsbild aus Sicht der Dichtung.

DIETMAR DATH

Ronald M. Schernikau: "Legende".

Verbrecher Verlag, Berlin 2019. 1072 S., geb., 58,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.02.2020

Ende des Gesprächs
Ronald M. Schernikau starb 1991 mit nur 31 Jahren an Aids.
Er hinterließ „legende“, eine tausendseitige Tirade gegen die Kultur
VON INSA WILKE
Es gibt Bücher, von denen fühlt man sich bedroht, entmündigt, geknebelt. Ronald M. Schernikaus Hauptwerk, der Montageroman „Legende“, ist so ein Buch. Mit Nora Barnacle alias Molly Bloom möchte man schimpfen: „Ich sage Ihnen, das Buch ist ein Schwein.“ Der Verbrecher-Verlag, bekannt für die Pflege sich der Konsumierbarkeit entziehender literarischer Werke, hat es jetzt in einer Kritischen Ausgabe neu herausgebracht: 1000 Seiten Kult.
Schernikau, der 1960 in Magdeburg geboren wurde, aber in Lehrte mit seiner alleinerziehenden Mutter aufwuchs, dann in Westberlin studierte und noch im September 1989 in die DDR zu seinen Wahlverwandten übersiedelte, war schwul und Kommunist. Beides bekennend, lautstark und in seinen Werken kombiniert mit einem ästhetischen Rigorismus. 1991 starb er mit nur 31 Jahren an Aids. „Legende“ beendete er kurz vor seinem Tod. Acht Jahre hatte er daran gearbeitet, zuletzt muss es eine Arbeit gegen die Zeit gewesen sein.
Was löst achtundzwanzig Jahre später so eine Aggression aus, liest man dieses Buch? Die politische Gewissheit? Die rücksichtslose Travestie, die Schernikaus Jan-Philipp-Reemtsma-Avatar in Vernichtungsfantasien schickt? Die Hybris? Der Widerspruch von Freiheitsbehauptung auf 1000 Seiten und autoritärer Geste mit ihnen? Es dürften jedenfalls nicht nur die winzigen, auf hauchdünnes Papier gedruckten Buchstaben sein, die man angesichts der gleich zwei stilvoll in Rosa gehaltenen Lesebändchen verzeiht.
Elf Teile plus Bauplan, das ist die „Legende“: Fünf Hauptteile, die sich in Stil und Anordnung mit der Bibel messen. Die Hauptteile rhythmisiert durch vier große und einige kleinere „Einlagen“ in Gestalt von Gedichten, Monologen, einer Witzsammlung, einer Filmskizze, einem Stück. Außerdem Prolog und Epilog. Es treten ungefähr zwei Dutzend Hauptfiguren auf, darunter „janfilip geldsack“ und „anton tattergreis“, die Königin Lydia Soldat (auch stellvertretende Vorsitzende der KP), das Alter Ego des Autors als „neffe von ulla“, ein weitsichtiges Kind, eine Honecker-Parodie im Plastikanzug, diverse Frauenfiguren nebst einer unübersichtlichen Schar von Nebenfiguren wie „margarete plätscherlich“, zwei schwulen Paaren, einem „pädoopfer“ und der „liberalen öffentlichkeit“.
Die Handlung der Hauptteile wird initiiert von den vier Göttern fifi, kafau, stino und tete (ehemals Ulrike Meinhof, Therese Giehse, Max Reimann, Klaus Mann). Sie haben Nachwuchsprobleme und lassen sich zu den Menschen auf die „insel“ (= Westberlin = Vergangenheit) herab, um sie zu ihrem Glück zu zwingen. Das wiederum wäre im „land“ (= kleine, süße ddr = Zukunft) zu finden. Auf der Insel steht die Schokoladenfabrik von Anton Tattergreis, deren Schließung sein Nachfolger janfilip betreiben möchte, um das Kapital abzuschaffen. Gegen die Schließung des insularen Krankenhauses wiederum wird demonstriert. Janfilip will verschwinden, Tattergreis will wiederum janfilip oder einen anderen Knaben ins Bett kriegen, Lydia will die DKP: „was tut man nicht, um sich zu verschaffen, daß man plötzlich lachen muß.“
„Legende“ ist ein Buch für Strukturalisten. Wer sich allein dem Gewimmel der sechs Hauptteile ausliefert, wird sich randalierend in der Zwangsjacke wiederfinden: „Die situationen in dieser legende haben etwas entnervend statisches“, schreibt Schernikau in einer seiner Leseransprachen und lässt einen am ausgestreckten Arm im Schokoladenquark verhungern. Man kommt sich vor wie bei Jim Hensons „Fraggles“, wobei Schernikaus Zitat-Montagen aus ästhetischer und politischer Theorie und Literatur die Rolle der allwissenden Müllhalde übernehmen. Oder, sehr schön, ein Rilke-Verschnitt, den die Herausgeber noch nicht entdeckt und annotiert haben: „du schönster unter der sonne, schrie ich wirklich oder dachte es bloß, die augen geschlossen“.
Obwohl es Spaß macht, Schernikaus Verschlüsselungen aufzudecken, entsteht in dieser kalten, ganz auf Distanzierung setzenden Travestieshow Erfahrungshunger. Stillen können ihn die „Einlagen“, die an Erika Runges Verfahren geschulten Gesprächsprotokolle zum Beispiel. Unter anderem berichtet Schernikaus Mutter alias Irene Binz von ihrer bitteren deutsch-deutschen Biografie und davon, wie ein Mensch innerlich stumm wird, der seinen politischen Ort verliert. Im Finale – und es ist ein waschechtes – bewegen die Passagen, in denen Schernikau sich unverschlüsselt mitteilt: „krankheit, therapie, prophylaxe. Hilflosigkeit, sterben, distanz. Ein wissensstand. Eine beruhigung. Eine zeit, ein mitgefühl, ein verstandensein. Der alltag, das stückwerk, keine depression. Das maß der beteiligung.“
Solche Abschnitte bieten tatsächlich die Offenheit, die „legende“ permanent behauptet. Auch die Kapitel zur Pädophilie und zu den Konflikten zwischen Studenten und Arbeitern vermeiden es, Urteile vorzugeben, ermöglichen aber eine Urteilsbildung beim Leser. Die einmontierten Gedichte, eine rasante pornografische Szene und die Geschichten, die vom Schwulsein in der Gesellschaft der Achtzigerjahre erzählen, schlagen einen anderen Ton an als der politische Überbau der „legende“. Sie lassen einen ein und sind dabei immer formbewusst. Der Effekt: aus individuellen Geschichten werden historische Erfahrungen wie im Fall von der metrisch durchgearbeiteten Einlage „Irene Binz, die Frau im Kofferraum“. Von wegen: „die legende kennt das historische überhaupt nicht, sie kennt und erkennt nur tugend und wunder.“
Die Figuren (im Sinne von Charakteren und im Sinne von Schreibweisen) der Einlagen wirken in die Travestie-Teile zurück. Sie legen Widerspruch ein, ermöglichen Nähe und sorgen für eine sozialanalytische, aber auch ästhetische und psychologische Tiefe, der sich „Legende“ im Gestus verweigert. Heute würde man sagen, Ronald M. Schernikau arbeitet mittels Überaffirmation, um Widerstand zu leisten. Denn dies ist die Diagnose, die er der Gesellschaft stellt: „wenn einem alles egal ist, braucht man auch nichts zu tun. Die methode der menschen.“ In der Schwulen-Bewegung habe er gelernt, schreibt Schernikau: „daß die meisten, mit denen du schwul bist oder demonstrierst, sich selbst im weg stehn mit ihrem wollen: weil sie nicht mehr wolln als ihr wolln. (...) ihr wollen nicht zurückführn und weiter auf die welt. du wirst welt spielen müssen.“
Wenn Christa Bürger, deren genau gedachtes, in Zeiten von neuen Debatten um Politik und Literatur höchst aktuelles Buch „Mein Weg durch die Literaturwissenschaft“ gerade im Wallstein Verlag neu aufgelegt wurde, am Beispiel schreibender Frauen über eine Ästhetik nachdenkt, die sich jenseits des Kanons in der Formlosigkeit entwickeln musste, kann man in Hinblick auf Ronald M. Schernikau fragen, in welche Sprache seine Erfahrungen staatlicher und gesellschaftlicher Gewalt führten. Eine Antwort wäre die offensive Automatensprache als Versuch, die Dialektik von Beschreibung und Gegenbeschreibung zu unterlaufen: „es regnet, wasser fällt von oben. Sehr großer regen macht die häuser naß und die menschen, die nicht in ihnen sind.“
Beeinflusst wurde Schnernikau von den Beatniks, der dokumentarischen Literatur und Brechts Verständnis von politischem Schreiben. Schernikau selbst nennt als Wahlverwandte: Peter Hacks, Irmtraud Morgner, Gisela Elsner, Erika Runge. Antipoden, wenn auch respektierte und zitierte, sind Christa Wolf, Volker Braun, Heiner Müller. Solche im Westen bis 1990 gut ankommende „ddr-Schriftsteller“, die „immer so kritisch und wahrheitig“ tun, stehen bei Schernikau unter Affirmationsverdacht. Sie glauben in seinen Augen nicht an die Veränderbarkeit der Welt. Nach dem Motto: „wer die welt beim namen nennt, braucht sie nicht mehr zu ändern“. Widerstand in Schernikaus Sinn bedeutet dagegen: Ende des Gesprächs. Die ästhetische Konsequenz: sich „übers leben erheben, übers material“. In der Haltung heißt das, sich weder mit Prometheus noch den Göttern zu solidarisieren, sondern mit dem Adler, wie Schernikau es in seinem Prometheus-Gedicht tut. Das ist dann doch der „dritte Weg“. 1990 sprach Schernikau auf dem letzten Schriftstellerkongress der DDR und sagte: „Das Einzige, das mich interessiert bei der Arbeit, ist: Etwas loben können. Ich hasse Negation.“
So ganz hält er sich an all diese Dogmen nicht. Selbstverständlich beschreibt er die gesellschaftliche Situation der Achtzigerjahre, die Berufsverbote, die Wohnungsnot, die miese Asylpolitik. Den Zynismus der Sozialdemokraten, das Gesundheitssystem. Alles unverändert aktuelle gesellschaftliche und politische Schieflagen, als hätte sich nichts getan. Er ist außerdem einer der wenigen Autoren, die wirklich von der Situation der Frauen schreiben: von der ganz normalen Gewalt in deutschen Haushalten, auch von Menstruationsproblemen. Er denkt kritisch über Transsexualität nach, über den männlichen Körper und die Notwendigkeit, über Sex zu schreiben, also über Begehren und auch die Utopie der Polyamorie und die Erkenntnis, dass die Liebe längst organisiert ist, „in ausschließlichkeit, in notwehr und zweisamkeit.“ Er schreibt darüber was sie bedeuten, diese scheinbar individuellen Umstände – „Gedöns“ –, die eine Existenz prägen, darüber, wie Politik und Gesellschaft die Körper nutzen, um den Einzelnen fertig, also handlungsunfähig zu machen.
Das alles ist überaus beeindruckend, vor allem, wenn man bedenkt, wie jung dieser Autor war. Enttäuschend und dann doch vielleicht auch auf eine gewisse Jugendlichkeit und den Jargon der Zeit zurückzuführen sind die vereinfachenden politischen Parolen: „übrigens ist der rohstoff billig. Auch haben die neger keine maschinen, also kein wunder daß die neger unsere sprache sprechen und nicht wir ihre.“ Interessant ist, wie solche Sätze in ihrer auf Effekt setzenden Rücksichtslosigkeit heute allein dadurch überführt werden, dass rassistische Begriffe vollkommen unreflektiert in dieser linken Figurenrede verwendet werden. Das ist Ende der Achtzigerjahre nicht mehr zu entschuldigen, sondern zeigt eine Selbstgefälligkeit, die auch nicht durch Ironie-Behauptungen zu retten ist. Man fragt sich da schon, wie ein Schernikau heute reden würde.
Gut wäre gewesen, wenn die Herausgeber solche Konstellationen noch deutlicher bewertet und eingeordnet hätten. Neben vielen ausgesprochen hilfreichen Kommentaren zeugen Fußnoten wie die folgende eher von unfreiwilliger Komik: „Samuel Beckett: Warten auf Godot (En attendant Godot, 1952), absurdes Drama, das vergebliches Warten zum Thema hat.“ Der Kommentar, der selbst einräumt, von der Verweisdichte überfordert zu sein, erzählt von zweierlei: einer Verunsicherung, welches Wissen und welche Komplexitätstoleranz man noch voraussetzen kann. Vor allem aber wirkt er manchmal unsicher, wie Schernikaus literarische Qualität zu bewerten ist. Hat ein Text wie „Legende“ noch mehr zu bieten, als Dokument einer spezifischen politischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Situation zu sein?
Diese Unsicherheit fällt besonders auf, wenn man parallel den in allen editorischen Details makellosen ersten Band der Werkausgabe von Adolf Endler liest, der eine Generation vor Schernikau aus dem Westen in die DDR ging und über dessen Bücher seine Mutter im Interview sagte: „Alles, was er schreibt, ist heute noch ein Sich-wehren. (...) Andere mögen ja darüber lachen, ich finde da immer eine Bitterkeit drin.“ An einer Stelle wird Endler dort so zitiert: „Ich opponiere indessen gegen diese ständige zur Erstarrung und Abtötung des Lebens strebende Welt.“ Das wäre doch auch ein Satz gewesen, den Schernikau hätte sagen können, oder? Er findet aber nicht wie Endler in ein „Grillengrasgebell“, sondern holt Sichel und Fanfaren raus und gerät immer wieder an den Rand einer zu „Erstarrung und Abtötung“ neigenden Literatur. Liegt das daran, dass Schernikau seinerseits vielleicht weniger an die Wirkmacht der Literatur glaubte, als er zugab? Endler hingegen: „Ich bin das Sandkorn, Bruder, zu dir auf Wanderschaft / Rund um den ganzen Erdball und nicht die kleinste Kraft!“
Ronald M. Schernikau: legende. Hrsg. v. Lucas Mielke, Helen Thein und Thomas Keck. Verbrecher Verlag, Berlin 2019. 1072 Seiten, 58 Euro.
Es gibt etwa ein Dutzend
Haupfiguren, zwei schwule Paare,
und die „liberale öffentlichkeit“
Die gesellschaftlichen Probleme,
die er beschreibt, gibt es noch
heute, als sei nichts passiert
Der Kommentar räumt
selbst ein, von der Verweisdichte
überfordert zu sein
„Wenn einem alles egal ist, braucht man auch nichts zu tun“: der Schriftsteller Ronald M. Schernikau.
Foto: Frank Feiertag
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