Marktplatzangebote
4 Angebote ab € 4,99 €
  • Broschiertes Buch

Produktdetails
  • Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek 61
  • Verlag: Wagenbach
  • 1998.
  • Seitenzahl: 128
  • Deutsch
  • Abmessung: 13mm x 136mm x 221mm
  • Gewicht: 204g
  • ISBN-13: 9783803151612
  • ISBN-10: 3803151619
  • Artikelnr.: 07598582
Autorenporträt
Natalie Zemon Davis gehört weltweit zu den renommiertesten Historikern. Sie lehrte u.a. in Providence, Toronto, Berkeley, Paris, Princeton und Oxford. Seit ihrer Emeritierung 1996 lebt sie als freie Schriftstellerin in Toronto und ist wieder an der dortigen Universität tätig. In deutscher Sprache erschienen u.a. Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre (1984) und Drei Frauenleben (1996). Natalie Z. Davis wurde u.a. mit dem Toynbee-Preis (2000) und dem Warburg-Preis (2001) ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.11.1998

Der Mensch fragt immer wieder anders
Siebzig Jahre für die Frau: Die Selbstversuche der passionierten Historikerin Natalie Zemon Davis

Die Frage, wieso man das geworden sei, was man ist, ist für den Historiker eine besonders schwer zu beantwortende. Er, dessen Aufgabe vornehmlich das Erinnern und die rückblickende Sinnstiftung ist, muß, so scheint es, besonders gute Gründe für seine Entscheidung haben, Historiker geworden zu sein. Dieses Legitimationsproblem erzeugte in Frankreich Anfang der achtziger Jahre eine neue literarische Gattung im Bereich der Autobiographie oder - wie man heute sagt - der Ego-documents: Der "Essai d'ego-histoire" wurde im Umkreis der Annales-Enkel geboren und vom Großmeister der Erinnerungsorte, Pierre Nora, als posthistorische Antwort auf vermeintliche historische Objektivität präsentiert.

Ein neues Genre für ein neues Zeitalter des historischen Bewußtseins, Zeichen einer neuen Sensibilität des Historikers, der jetzt bereit sei, "die enge, fast intim zu nennende Verbindung einzugestehen, die er mit seinem Untersuchungsgegenstand unterhält". Solche autobiographischen Offenbarungen begannen dann gerne mit programmatischen Sätzen wie: "Ich bin Historiker, weil ich der Sohn der Toten bin und das Geheimnis der Zeit mich seit meiner Kindheit heimsucht."

Natalie Zemon Davis feiert am morgigen Sonntag ihren siebzigsten Geburtstag. Der Wagenbach-Verlag hat zu diesem Anlaß drei ihrer neueren Essais zu einem hübschen Band zusammengefaßt und an den Schluß ihre "Charles Homer Haskins Lecture for 1997" gesetzt: "Ad me ipsum. Ein (nicht nur) wissenschaftlicher Lebenslauf". Dieser Text spielt in erfrischender Selbstironie mit den Gesetzen der oben beschriebenen Gattung. "Über Geschichte wurde während meiner Mädchenjahre im Detroit der dreißiger Jahre beim Abendessen nicht gesprochen", lautet der Eingangssatz. Und auch die Szene der Berufung zum historischen Lehramt kommt wenig pathetisch daher: "Ich hatte geplant, in Geschichte zu promovieren, meine Kenntnisse dann aber in der Produktion von Dokumentarfilmen anzuwenden. Da Chan (der Ehemann) eine Hochschulkarriere einschlug, dachte ich, ,O.k., dann werde ich Professor.'"

Überhaupt erliegt diese Miniaturautobiographie nicht der gattungsspezifischen Gefahr, nachträglich eine Folgerichtigkeit in Lebensentscheidungen zu bringen, die dem Leser beweisen soll, wieso es mit Frau Davis so kommen mußte. Aber es werden doch Fixpunkte einer intellektuellen Biographie markiert, die sich in den klug ausgewählten Essais wiederfinden lassen und die eine bejahende Antwort auf Zemon Davis' Frage nahelegen: "Schreibt man als Historiker letzten Endes nur seine eigene Geschichte, unabhängig davon, wie sehr wir uns bemühen, die auf uns gekommenen Texte der Vergangenheit zu respektieren?"

Es sind alte Freunde des Geburtstagskindes, die sich zur Gratulation eingefunden haben: der echte und der falsche Martin Guerre, Leone Modena, Zevi Hirsch und natürlich Glikl von Hameln. Und es geht passenderweise um Fragen der Identität bei diesem Treffen. Der Betrugsfall Martin Guerre aus der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, in dem sich ein Mensch für einen anderen ausgab und dessen soziales Terrain in einem kleinen südfranzösischen Ort okkupierte, erregte die Gemüter aller späteren Jahrhunderte wohl vor allem deswegen, weil eine außergewöhnliche Hochstapelei zum Paradefall der autonomen Selbstbildung wurde und so auch den Lesern die Möglichkeit verhieß, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Daß die Frau des echten Martin Guerre mit dem Betrüger längere Zeit Tisch und Bett teilte, ihn dann jedoch selbst anzeigte, machte den Fall für die Historikerin auch unter psychologischen und feministischen Aspekten interessant. Montaigne hatte als einer der ersten in der langen Rezeptionsgeschichte das Phantasiepotential in dieser Betrügerei goutiert. Zemon Davis zeigt sich in ihren Fragestellungen immer wieder fasziniert von narrativen Strukturen, die Aufschluß über die Zeitumstände von Erzählungen geben können, so daß ein und dieselbe Geschichte in unterschiedlichen Jahrhunderten immer wieder anders erzählt wird.

Ihr Ausgangspunkt bei der Untersuchung von "Selberlebensbeschreibungen" der Frühen Neuzeit war dann auch die Frage, was in der Darstellung des Ich in den Jahrhunderten des noch nicht verschriftlichten Gedächtnisses möglich war. Am Beispiel der Autobiographie des venezianischen Rabbis Leone Modena zeigt Zemon Davis Spezifika jüdischer Identität zwischen Privatheit und Öffentlichkeit auf. Leone Modena zeichnet sein Leben nicht als Entwicklungsgeschichte, eher als eine Geschichte des Scheiterns und der ständigen Prüfungen, in der jede historische Erfahrung eingebunden ist in die leidvolle Exilserfahrung des gesamten Judentums. Entgegen einem verbreiteten Deutungsmuster von Individualität, die sich gegen die sie umgebenden Kollektive wie Familie und Gesellschaft in einem Kraftakt absetzen müsse, um als individuell anerkannt zu werden, findet man - so die These - im jüdischen Milieu eine besondere Form kollektiver Individualitätsbildung, die durch eine wesentlich größere Durchlässigkeit von Innen und Außen, von Individuum und Familie gekennzeichnet ist. Die Abschließung nach außen gegen die zumeist feindliche Umwelt spielt sich im Judentum der Frühen Neuzeit kollektiv ab, Privatheit gerät nicht in Gegensatz zur Familie oder zur ghettoisierten Glaubensgemeinschaft, die privaten jüdischen "Geheimnisse" verbreiten sich vergleichsweise öffentlich im gesamteuropäischen jüdischen Network.

Die gleiche Durchlässigkeit von öffentlicher und privater Sphäre findet Zemon Davis auch in den "Denkwürdigkeiten" der Glikl von Hameln, die schon Werner Sombart zur Stützung seiner Thesen über "Die Juden und das Wirtschaftsleben" herangezogen hatte. Für ihn war "das spezifisch Jüdische gerade diese Naivität, diese Selbstverständlichkeit, diese Unverblümtheit", mit der "das Geldinteresse in den Mittelpunkt aller Lebensinteressen gestellt wird". Zemon Davis zeichnet die fortuna critica dieser Abstrusitäten nach und destruiert sie: In den Memoiren der Glikl wie auch in den autobiographischen Texten von Zevi Hirsch und Jakob Emden kann sie eine untrennbare Verknüpfung von Gewinninteresse und kollektivem Ehrbegriff nachweisen. Neben das Streben nach materiellem Gewinn tritt so im jüdischen Wirtschaftsleben ein kulturbildendes Element, das sich in den ständigen fließenden Übergängen von Geschäft und Familie entfaltet. Die Antwort auf die große Frage nach dem Zusammenhang von wirtschaftlichem und kulturellem Wandel würde im jüdischen Milieu somit in der Tat anders ausfallen als im christlichen.

Aus der Differenzerfahrung heraus, aus dem "Auskosten des Unterschieds", wie Zemon Davis es nennt, unmodisch die richtigen Fragen zu stellen, das war und ist die große Stärke der Jubilarin. Daß sie dabei in vielen Fällen Themen behandelt hat, die später von Zauberlehrlingen und -lehrmädchen modisch vereinnahmt wurden, braucht sie nicht zu stören. Ihr bleibt der Ruhm, daß sie - Zufall oder nicht - beinahe als erste in "ethnographisch-komparativer" Absicht die Fragen nach weiblicher Identität und kultureller Differenz an die Frühe Neuzeit gestellt hat. CHRISTINE TAUBER

Natalie Zemon Davis: "Lebensgänge". Glikl. Zevi Hirsch. Leone Modena. Martin Guerre. Ad me ipsum. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Kaiser. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1998. 80 S., geb., 29,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr