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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.02.2000

Engländer sind alte Wandervögel
Wie T. E. Lawrence gegen seinen Willen das Empire rettete

Seit 1922 ist kaum ein Jahr vergangen, in dem nicht wenigstens ein Buch von oder über T. E. Lawrence (1888 bis 1935) erschienen ist. Schon bald nach dem Ersten Weltkrieg hatten vier Millionen Menschen in Großbritannien, Kanada und den Vereinigten Staaten den Vorträgen von Lowell Thomas, einem Boulevard-Journalisten, gelauscht, der ein romantisches Bild von seinem Helden zeichnete, das mit der Realität nur sehr wenig gemein hatte. Lawrence war wider Willen ein Medienstar geworden. Doch den Rest seines Lebens musste er gegen den Mythos um seine Person kämpfen.

Seit 1989 hat Lawrence einen verlässlichen Verbündeten: Jeremy Wilson, den Autor seiner "autorisierten Biografie", welches dickleibige Buch nun auch in deutscher Sprache vorliegt. Es gibt auf der Welt wohl keinen besseren Lawrence-Kenner. Nur für die Materialsammlung - allein von Lawrence sind 4000 Briefe erhalten - hat der Autor mehr als zehn Jahre benötigt. Trotz oder gerade wegen all dieser Anstrengungen ist auch Wilson dem Mythos erlegen, und zwar in tragischer Weise. Er kämpft mit solcher Verve gegen die Legenden, dass nach den 655 Textseiten kein schlüssiges Bild entstanden ist.

Fast alle Menschen, die mit Lawrence in Kontakt kamen, spürten, dass er trotz seiner kleinen Statur - er maß nur 1,65 m - ein besonderer Mann war. Schon früh war seine unbändige Willenskraft erkennbar. Er erlegte sich schon in der Schule harte Proben wie Schlafentzug und gezieltes Fasten auf. Auch während seiner Studienzeit in Oxford blieb er ein Einzelgänger. 1910 hatte er seine Mutter in einem Brief gefragt: "Warum hat man an nichts Gefallen, wenn andere Menschen dabei sind?" Andererseits neigte Lawrence dazu, Menschen zu manipulieren. Er hatte Übung in der Kunst, einige Schritte vorauszudenken und die Reaktionen seiner Mitmenschen zu antizipieren. Er war ein Intellektueller, der sich nach geistigem Austausch sehnte und zugleich die unumschränkte Lufthoheit beanspruchte. Zudem liebte er es, zu provozieren und zu schockieren. Arroganz und Unsicherheit bildeten ein explosives Gemisch.

Der erste Wendepunkt in seinem Leben war 1910 mit seinem plötzlichen Entschluss gekommen, nach Karkemisch zu gehen und dort, nördlich von Damaskus, die Hauptstadt der syrischen Hethiter auszugraben. In seinen Briefen fällt er immer wieder in ein viel sagendes "wir", wenn er vom Leben mit den Arabern berichtet. In diesen Jahren, während sich in Europa der große Krieg ankündigte, entwickelte Lawrence eine tiefe Abneigung gegen den Imperialismus und Rassismus der Alten Welt. Wilson arbeitet dies eindrucksvoll heraus und unterstreicht, dass die Charakterbildung von T. E. Lawrence bereits vor Ausbruch des Weltkrieges zu einem Ende gekommen sei.

Lapidar stellt der Biograf dies fest. War der Charakter seines Helden aber wirklich so gefestigt, dass die "Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts" (George F. Kennan) ihn nicht fundamental verändern konnte? Diese Weichenstellung des Autors trennt Lawrence frühzeitig von den kollektiven Erfahrungen seiner Altersgenossen. Wilson begibt sich mit dieser engen Perspektive der Möglichkeit, jenseits des Lawrence-Universums nach Bezugsgrößen und Vergleichspunkten Ausschau zu halten. Beispielsweise war der bei Lawrence stark ausgeprägte Anti-Imperialismus ein Phänomen der Zeit. Er lag in Großbritannien ebenso in der Luft wie der hypertrophe Imperialismus eines Joseph Chamberlain.

Am 9. Dezember 1914 reiste Lawrence als Leutnant nach Kairo, wo er der Nachrichtenabteilung zugeordnet wurde. Hier konnte er im Kreise von Gleichgesinnten - Historikern, Volkskundlern, Archäologen - und fernab von militärischer Disziplin Zukunftspläne schmieden. Gleichzeitig hatte er Einblick in viele geheimdienstliche Informationen. Innerhalb weniger Monate wurde er zu einem der besten Kenner des arabischen Kriegsschauplatzes. Syrien war und blieb sein Spezialgebiet. Früh hatte er gegenüber einem befreundeten Offizier bekannt: "Dies ist ein Krieg zugunsten der Freiheit und kleiner Völker, nicht zugunsten französischer Kapitalisten." Lawrence träumte von einem arabischen Aufstand gegen die osmanische Fremdherrschaft.

In einem historischen Moment im Herbst 1915 fielen die Interessen des britischen Weltreichs und der unter osmanischer Herrschaft lebenden Araber zusammen: Ein drohender Angriff der Türken auf Ägypten sollte durch einen von den Briten unterstützten Aufstand zumindest abgefedert, wenn nicht unmöglich gemacht werden. Es war eine klassische Entlastungsstrategie, doch auch für diese Option musste London einen Preis entrichten. Sollten die Araber Erfolg haben, musste man ihnen wirklich entgegenkommen. Gleichzeitig hätten jedoch auch andere Länder und Regionen, die mit Soldaten die Entente unterstützten, das Recht, Verbesserungen ihres Status im Empire zu fordern.

Das Sykes-Picot-Abkommen vom Januar 1916 rückte die Prioritäten dann wieder in eine - man ist geneigt zu sagen: natürliche - Reihenfolge. In dieser britisch-französischen Vereinbarung einigten sich die beiden Großmächte über die Aufteilung des Osmanischen Reiches nach dem Krieg. Das geheime Abkommen stand in diametralem Gegensatz zu den Absprachen, die mit den arabischen Herrschern getroffen worden waren. Lawrence befand sich in einem Loyalitätskonflikt, der ihn bis an den Rand des seelischen Zusammenbruchs trieb.

Nachdem der Aufstand am 5. Juni 1916 ausgebrochen war, wurde aus dem Analytiker geheimdienstlicher Informationen rasch ein frontnaher Militärberater. Am 3. Januar 1917 erhielt Lawrence seine Feuertaufe. Während des Feldzuges entwickelte Lawrence zu Feisal, dem späteren König des Irak, ein solch enges Vertrauensverhältnis, das ihn veranlasste, gegenüber diesem arabischen Fürsten den Inhalt des Sykes-Picot-Abkommens zu offenbaren. Dieser Geheimnisverrat hat dann Feisal dazu bewogen, seine gesamte Strategie zu verändern. Mit der Besetzung Syriens durch arabische Truppen wollte er Fakten schaffen.

Und tatsächlich begannen die arabischen Truppen zu siegen. Trotz großer Bedenken über ihre Kampftauglichkeit, die Lawrence teilte, vertrieben sie die Türken aus wichtigen Positionen. Der Autor zeichnet diesen Vormarsch in allen Details nach. Er würdigt die herausragenden Leistungen von Lawrence, doch fallen seine Schilderungen farblos aus. Auch die Gefangennahme in Deraa und die sich anschließende Vergewaltigung durch den homosexuellen Stadtkommandanten Ende November 1917 werden in geradezu beiläufigem Ton geschildert. Wilson betont jedoch zu Recht, dass die Vergewaltigung tiefe seelische Wunden hinterlassen habe. Nach seiner geglückten Flucht war es Lawrence' fester Entschluss, niemals wieder lebend in türkische Hände zu fallen.

Schon am 30. September 1918, als die siegreichen arabischen Truppen in Damaskus einzogen, zeichnete sich ab, dass es trotz aller Zusicherungen nicht zu einem geeinten Reich der Araber kommen würde. Als "Berater in Spezialfragen" nahm Lawrence an der Konferenz von Versailles teil, wo die Zukunft Syriens nur als Marginalie behandelt wurde. Er verfiel in Depressionen, die sich durch die Gewissheit über seine uneheliche Geburt noch verdüsterten.

Am 14. August 1919 begann ein neuer Abschnitt in seinem Leben. An diesem Abend füllte Lowell Thomas erstmals einen Saal. Der Mythos war geboren. Wilson beschreibt diese Entwicklung, ohne Erklärungen anzubieten. Nur in einem Nebensatz geht er darauf ein, dass die Schrecken des Grabenkrieges wenig Stoff für Idealisierungen boten. In Frankreich hatte sich die hässliche Fratze des Krieges gezeigt. Ganz anders im Orient: Schon allein die Wüste als Kriegsschauplatz beflügelte die Fantasie der Öffentlichkeit. Von Kamelen und Oasen, flirrender Hitze und Sandgebirgen konnte man träumen. Hier hatten Lawrence und seine Freunde einem übermächtigen Feind getrotzt. Diese Ausführungen des Sensationsreporters bedienten auf geschickte Weise kollektive Erwartungen der Briten. Seit Jahrhunderten wurden auf der Insel solche Geschichten erzählt.

Lawrence konzentrierte nun auf die Abfassung seiner Erinnerungen, die er "Die Sieben Säulen der Weisheit" taufte. Lange Jahre sollte dieses Projekt Lawrence unter einer Art Bannstrahl halten. Trotz anderer Bücher und sehr beachteter Übersetzungen - darunter der Odyssee - kam Lawrence davon nicht los. Es hatte den Anschein, als raube ihm das Buch die Lebenskraft; gleichzeitig war seine Arbeit daran für ihn Lebenselixier. Im Winter 1921 kehrte Lawrence nochmals auf die große Bühne zurück. Unter seiner tätigen Mithilfe gelang es Winston Churchill in seiner Position als Kolonialminister auf der Kairoer Konferenz im März 1921, die britischen Interessen in Arabien neu zu ordnen. Im Irak wurde Feisal als König installiert. Lawrence selbst sah seinen Beitrag zu diesen Absprachen als seine größte Leistung.

Anfang Januar 1922 bat er den Oberbefehlshaber der neu entstandenen Royal Air Force um die Möglichkeit, als einfacher Soldat in die Luftwaffe eintreten zu dürfen. Über seine eigentlichen Motive war er sich selbst nicht im Klaren, doch schrieb er ein knappes Jahr später an einen Freund, dass dieser Schritt ihm nahezu aufgezwungen worden sei, "durch meine Neigung, mich nach unten zu orientieren, durch den kleinen Wunsch, mich etwas menschlicher zu machen, durch das Verlangen, im Mob des Durchschnitts selbst zum Durchschnitt zu gehören". Und doch brachte er es nicht fertig, in der Masse unterzutauchen. Obwohl er, wie Wilson schreibt, von der "Idee der Anonymität fasziniert" war, suchte er den Kontakt mit den Großen der Welt. Zerrieben zwischen seiner wohl passiven Homosexualität - unerschöpfliches Sujet für alle Lawrence-Experten - und den Erinnerungen an seine Vergewaltigung, ließ er sich von Kameraden wiederholt auspeitschen, um seine inneren Dämonen zu bändigen.

Wilsons Interpretationen dieser persönlichen Eigenschaften seines Protagonisten greifen zu kurz. Er versucht zwar nicht, Lawrence als Heiligen darzustellen, doch bleiben viele seiner Erklärungsversuche an der Oberfläche. Wenn sich Wilson beispielsweise unter Hinweis auf das sehr viel einfühlsamere Buch von John E. Mack weigert, "im Rahmen dieser historisch angelegten Biographie Spekulationen über psychologische Fragen anzustellen", dann ist offensichtlich, dass der Autor seinem Helden und vor allem seinen Lesern nicht gerecht wird. Letztere erwarten nicht "Spekulationen", sondern Deutungsversuche eines Historikers, der sich über lange Jahre mit Lawrence beschäftigt hat. Der getriebene Held suchte sein Heil am Ende in Gleichförmigkeit und Arbeit. In einem Brief bekannte er 1928: "Monotonie im Leben ist gut."

Wilson erkennt nicht, dass Lawrence ein Unzeitgemäßer war, der in vielerlei Aspekten seiner Zeit voraus war und doch im neunzehnten Jahrhundert verwurzelt blieb. Er war ein Anti-Imperialist, der half, das Überleben des Empire zu sichern. Er hatte dies nicht nur mit seinen unbestrittenen Leistungen während des großen Krieges getan, sondern auch - und hier liegt wohl seine eigentliche Tragik - mit den Geschichten, die sich um seine Person rankten. Die kollektiven Erinnerungen an die realen oder imaginierten Leistungen des englischen Wüstensohns beflügelten seine Landsleute. Im Zweiten Weltkrieg trugen sie die "Sieben Säulen" im Tornister.

Bleibt zu fragen, ob Thomas Edward Lawrence im 1939 von Hitler entfesselten Weltenbrand erneut eine Rolle zugekommen wäre. Vielleicht als Montys Berater in Ägypten? Doch das ist in der Tat eine Spekulation.

HARALD BIERMANN

Jeremy Wilson: "Lawrence von Arabien". Die Biographie. Aus dem Englischen von Suzanne Gangloff. List Verlag, München 1999. 720 S., Abb., geb., 64,- DM.

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