Reste aus Lektüren, Gesprächen, Begegnungen. Es ist weder etwas durch Arbeit rechtmäßig Erworbenes noch etwas Geschenktes, sondern etwas Loses dazwischen, das mit Zufall und Abfall zu tun hat und philosophisch, ökonomisch, mythologisch bisher kaum erfasst worden ist. Dennoch habe es, so Judith Kasper, als Geste, Metapher oder Begriff vielfältig die Geschichte auch der Moderne begleitet.
Daraus an den Rändern der postmarxistischen Gesellschaftstheorie zwar keine Gegentheorie, wohl aber mit philologischer und psychoanalytischer Aufmerksamkeit für Sprachreste eine Sensibilität "für andere Töne und Gesten" entwickeln zu wollen setzt einen disziplinübergreifend breit gefassten Blick voraus. Den hat die an der Frankfurter Goethe-Universität lehrende Komparatistin zweifellos. Sie geht bis auf die Figur der alttestamentlichen Moabiterin Ruth zurück, die junge Witwe, die mit ihrer ebenfalls verwitweten Schwiegermutter Noomi nach Bethlehem kommt, sich dort zunächst als Ährenleserin durchschlägt und als Gattin von Boas dann ein Mitglied der langen Ahnenlinie von König David gebiert. Doch habe die in keine Ökonomie der Gabe überführbare Nachlese als Erfahrung des Mangels in der abendländischen Kultur keinen Begriff, als Gebot kein Gesetz und kulturgeschichtlich kaum ein Motiv hervorgebracht, schreibt die Autorin. Sie habe sich allenfalls am gesellschaftlichen Rand als Erfahrung von etwas Prekärem, Sporadischem, Singulären festgesetzt.
Zum Glück für den argumentativen Fortgang des Buchs lässt sich das Phänomen im Bereich des modernen Rechtswesens schärfer fassen. Nachdem das Auflesen des auf den Feldern Liegengebliebenen sich für die Habenichtse in den Feudalgesellschaften weit übers Mittelalter hinaus als mehr oder weniger generöses Gebrauchsrecht gehalten hatte, geriet es durch das bürgerlich festgeschriebene Eigentumsrecht und seine Arbeitsmoral zusehends in die Enge. Besonders inspiriert wirkt in diesem Zusammenhang Kaspers sorgfältige Analyse eines 1842 verfassten Zeitungsartikels von Karl Marx über ein damals im Rheinischen Provinziallandtag anstehendes Holzdiebstahlgesetz. Marx' so scharfe wie ironische Kommentare zu den Spitzfindigkeiten, wann genau das Raffholzsammeln der Frierenden in den Wäldern in Holzfrevel und wann weiter in Holzdiebstahl übergehe, liest die Autorin subtil als verloren gegangene Spur einer ökonomisch-politischen Theorie der Nachlese. Dem Tun der Holzsammler am Rand der Legalität attestiere Marx zwar ein Stück emanzipatorische Kraft. Indem er in ihnen statt handelnder Subjekte aber hartnäckig nur die "elementarische Klasse" sieht, rücke er sie in eine gesichtslos anonyme Distanz, als wäre ihre gebückte Haltung "für ein marxistisch-sozialistisches Denken zu sehr der Erniedrigung verhaftet".
Mit dem Sprung von der klassisch sozialen zur geosozialen Problematik, wie Bruno Latour sie gelegentlich skizzierte, landet man dagegen hart an der Grenze zu einer möglicherweise zukunftsträchtigen Gesellschaftstheorie. Wo das Auflesen von Abfall - man darf auch das "Containern" vor den Supermärkten dazu zählen - die Determinierung als bloßes Unterdrückungsverhältnis gegenüber dem Eigentümer abstreift, könnte man in ihm ein eigenständiges Verhalten im Rahmen dessen sehen, was die nur sich selbst gehörende Natur uns zu geben vermag. Immer hält die Autorin aber an solchen Theorieschwellen im Buch inne und versichert, es gehe ihr nicht um Denksysteme, sondern um Spurensuche. Man mag das manchmal bedauern. Doch lässt sich die Nachlese vielleicht tatsächlich in kein System bringen. Judith Kasper belohnt uns dafür mit kurzen Zwischenkapiteln zu eigenen Erinnerungen, vom Gang über schwäbische Streuobstwiesen, vom Waldbeerensammeln oder aus der politischen Tagesaktualität.
Am ergiebigsten ist das Thema im Bereich der Literatur und der Kunst. Jean-François Millets berühmtes Bild "Des Glaneuses" aus dem Jahr 1857 mit den drei Ährenleserinnen im Vordergrund wird im Buch - auch rezeptionskritisch - als tendenzielle Verkennung des Themas Nachlese interpretiert. Die unter den zentralperspektivisch angelegten Bildhorizont gebückten Frauen seien dem positiven Gestus ihres Tuns am Rand des Erntefelds wohl kaum gewachsen, kommt es der Autorin vor. In Balzacs Roman "Die Bauern" vom Ende des herkömmlichen Bauernstandes im Frühkapitalismus macht sie hingegen die Nachlese als eine Scharnierstelle im geschilderten Klassenkampf aus. Sie liest den Roman parallel zum "Achtzehnten Brumaire" von Marx. Gegen dessen Vorstellung von der unermüdlichen Maulwurfsarbeit revolutionärer Enteignung erkennt sie bei Balzac die Idee eines Gesellschaftsverhaltens, die statt auf Verteilungskampf mehr auf Verantwortung und das wiedergefundene Vertrauen setzt, dass die Erde für alle etwas übrig hat. Naive Überinterpretation? Mit der Feststellung, dass auch Balzacs Roman eher die Nichterzählbarkeit der Nachlese erzähle, fällt die Autorin sofort sich selbst ins Wort.
Ob man den weiteren Ausführungen zu Flaubert, den Brüdern Grimm, Ferdinand de Saussure oder Jacques Lacan im Einzelnen folgt oder nicht, anregend sind sie fast immer. Der analytische Hochseilakt einer theoretischen Unmöglichkeit - das Thema der Nachlese in den Griff zu bekommen - ist weitgehend gelungen. Offenheit des Blicks, Einfallsreichtum, Gespür für Nuancen, Schlüssigkeit der Assoziationen und Hypothesen, geschliffener Stil und ein elegant gezügelter subjektiver Ton finden hinter dem etwas obskuren Buchtitel zusammen. Die Umdeutung des sozialgeschichtlichen Relikts der Nachlese zum Vorschein - wie Ernst Bloch statt "Utopie" lieber sagte - eines Denk- und Gesellschaftsmodells leuchtet ein. Die Spuren sind gelegt, man kann weiterlesen. JOSEPH HANIMANN
Judith Kasper: "Land und Streit". Spuren der Nachlese.
Matthes & Seitz Verlag,
Berlin 2024. 239 S., Abb., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main