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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.03.2005

Kontrolle statt Einfluß
Ein Handbuch über die sechzehn deutschen Landesparlamente

Siegfried Mielke/Werner Reutter (Herausgeber): Länderparlamentarismus in Deutschland. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004. 510 Seiten, 24,90 [Euro].

Es sind zwei Gründe vorstellbar, um dieses Buch zu lesen. Zum einen läßt es sich als Handbuch benutzen. Wer wissen will, in welcher Koalition zum Beispiel der baden-württembergische Ministerpräsident Gebhard Müller 1953 regierte, kann es hier schnell erfahren. Auch erhält der Leser die wichtigsten Informationen über die Entstehung und Entwicklung der sechzehn Bundesländer. Dabei geben die Autoren des Sammelbandes, einige sind bekannte Föderalismusforscher, auch die eine oder andere landestypische Besonderheit preis: daß Niedersachsen zum Beispiel noch immer eine - offenbar aus der Weimarer Republik übernommene - parteienkritische Formulierung in der Verfassung hat oder daß sich in Rheinland-Pfalz in der Verfassung Elemente der katholischen Naturrechtslehre, abweichend von den Normen des Grundgesetzes, erhalten haben. Etwa die "Treuepflicht gegenüber Staat und Verfassung". Die als Koedukationsverbot interpretierte Orientierung der Schule an der "Eigenart der Geschlechter" und die Ermöglichung der Todesstrafe wurden erst 1991 mit einer Verfassungsreform als Anachronismen gestrichen, Reste der katholischen Soziallehre haben sich aber bis heute in der Landesverfassung erhalten, zum Beispiel die Aufforderung an die Schulen, die Jugend zu "Gottesfurcht und Nächstenliebe, Achtung und Duldsamkeit" zu erziehen. In dieser Hinsicht erfüllt der Band sein Versprechen, ein solides Handbuch zu sein.

Es gibt aber noch einen anderen, zweiten Grund dafür, auf das Buch neugierig zu sein, nämlich die aktuelle Diskussion über die Föderalismusreform. Dieses Thema hat politisch selbstverständlich mehr Gewicht als jede landesgeschichtliche Anekdote. In jedem der sechzehn Aufsätze wird der "unbestreitbare Niedergang des Landesparlamentarismus" (Uwe Thaysen) beklagt. Gemessen wird er immer am politischen Einflußverlust der Landtage: Was für Hessen gezeigt wird, gilt wohl in der Regel auch für die anderen Länder: Die 1969 eingeführten Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern haben zu einer starken Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung und einer "horizontalen" Koordinierung der Landespolitiken durch Fachministerkonferenzen geführt. Das hat den Einfluß der Landesparlamente geschwächt, den der Exekutiven gestärkt, selbst in der Schul- und Hochschulpolitik haben die Ministerpräsidenten mehr Gestaltungsmacht als die Parlamente.

Bei Bundesratsinitiativen werden die Fraktionen erst spät informiert. Hinzu kommt in fast allen Ländern eine Modernisierung des Haushaltsrechts, die Einführung von Globalhaushalten. Hierdurch sind die Gestaltungsmöglichkeiten der Haushaltspolitiker erheblich eingeschränkt worden. Auch der Versuch vieler Landesregierungen und Landtagsfraktionen, auf die Politik der Europäischen Union mehr Einfluß zu bekommen, dürfte nur mäßig erfolgreich ausgefallen sein. Für Hessen beschreibt Theo Schiller diesen Versuch sehr treffend so: "Die bisherige Praxis des Landtages zu europapolitischen Themen hat sich allerdings nicht als besonders fruchtbar erwiesen. So fanden in Vorbereitung der Regierungskonferenz von Amsterdam zwar mehrere Beratungen im Europaausschuß und im Plenum statt, für eine ernsthafte Beeinflussung der Position der Landesregierung und des Bundesrates kamen diese jedoch zu spät. Zum EU-Projekt ,Agenda 2000' setzte die Befassung des Landtages 1997/98 ebenfalls verspätet ein und reichte auch mangels Beratungsintensität zu nicht mehr als formaler Zustimmung. Die Mehrstufigkeit zwischen Landesebene und EU-Ebene und der Koordinationsbedarf zwischen den Ländern untereinander und dem Bund erwiesen sich als gravierende strukturelle Hürden für Versuche des Landtags, europapolitisch mitzuwirken."

So ist es nicht sonderlich überraschend, daß die Herausgeber der in der Forschung und zum Teil auch in der Publizistik zum Klischee erstarrten Behauptung Gerhard Lehmbruchs von der Einflußlosigkeit der Landesparlamente zustimmen, allerdings schränken sie ein, dieser Einflußverlust sei mit der Ausweitung der Kontrollrechte der Parlamente kompensiert worden. Das mag für parlamentarische Untersuchungsausschüsse richtig sein, an der Exekutivlastigkeit der Landespolitik und dem zunehmenden Machtgewinn der Ministerpräsidenten ändert es wenig. Mit Blick auf die Föderalismuskommission hofften viele Landespolitiker, daß die Landesparlamente wieder "materielle Substanz" zurückgewinnen können, damit sie künftig wieder - wie Uwe Thaysen formuliert - eine "Grundlage ihrer Eigenstaatlichkeit" haben. Leider bleibt diese Aussage für das Buch selbst aber folgenlos: Denn eine systematische Analyse, wie die Länder wieder Macht und Einfluß zurückgewinnen könnten, wie sich der "verkappte Einheitsstaat" zurückdrängen ließe, fehlt. Auch hätte man sich gewünscht, daß die Autoren zum Beispiel die Ausweitung der direkten Demokratie in allen Ländern durch Verfassungsreformen sowie das sich wandelnde Verhältnis der Bürger zur Landespolitik systematisch analysiert hätten.

Auch bei der Erörterung neuerer verfassungsrechtlicher Probleme ist der Band nicht immer auf der Höhe der Zeit. Ein Beispiel: Zu Recht weisen die Autoren darauf hin, daß die Rechte der Opposition in den meisten Länderverfassungen berücksichtigt worden sind, auf die sich hieraus ergebenden verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten im Falle einer Minderheitsregierung gehen sie aber nicht ein. Dafür hätten sie auf so manche Tabelle zur Altersstruktur von Landtagsabgeordneten oder auf ausführliche parlamentssoziologische Ausführungen ruhig verzichten können. Dann hätten die Herausgeber nicht nur ein sehr brauchbares Nachschlagewerk vorgelegt, sondern auch einen Beitrag zu einer der wichtigsten Reformdiskussionen geleistet.

RÜDIGER SOLDT

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Geteilter Meinung ist Rezensent Rüdiger Soldt über den von Siegfried Mielke und Werner Reutter herausgegebenen Sammelband "Länderparlamentarismus in Deutschland". So findet er den Band als ein Nachschlagewerk, das über die sechzehn deutschen Landesparlamente sowie über Entstehung und Entwicklung der sechzehn Bundesländer informiert, "sehr brauchbar". Als Beitrag zur aktuellen Diskussion über die Föderalismusreform allerdings scheint ihm das Buch weniger gelungen. Der These von der Einflusslosigkeit der Länderparlamente begegnet er mit Skepsis, zumal eine systematische Analyse, wie die Länder wieder Macht und Einfluss zurückgewinnen könnten, fehlt. Auch hätte er sich eine Analyse der Ausweitung der direkten Demokratie in allen Ländern durch Verfassungsreformen gewünscht und des sich wandelnden Verhältnisses der Bürger zur Landespolitik. Zudem scheint ihm der Band zum Beispiel bei der Erörterung neuerer verfassungsrechtlicher Probleme nicht immer auf der Höhe der Zeit.

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