Produktdetails
  • Fiction & Cie
  • Verlag: Editions du Seuil / Import
  • Seitenzahl: 220
  • Französisch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 276g
  • ISBN-13: 9782020381123
  • Artikelnr.: 25685906
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.05.2001

Sachlich sei der Sex
Catherine Millet und ihr leidenschaftsloser Selbstenthüllungsroman
Die Hauptperson ist ein Phänomen. Auf dem Fernsehschirm, in Bernard Pivots „Bouillon de Culture”, wirkt sie freundlich, verklärt, und, wirklich, etwas schüchtern. Und doch ist sie die Protagonistin des französischen Literaturskandals dieses Frühjahrs, in dem es darum geht, wie viel Sex die Gesellschaft verträgt, und was es bedeutet, wenn seine Bilder sie dominieren.
Das Phänomen ist eine Dame, sie heißt Catherine Millet und ist seit Jahren Directrice der französischen Kunstzeitschrift artpress. Eben ist von Millet ein Büchlein auf Deutsch erschienen („Zeitgenössische Kunst”, Lübbe, 126 S., 12,90 Mark), das sie in Frankreich nicht berühmt gemacht hat. Mit ihrer Erzählung „La vie sexuelle de Catherine M.” (Récit. Editions Seuil, 221 S., 110 FF), deren Übersetzung wohl nicht lange auf sich warten lassen wird, ergeht es ihr gerade anders. Gleich zwei ganze Tageszeitungsseiten hat Le Monde ihrem literarischen Erstling gewidmet.
Das kriegt kaum einer. Wie macht man das? Die drei Fotos zum Monde-Artikel legen nahe, dass Madame Millet sich ausgezogen hat. Zuerst für Jacques Henric, ihren Mann. Doch auch mit der Publikation der Fotos wäre Millet kaum bekannt geworden. Es gibt schon viele Nackte im Bild. Es hat zum Medien-Event, das mit Hilfe von Philippe Sollers gut organisiert war, ein Buch gebraucht, in dem nur Buchstaben stehen. Es erzählt, deutlich autobiografisch versetzt, von der ausschweifenden Neigung der Kunstzeitschriften-Directrice zum, ja, Gruppensex. Die Frau macht sich zum Objekt. Französisch klingt das netter: Man schreibt „partouzer”.
Die Fotos, wie die Erzählung, sind selten reißerisch, der Stil meist lapidar: Millet ist alleine, steigt in einen Wohnwagen, sitzt am Straßenrand, läuft nur mit einem Mantel bekleidet durch die Bahnhofshalle von Port Bou. Natürlichkeit von Nacktheit im Alltag wird inszeniert. Schwarzweiß spielen einige, über den apathischen Blick der Darstellerin, ironisch mit dem Topos Verführung. Andere haben den schwierigen Charme von DDR-FKK-Urlaubsbildern, manche zitieren aus dem fotografischen Bild von 68er Kommunen.
Ginge es nur darum, dass eine Frau einen Porno geschrieben hätte – niemand wunderte sich heute. Das Genre hat seine Kunden. Doch das Erstaunliche an Millets Buch ist, dass sie, wie auf den Fotos, darin eine nicht da gewesene Offenheit als Ausdruck von Natürlichkeit behauptet. Die Lektüre wird nicht durch brutale Perversionen schmackhaft gemacht. Auch keine „nymphomanische Hysterie” bestimmt den Ton, kein stilistisches Anmach-Gehabe. Leserin und Leser werden mit den „Fakten” konfrontiert: der a-personalen Struktur dieser Sexualität, ihren schmuddligen Schauplätzen, vom Parkplatz bis zu den Gebüschen des Bois de Boulogne. Mit der Zahl der Männer (5, 10, 30), denen die schüchterne Millet sich dort zur Verfügung gestellt hat. Mit ihrer Hingabe . Dabei vernachlässigt sie nie die freizügige Beziehung zu Henric, dem Lebenspartner über 30 Jahre hinweg.
Das Besondere von Millets Buch zeigt am deutlichsten der Kontrast zu Henrics die Fotos begleitenden „Legenden”, die parallel ebenfalls als Buch erschienen sind(„Légendes de Catherine M.”, Denoël 2001, 205 S., 130 FF). Statt Millets Lakonie bietet Jacques Henric einen symbolischen Wald. Kaum eine Seite lang kommt der ältere Herr, der sich auf dem Autorenfoto in einen Motorraddress geworfen hat, ohne Hinweise auf Größen wie Bataille, Sartre, Benjamin und viele andere aus. Sehr viele Zitate, wenig eigene Gedanken. Und hinter jeder Referenz steht die beflissene Absicht: Ich erklär’ euch, was es bedeutet.
Es hat nicht viel zu bedeuten, sagt Millet. Es hat auch keine besonderen Gründe. Weder enorme Repressionen, noch psychische Deformationen. Auch keine großen Freiheitswünsche. Ohne jede Dramatisierung, ohne jedes Pathos der Leidenschaft erzählt Millet souverän, wie die mit ihr unverwechselbare Kunstfigur Catherine M. kurz nach dem ordentlichen Verlust der Jungfräulichkeit mit 18, als Mädchen auf ein Fest in Lyon kommt, wo sie zum erstenmal partouziert. Sie sei, sagt sie, und vielleicht ist das eine der größten Provokationen des Buchs, bei all ihren a-personalen Aktivitäten, die mit bürgerlichem „Partnertausch” wenig zu tun haben, immer gut, rücksichtsvoll behandelt worden.
Millet verdrängt auch klassische Krisen-Themen wie Eifersucht nicht, erzählt so nebenher davon. Das gibt es, will sie sagen, aber es hat keine Rolle gespielt. Dieser generellen Unaufgeregtheit entspricht ein unnachgiebig sachlicher Stil beim Erzählen des Skandals. Wenn Catherine Männer sah und ihre gelegentlich bis ins Einzelne beschriebenen Geschlechtsteile, dann war das für sie, schreibt die Kunstkritikerin, so etwas wie eine Bildanalyse.
Manchmal mutet „La vie sexuelle de Catherine M.” wie das Erziehungswerk eines jener märchenhaften afrikanischen Stämme an, von denen man lange hörte, dass sie in der „Schule” nur einige Dinge lernten: Wie, was praktischer sei. Knappe Bemerkungen, von einer Frau zur weniger kenntnisreichen Freundin gesprochen: Das hat mich interessiert, das hat mir am meisten Spaß gemacht, mehr Enthusiasmus liest man selten.
Das Buch passt nicht in die mediale Präsenz des Sex als Lumpensammler im Spätprogramm oder als Zeitschriften füllender, gern daueraufgeilender, dabei unnatürlich cleaner Werbeträger, der aus jedem Produkt ein Aphrodisiakum macht. Und natürlich noch viel weniger in die, aus dieser Überpräsenz resultierende, immer lauter werdende Aversion gegen den quantitativen Overkill des Sex in der Öffentlichkeit. Der Schriftsteller Thomas Lehr spricht im neuesten, dem „Erotik”-Heft der Zeitschrift „Literaturen” in diesem Zusammenhang von „repressiver Entsublimierung”.
Millets Buch, das gut strukturalistisch in Kapitel wie „Die Anzahl”, „Der Raum”, „Details” gegliedert ist, ist eher eine Rückführung der Liberalisierungsdiskussion auf ihren Ursprung in Bedürfnissen, die nicht den gerade gesellschaftlich sanktionierten Geschlechter-Regeln entsprechen, sondern individuell sind. Ohne seinen Namen zu nennen, wirkt Millets Buch gelegentlich wie ein Anti-Houellebecq. Meine 68er-Jugend und ein Teil meiner Erwachsenenzeit, ist der unpolemische Unterton des Texts, waren und sind, mit allen Freiheiten, mit all ihren Sex-Clubs und sonstigen Vergnügungen, für mich genau das Richtige gewesen.
Man kann nicht behaupten, dass Millets Buch ein Lesegenuss ist. Die Parade des Sex, die sie aufmarschieren lässt, wirkt auf Dauer so lusttötend wie das Glieder-Gewusel ihrer pornografischen Kolleginnen Catherine Breillat und Virginie Despentes, die Millet wie Betschwestern aussehen lässt – oder, wie es in Frankreich hieß, wie „Mitglieder der Ehrenlegion”. Doch Millets Buch und die sich in seiner Folge ereignende französische Diskussion um den Ort des nackten Körpers in der Öffentlichkeit machen klar, dass der scheinbar so freie Diskurs über Sex und Liebe deren gesellschaftlichen Ort noch nicht gefunden hat. Unsicher irrt er durchs Gestrüpp seines Geredes, zwischen Kommerz und neuer Biederkeit.Wenn es eine Leistung von Millets Buch gibt, dann jene, deutlich zu machen, dass das anonyme Manifest der Verkäufer, das Sex zur letzten Referenz erklärt, eine Kommerzialisierung darstellt, die Gefühle so gut erfasst wie Körper und nicht mit Liberalität verwechselt werden sollte.
HANS-PETER KUNISCH
Catherine Millet, Directrice einer Pariser Kunstzeitschrift und Schriftstellerin. Ihr Lebenspartner Jacques Henric hat sie über dreißig Jahre hinweg fotografiert. Ihr eigenes Buch, ganz ohne Fotos, hat den Skandal gebracht.
Fotos: Verlag
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.05.2002

Die Libertinage ist ein extrem kontrolliertes Spiel
Unsere Generation kannte noch Verbote und entdeckte die Lust der Übertretung: Ein Gespräch mit Christine Angot und Catherine Millet / Von Ingeborg Harms

Die französischen Autorinnen Christine Angot und Catherine Millet haben im vergangenen Jahr durch recht freizügige Bücher Furore gemacht. Während Angot im autobiographischen Roman "Inzest" von lesbischer Liebe und einer erotischen Beziehung zu ihrem Vater erzählt, berichtet die Kunstkritikerin Millet von libertinären Swinger-Kreisen und anonymen Gruppensex-Erfahrungen. Beide Werke gehören in eine Tradition literarischer Konfessionen, die den Moment des Schreibens als den Moment der Klarsicht, Ordnung und Erleuchtung feiert. Das Schreiben befreit von der Moral - hierin liegt ein Grundaxiom der französischen Belletristik, die seit Augustinus im Zeichen der Beichte steht: Wer die beschämende Wahrheit bekennt, der entledigt sich ihrer, der wird von Sünde frei.

Zur Beichte gehört nicht nur, daß die anderen erfahren, was sie immer vermutet haben, sondern auch, daß ihre Vorstellung durch die Zeugenschaft über den Haufen geworfen wird. Beide Autorinnen unterstreichen im Gespräch emphatisch das Wahrhaftige ihres Unternehmens: "Gemeinsam ist uns, daß wir nicht täuschen, nicht verführen wollen", erklärt Angot: "Wir suchen beide die Wahrheit. Wer verführt, der verzaubert, der spielt ein Spiel, spielt Theater. Die Wahrheit ist das genaue Gegenteil. Selbst wenn mein Schreiben Sie gefesselt hat, so war es keine Raffinesse, die das bewirkt hat, kein Kalkül."

Millet beeindruckt durch eine charmante, leicht gelangweilte Indifferenz, während Angot über jede Formulierung wacht und leicht zu alarmieren ist. "Warum sagen Sie, daß es verschiedene Schichten einer Person gibt? Warum sagen Sie das?" echauffiert sie sich: "Alles hängt zusammen! Deshalb ist es auch so kompliziert, ein menschliches Wesen zu sein. Denn ein menschliches Wesen ist ein Kompositum. Ich bestehe nicht aus verschiedenen Persönlichkeiten, ich bin nicht unterteilbar. Lebendigsein heißt, sich mit allem, was man ist, zu transportieren." Diese - inzestuöse - Qualität des Ungetrennten, sturzbachartig Fließenden und in sich Verschränkten versucht Angot auch ihrem Schreiben mitzuteilen: "Es gilt, eine Kombination von Sätzen zu finden, die das Komplexe ausdrückt. Im Moment des Schreibens kann es sein, daß ich wieder und wieder scheitere, und dann gelingt es mir plötzlich, und die Dinge treten in das richtige Verhältnis."

Für solche Stimmigkeit gebraucht Angot den Begriff der Ecriture, der Schrift, die im dekonstruktiven Denken einen über das organisierende Bewußtsein hinausgehenden Mehrwert bezeichnet, eine erkenntnisfördernde Potenz, die im Akt der Niederschrift selbst liegt: "Das ganze Problem der Ecriture ist, daß es keine Ebenen gibt. Das ganze Problem der Ecriture besteht darin, die Ebene zu finden. Und in jedem gegebenen Moment gibt es nur eine, auf der hängt alles zusammen. Statt dieser, der und jener Schicht gibt es nur eine einzige Sache, die eine Aura besitzt. Und es handelt sich auch nicht um latente Seinsmöglichkeiten, sondern darum, daß in einem Augenblick die Fülle existiert." Angot bezeichnet das Schreiben als "fleischlich"; in ihm findet sie eine Freiheit, die der Sinnlichkeit zu ihrem Recht verhilft und die Fessel des Inzest-Wissens löst.

Anders als Angot will Millet eine bestimmte Form der Seinsfülle nicht schreibend bannen, sondern an sie erinnern: "Als individuelles Zeugnis ist mein Buch ein Einspruch gegen das Kollektiv. Das macht seine politische Dimension aus. In den Echos, die es nach sich gezogen hat, habe ich den Eindruck gewonnen, daß es dazu diente, eine Losung wiederzubeleben, die die sexuelle Befreiung betrifft. Von vielen Leuten meiner Generation habe ich zu hören bekommen: Aber ja, es ist wahr, das haben wir alles gemacht. Es war phantastisch. Es war wirklich La Belle Epoque! Man darf das nicht fallenlassen. Das war wirklich wichtig. Und die Jüngeren staunen: Ach, das habt ihr wirklich gemacht! Und auch sie fühlen sich wie wachgeküßt."

Bei ihrer Buchvorstellung nimmt Millet die Position der Weisen ein, der man nichts mehr vormachen kann. Ihr Werk ist eine Veröffentlichung nach der Veröffentlichung, sie ratifiziert, was in der "Generation Woodstock" längst geschehen ist. Ihre Erfahrungen handeln von der Masse der Lustsuchenden, von libertinären Veranstaltungen, die dem demokratischen Prinzip der Gleichheit gehorchten: "Im libertinären Milieu werden Menschen aus allen Schichten akzeptiert, das gehört sogar zur Spielregel; es gibt den Bourgeois neben jemandem, der noch nie in einem Restaurant gegessen hat. Unter den erotischen Umständen, die ich schildere, findet man ganz im Gegenteil sogar an solchen Diskrepanzen Gefallen, denn sie sind Teil der Perversion."

Für Angot hat die Publikation ihres Romans "Inzest" einen ganz anderen Stellenwert. Sie gerät in Aufregung über die Verkaufszahlen und schreibt ein zweites Buch, "Die Stadt verlassen", in dem sie dieser Erregung nachgeht: "Ich war ganz allein und plötzlich waren da 50 000! 50 000! Das ist die Geschichte, die ,Die Stadt verlassen' erzählt. Der Umstand, daß es in einem bestimmten Moment gelingt, sich an andere zu richten, zu sprechen, von Angesicht zu Angesicht, sagen zu können, was es zu sagen gibt, das ist ein Glückszustand, eine enorme Befriedigung, die vielleicht weniger mit bloßem Genuß, aber viel mit wahrem Glück zu tun hat. Denn, wer weiß, vielleicht wird man sich berühren." Den Moment der allgemeinen Berührung, der kollektiven Sinnlichkeit soll bei Angot das Buch erst auslösen. Inzest ist bei ihr nicht nur eine Chiffre für den Verstoß gegen das ödipale Gesetz, der Ausdruck steht auch für den gesellschaftlichen Ausnahmezustand, für die Intimität mit völlig Fremden.

Hellsichtig hat sie in Millets Gruppensex-Szenen, deren Sinn die anonyme, erotische Begegnung ist, ihr eigenstes Motiv entdeckt. In einem von der französischen Zeitschrift "Epok" gedruckten Gespräch stellt sie ihrer Kollegin die Frage, ob sie es nicht für wichtig halte, daß ihr angesichts eines kollektiven Beischlafs der Gedanke in den Sinn kam, sie würde ihren Vater nicht erkannt haben, wäre er dabeigewesen: "Gibt es demnach nicht statt zwei oder drei gesellschaftlichen Verboten nur eines, das die anderen imitieren?" - "Wollen Sie sagen, daß die anderen nur seine Deklination sind?" fragt Millet skeptisch. Denn gerade im "nur" scheint der Unterschied zu liegen. Am Anfang von Catherine Millets sexueller Biographie liegt die Beugung des Inzests, seine Verschiebung auf andere, zweite und dritte Personen.

Was Angot erträumt, aber nicht vollbringt, die Stadt zu verlassen, also ihre Herkunft zurückzulassen, aufzubrechen und zu vergessen, das ist Millets Initialerlebnis. Kleinbürgerliche Verhältnisse diktierten in ihrer Kindheit eine eng gestrickte Familienstruktur. Daß Catherine das Bett mit ihrer Mutter teilen mußte, führte in ihrem Fall jedoch nicht zum Inzest, sondern zu größtmöglicher Distanz. Im engen Raum, der sie von ihrer Erzeugerin trennte, keimt die erotische Fantasie: "Vielleicht entwickelte sich meine Vorstellungskraft im Zwang, mich mehr durch Fantasien zu erregen als durch direktes Streicheln." Der lautlose Eigenwille, der sich dem elterlichen Machtmonopol entzieht, mündet in einen Moment der Emanzipation, "als ich Claudes Einladung annahm und aus der Tür meiner Eltern ging". Millet mußte, wie sie schreibt, "große Entfernungen zurücklegen, um Zugang zu meinem eigenen Körper zu finden".

Während der Inzest jeden Zwischenraum vernichtet, die Fantasie erstickt, ist für Millet physische Liebe "mit einer Eroberung des Raums" verbunden. Und dieser Raum ist nie ganz empirische Topographie, sondern immer schon Terrain der Einbildungskraft. So erklärt sich vielleicht auch die stupende Lethargie, mit der Catherine M. die sexuellen Exzesse über sich ergehen läßt - hierin verrät sich keine typisch weibliche Passivität, wie Millet selber meint, sondern die starre Haltung des fantasierenden Kindes, das der Mutter verbirgt, was in ihm vorgeht. An einer Stelle ihres Buches kommt die Autorin der imaginären, von den Laken des Kinderbettes gestifteten Textur ihrer erotischen Abenteuer besonders nahe. Sie fragt sich, "ob die Männer der Wäldchen, der Parkplätze durch ihre Zahl und ihr schattenhaftes Dasein nicht aus demselben Stoff sind wie der Raum, ob ich mich nicht an den Tuchfetzen der Luft rieb, deren Schußfäden nur dort so dicht sind".

Der französische Schriftsteller und Kritiker Philippe Sollers mag an solche Passagen gedacht haben, als er anläßlich des Erscheinens von "Das sexuelle Leben der Catherine M." in "Le Monde" verkündete, daß sich in der Welt des Genusses "eine neue Unschuld, eine wilde und raffinierte Treue gegenüber der Kindheit" manifestiere. Sie habe bei ihren sexuellen Eskapaden den Zustand des Kindes gesucht, sekundierte ihm Millet bei einer Lesung in München, "ganz früh, bevor es begriffen hat, daß ein Unterschied existiert zwischen ihm selbst und der Welt".

Damit ordnet sie die Lust einer Sphäre zu, in der das Wirkliche sich noch nicht von der Vorstellung unterscheidet. Zu dieser Sphäre gehört der Traumplatz neben der Mutter; er ist eine erste Ausprägung des öffentlichen Raums - vor jeder politischen Bestimmung. Denn er zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß er nicht von den Ansprüchen der anderen besetzt ist. Der Libertin findet diese Wildnis, die auf seine Projektionen wartet, in Parkplätzen, Baugruben, Autobahnböschungen, Vorstadtwäldern und Friedhöfen, "Nicht-Orte" nennt sie Millet. Denn in der verwalteten - man könnte auch sagen: in der inzestuösen - Welt ist der öffentliche nicht mehr der repräsentative Raum: der Marktplatz, das Marsfeld -, sondern die Zone, die der Beobachtung entgeht, das unsichtbare, vergessene, nutzlose, gleichsam innerliche Zwischenreich, das aus dem kollektiven Bewußtsein herausfällt.

Millet hat zu libertinären Kreisen gefunden, weil in ihnen nicht der zwanghafte Sexus, sondern die üppige Einbildungskraft regiert. Das Traumzeithafte ihrer Sinnlichkeit findet ein Echo in den Ballettmeistern der heimlichen Zusammenkünfte: "Man muß wissen, daß im libertinären Milieu die Regeln von den Männern festgelegt worden sind. Die Frauen waren ihre Schachfiguren. Die Libertinage ist ein extrem kontrolliertes Spiel. Man gibt einen Rahmen vor, den man nicht überschreitet. Das heißt, man verliert sich nicht. Natürlich gibt es diesen sexuellen Selbstverlust. Ich habe mich immer für sexuelle Gewalttäter interessiert. Sie folgen einem Trieb, den sie nicht kontrollieren können. Das ist das genaue Gegenteil des Libertins."

Auch wenn er für sich eine aktive Position entwirft, genießt er gleichsam mit den geschlossenen Augen des Tagträumers: "Der Libertin hat kein Bewußtsein der vergehenden Zeit. Der Körper ist immer der gleiche für ihn. Das hat auch Vorteile, denn eine Frau kann altern, ohne daß er es wahrnimmt. Das liegt daran, daß das Begehren etwas zutiefst Unbewußtes ist. Ich habe beobachtet, daß starke sinnliche Emotionen mir über Jahrzehnte viel gegenwärtiger bleiben als etwas, das mir gestern widerfahren ist. Und ich denke, daß diese Verzerrung der Zeit auch eine des Erzählens sein muß."

Millets Memoiren verfahren nicht streng chronologisch, sondern verwandeln sich unterderhand in einen Katalog der sinnlichen Topographien, sie reflektiert über die Vorteile, die bestimmte Plätze haben, Nischen, Treppenhäuser, Landschaften. Dabei mutiert ihre erotische Vergangenheit zu einer Folge suggestiver Bühnenbilder. Die Autorin läßt durchblicken, daß auch sie die Regeln festgelegt hat, daß ihre Fantasien mit denen der Spielleiter Inzest trieben: "Die aktive Spinne in der Mitte des Netzes, dieser Platz gefiel mir." An anderer Stelle nennt sie sich auch eine "Bienenkönigin, die über ihre Arbeiter herrschen konnte". Diese Neuinterpretation der libertinären Zusammenkünfte kann erklären, warum ihre männlichen Vertrauten "Das sexuelle Leben der Catherine M." mit Mißfallen quittierten: "Ich muß sagen, daß einige meiner Freunde sehr reserviert auf mein Buch reagiert haben, obwohl sie, weiß Gott, nicht prüde sind. In dem Moment, als ich über die Treffen geschrieben habe, habe ich sie einer Meisterschaft beraubt, die sie zu haben glaubten. Denn ich habe nie ein sexuelles Treffen organisiert. Frauen tun das nie."

Millets Buch rührt nicht nur am Klischee weiblicher Passivität, sondern auch am Mythos frauentypischer Monogamie. Ihr Eros huldigt entschlossen der Zahl und begrüßt die wachsende "Sicherheit, in allen Situationen und mit allen Leuten, die es wollten, Sex haben zu können". In ihrer Solidarität mit dem anderen Geschlecht geht sie sogar noch einen Schritt weiter, indem sie die Vermutung ausspricht, daß die männliche Sehnsucht nach gleichgeschlechtlicher Liebe in libertinären Kreisen "über die Frau als Medium" ausgelebt wurde. Damit macht sich die Französin zur Allegorie jener Fantasie, die den inzestuösen Selbstbezug ersetzt, ja, in gewisser Weise stilisiert sie sich zur neuen Marianne der sexuellen Revolution.

Bei Angot fehlt die Sphäre der spielerischen Einbildungskraft, in der die Sexualität die Inzestdrohung überwindet. Deshalb haben alle Körper zunächst etwas Widerwärtiges für sie. Das gilt auch für ihre Geliebte, Marie-Christine: "Im Fall meines Buches war es kein homosexueller Ekel, sondern ein Ekel vor dem Körper. Aber wenn man diesen Ekel aushält und überwindet, dann kann es passieren, daß man in der Folge dem als abstoßend empfundenen Körper sehr verbunden ist. Es ist also nicht nur der Ekel vor dem Körper, sondern der Ekel vor dem Anderen, der ein Begehren verbirgt. Der Ekel ist etwas Lebendiges, wie das Verlangen. Er signalisiert eine Gefahr. Der Ekel ist eine Maske." In der inzestuösen Welt gibt es keine Alternative zu Abstoßung und Verschmelzung, die Emotion schaltet zwischen diesen Haltungen hin und her. Für Millet hingegen ist der Ekel nur von sekundärer Bedeutung, er beeinflußt den imaginären Kern der sexuellen Erfahrung nicht: "Es gab für mich Männer, die mich in gewissen Dingen abstießen, aber das spielte keine Rolle für den sexuellen Genuß, denn man teilte die Schmutzigkeit."

Ihrem eigenen Ausgangspunkt entsprechend, ist Angot nicht auf den Raum, sondern auf die Zeit verpflichtet: "Der Unterschied zwischen uns ist, daß Catherine beschreibt, was sie gesehen hat, ich hingegen konzentriere mich auf das Ohr, auf das, was ich höre und gehört habe." Während Millet den imaginären Augenblick der Lust ins Unendliche dehnen möchte, geht es Angot darum, den unerträglichen Moment des Inzests in der Zeit zu relativieren. Ihre Texte kreisen um ihn, machen die Hörigkeit zu einer Kunstform: "Ich war ein Hund, ich war auf der Suche nach einem Herrn." Weil es den Raum der Einbildung für sie nicht gibt, drehen sich ihre Monologe um Worte, um Zeitungsartikel, Telefonate, Gespräche, Literatur. Angot kommt es darauf an, was sie den Worten der anderen entgegenzusetzen hat: "Nur auf mich selbst zu horchen ist die Grundlage meines Geschäfts." Die Sprache ist eine Kampfzone, in der sich entscheidet, wer wem hörig ist. Auf diese Weise zieht Angot ihre Leser in das Familiendrama hinein, in eine Appellstruktur, die kein Entkommen kennt, sondern nur eine Verlagerung der Gewichte von Schuld und Unschuld, Verantwortung, Liebe und Haß.

Ihre Ecriture ist radikal privat, auch das Öffentlichste, die Buchpublikation, wird von der Autorin nicht mit professioneller Nüchternheit begleitet, sondern als Fortsetzung der inzestuösen Tragödie inszeniert und als drohende Ich-Auslöschung erfahren: "Es gibt ein elementares Verhältnis zwischen Körper und Schrift. Aber wenn das Buch auf den Markt kommt, dann wird es gefährlich. Denn es gibt Menschen, die dich zu ersetzen versuchen, die sagen, es handele sich um sie, sie seien im Buch, nicht ich."

Angots fast mystisch anmutendes Bekenntnis zur Dimension der Schrift führt es mit sich, daß sie sich in ihr ausliefert. Das scheint auch Catherine Millet zu tun, wenn sie von privatesten erotischen Vorlieben und gelebten Exzessen handelt. Und doch hat sie ein diametral entgegengesetztes Verhältnis zu ihrem Text. Für diese cartesianische Denkerin ist die kritische Öffentlichkeit nur eine weitere Bühne, auf der ihre Einbildungskraft das Programm vorgibt: "Ich habe das Gefühl, daß ich in meinem Buch der Öffentlichkeit eine Puppe ausgeliefert habe, die mich repräsentiert. Die Kritiken lassen mich ziemlich gleichgültig. Denn sie stürzen sich ja nur auf diesen Fetisch. Ich selber werde nicht berührt. Die kritische Nadeln stechen nur die Puppe. Das Buch ist für mich ein Schirm. Außerdem lebt man weiter, man ist schon ganz woanders, wenn es erscheint. Ich lasse denen, die sich für mich interessieren, gern ein Stück von mir, aber ich selber ziehe weiter. Das trifft auch auf meine sexuellen Beziehungen zu: Ich gab etwas von mir, einen abgelösten Teil, einen Körper, der mir schon nicht mehr ganz gehörte. Mit dem Buch mache ich das gleiche." An dieser Stelle markiert Angot den entscheidenden Unterschied zu Millet: "Bei mir ist das ganz anders. Ich kann absolut nicht sagen, daß mein Buch eine abgelöste Repräsentation ist. Im Gegenteil. Was man als Text liest, das bin ich. Ob mein Leben oder nicht, der Text jedenfalls bin ich: C'est moi, le texte. Wenn man Nadeln ins Buch sticht, dann werde ich getroffen. Wenn das Buch nur ein Moment meines Lebens wäre, dann könnte ich mich besser schützen."

Im "Epok"-Gespräch hat Angot die Meinung zum Ausdruck gebracht, daß Millet nicht schreibe, sondern erzähle, "so wie die Vögel musizieren, ohne Musiker zu sein", oder wie ein Bote vom Schlachtfeld berichtet. Ihre Kollegin ist zu galant, um sich gegen das ihr zugesprochene Zwitschern zu wehren, betont aber, daß es in ihrem Schreiben eine künstliche Ordnung gibt, "die nichts mit dem zeitlichen Nacheinander der Ereignisse zu tun hat". Eher ließe sich die persönliche Ecriture, in der Angot "etwas Elementares, Maschinelles" erkennt, wenn nicht mit dem Vogelgesang, so doch mit der erregten Rede des Unglücksboten vergleichen. Gerade sie, die durchdringende Stimme, macht für Millet den Schriftsteller aus: "Auch wenn sie längst tot sind, hört man immer noch ihre Schreie ..."

Mit Blick auf ihr eigenes Werk betont die Kunstkritikerin hingegen die "symbolische Distanz", in der sich die Möglichkeit eröffnet, "das Reale zu interpretieren". Hier trifft sie sich mit dem Libertin, der für seine Choreographien einen Rahmen beansprucht, ein Gesetz, das seine Imaginationen beflügelt: "Wenn alles erlaubt ist, gibt es kein Vergnügen mehr. Ich gehöre einer Generation an, die ihr Glück in der Übertretung gefunden hat. Die Menschheit hat es gelernt, gerade die Widerstände, die sich ihrem Genuß entgegenstellen, zu genießen."

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