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Klaus Lichtblaus soziologiegeschichtliche Untersuchung unternimmt den Versuch, die Auseinandersetzung mit der kulturellen Moderne , wie sie in den Werken der Gründerväter der deutschsprachigen Tradition der Kultursoziologie überliefert worden ist, anhand von ausgewählten Themenfeldern zu rekonstruieren.

Produktbeschreibung
Klaus Lichtblaus soziologiegeschichtliche Untersuchung unternimmt den Versuch, die Auseinandersetzung mit der kulturellen Moderne , wie sie in den Werken der Gründerväter der deutschsprachigen Tradition der Kultursoziologie überliefert worden ist, anhand von ausgewählten Themenfeldern zu rekonstruieren.
Autorenporträt
Professor Dr. Klaus Lichtblau lehrt am Institut für Gesellschafts- und Politikanalyse der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.1996

Nietzsche als steinerner Gast
Kultursoziologie um 1900 / Von Kurt Nowak

Es gab einmal eine Zeit", hebt Klaus Lichtblau an, "in der die größten intellektuellen Leistungen innerhalb der deutschsprachigen Tradition der Soziologie in ,Exkursen', ,Zwischenbetrachtungen' sowie in durch Gelegenheitsumstände geprägten öffentlichen Vorträgen und Diskussionsbeiträgen erbracht wurden." Die Rede ist vom Deutschland der Jahrhundertwende und von den berühmten Sozialwissenschaftlern und Kulturphilosophen jener Zeit: von Max Weber, Georg Simmel, Werner Sombart, Ferdinand Tönnies und natürlich auch vom Allerberühmtesten, Friedrich Nietzsche, dem "Anti-Soziologen". Der raunende Ton des Autors verstummt, noch ehe er echt erklungen ist. Das Wort hat der Analytiker. Es geht um die Genesis der Kultursoziologie.

Wie sah die Arbeit akademischer Kulturen in den Umbrüchen der Neuzeit zur Moderne aus? Der Horizont für das Verstehen des Kulturumbruchs mußte erst geformt, das Instrumentarium zur Durchdringung der komplexen und unübersichtlichen Phänomene erst konstruiert werden: Grundlagenforschung. Die Geburt der Kultursoziologie mag aus dem Abstand der Nachgeborenen wenig dramatisch wirken. Tatsächlich handelte es sich um eine Schmerzgeburt wie selten in der Wissenschaftsgeschichte.

Die Kultursoziologie um 1900 war das Produkt eines unaufhaltsamen Auflösungsprozesses, gleichzeitig Ergebnis des Ringens um den Wiederaufbau der geschichtlichen Welt. Spezialsoziologie wollte sie nicht sein. Die Pioniere der neuen Disziplin schauten ihren eigenen Begriffs- und Denkoperationen mit quälender Genauigkeit zu. Gnädige Abwesenheit der Reflexion der Reflexion war nicht geschenkt. Soziale Phänomene sind Funktion von Zeit und Ort. So auch die Wissenschaften. Ästhetische, moralische und geistige Werte erodieren und zerfallen. Was wir Heutigen gelassen unter Historizität und Relativität der Wissens-und Werteproduktion verbuchen, griff damals bis zum Unerträglichen in die Seele. Die individuellen und kollektiven Psychopathologien des Kaiserreichs sind kein Zufall.

Lichtblau bedient sich bei seinen wissenschaftsgeschichtlichen Rekonstruktionen eines Kunstgriffs. Er stellt die großen Blöcke der soziologischen Werke nicht neben-und nacheinander hin. Er zerlegt sie in Einzelstücke und läßt die Urheber miteinander kommunizieren. Wie reagierte Max Weber auf Nietzsche, den steinernen Gast aller soziologischen Fachdebatten? Welche Beurteilung fand Nietzsche bei Simmel? Was nahm Sombart von ihm auf? Symphilosophie, nennt Lichtblau mit Verweis auf die Frühromantik diese Form des Diskurses. Sie steht unter der Voraussetzung eines gemeinsamen Themas, in diesem Falle der Kulturkrise.

So elegant Lichtblaus symphilosophischer Kunstgriff beim ersten Hinsehen wirkt, näherem Nachdenken hält er nur mit Mühe stand. Muß man jeden Austausch in der Gelehrtenwelt, jede Entwurfs- und Programmbildung durch das frühromantische Modell der Symphilosophie adeln wollen? Ein wenig plakativ wirkt das Buch auch dort, wo sein Autor die Zeit um 1800 zu einem Gegenbild der Epoche um 1900 macht. Umbruchszeiten waren sie beide, das ist richtig. Ob aber die Generation um 1800 bloß in der Hoffnung der "Morgenröte" lebte und demgegenüber um 1900 die Erfahrung der "Krise" vorherrschte, ist die Frage. Die Sinne der Frühromantik gingen über Abgründen auf. Die Tiefe des frühromantischen Krisenwissens wurde von den Späteren nicht wieder erreicht.

Umgekehrt mischten sich in der Epoche um 1900 Krise und "Morgenröte". Begeisterte Zukunftsarchitekten liefen den Krisendiagnostikern nicht selten den Rang ab. Die öffentlichen Einrichtungen blieben gegen den Einbruch der Krise "wie von einem Pestkordon" umzogen, wie Robert Musil im "Mann ohne Eigenschaften" vermerkt. Tönnies betrachtete Nietzsches Gedankenwelt als Hexensabbat von Wutausbrüchen, Exaltationen und Deklamationen, aus dem nur gelegentlich ein Geistesblitz hervorschieße. Der einstige Verehrer Schopenhauers hatte sich zum Gelehrten gebildet, der die europäische Aufklärung schätzte. Auch das paßt nicht recht ins Krisenbild.

Lichtblaus Kapitel "Die Krise der Wissenschaft und die Suche nach einer neuen Kultursynthese" läßt die bekannte und dennoch immer wieder bittere Pointe ahnen, auf die seine Analyse der Genealogie der deutschen Kultursoziologie hinausläuft. Der Zwillingsbruder des relativistischen Denkens was das dezisionistische Handeln: Fluch in "Schau", "Entscheidung" und "Tat". Insofern ist das Buch ein intellektualgeschichtlicher Beitrag zur deutschen Katastrophe. Im Vergleich mit thematisch verwandten Untersuchungen bietet Lichtblau an einigen Stellen genauere Einblicke in die Geschichte der Kultursoziologie als bisher, soweit dies ohne Heranziehung ungedruckten Materials möglich ist. Da es sich um eine weit ausgreifende Synthese handelt, werden die jeweiligen Kenner der in Lichtblaus Studie verarbeiteten Werke vielleicht nicht immer auf ihre Kosten kommen. Doch das liegt in der Natur der Sache.

1934 schrieb Karl Mannheim, die kultursoziologische Tradition Deutschlands gehöre der Vergangenheit an. Diese "spiritual constellation ... has now vanished". In der Anamnese unseres kulturellen Gedächtnisses wird die Kultursoziologie der Jahre um 1900 wiederentdeckt. Außerdem dient sie nicht nur der Soziologie als wissenschaftsgeschichtlicher Anhalt zur Deutung höchst gegenwärtiger Probleme.

Klaus Lichtblau: "Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende". Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 602 S., geb., 68,- DM.

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