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Die globale Integration unserer Welt ist nicht in Abrede zu stellen. Doch die Kehrseite dieser Globalisierung ist ebenso unübersehbar: Im Namen vielfältiger kultureller Unterschiede - ethnischer, nationaler, sprachlicher, religiöser - formieren sich Gegenbewegungen von politischer Wirkmächtigkeit. Um ein genaueres Verständnis dieser neu sich artikulierenden Formen kollektiver Identität, dieser von Identität/Differenz bestimmten neuen politischen Bewegungen muß es einer Gesellschaftstheorie gehen, die angesichts der Dynamik aktueller sozialer und politischer Prozesse adäquate Formen politischer…mehr

Produktbeschreibung
Die globale Integration unserer Welt ist nicht in Abrede zu stellen. Doch die Kehrseite dieser Globalisierung ist ebenso unübersehbar: Im Namen vielfältiger kultureller Unterschiede - ethnischer, nationaler, sprachlicher, religiöser - formieren sich Gegenbewegungen von politischer Wirkmächtigkeit. Um ein genaueres Verständnis dieser neu sich artikulierenden Formen kollektiver Identität, dieser von Identität/Differenz bestimmten neuen politischen Bewegungen muß es einer Gesellschaftstheorie gehen, die angesichts der Dynamik aktueller sozialer und politischer Prozesse adäquate Formen politischer Partizipation entwerfen will. Bei der Frage, wie demokratische Identitäten im Zeitalter der Globalisierung gestaltet sein müßten, gilt besondere Aufmerksamkeit dem Problem der Staatsbürgerschaft und Einbürgerungsrechte, das abschließend in den Blick genommen wird.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.06.1999

Diktat durch Diskurs
Die neueste Weltordnung: Seyla Benhabibs Philosophie der Menschenrechte

Was haben die Belgrader Bürger mit der Säuberung des heiligen serbischen Kosovo von den Albanern zu tun? Die Nato-Gewaltigen meinen, nicht viel, und versuchen, sie zu schonen. Aber verleugnen nicht auch die Belgrader die Albaner, wenn sie sich von der Schlacht auf dem Amselfeld (1389) erzählen? In den Max-Horkheimer-Vorlesungen, die Seyla Benhabib, Professorin in Harvard, 1997 in Frankfurt am Main gehalten hat, kann der Kosovokonflikt noch nicht vorkommen. Aber sie betreffen ihn, weil sie vom Verhältnis des einzelnen zu der kulturellen Gruppe handeln, der er angehört, freilich nicht unter dem Aspekt der kollektiven Schuld, sondern unter dem der kollektiven Benachteiligung. Das verträgt sich besser mit der Tradition.

Seit der Reformation pflegt der Westen soziale und politische Probleme beim einzelnen zu entsorgen: Wer verliert, taugt nichts. Zunächst wurde er der Mildtätigkeit der Kirchen überlassen. Die Religionskritik zwang die Fürsten jedoch, sich selbst der Verlierer anzunehmen. Damit übernahm die Politik die Verantwortung für soziale Gerechtigkeit. Da alle Menschen gleich sind, läßt sich soziale Gerechtigkeit statistisch bestimmen: Jedem das Gleiche. Die Statistiken zeigten aber, daß die Politik die Leute nicht individuell, sondern nach gesellschaftlichen Rollen ungleich behandelte. So entstand die Benachteiligung der Frauen mit der bekannten Paradoxie: die Frauen sollen Frauen bleiben, aber bessere Männer werden. Die Kommunitaristen haben auf diesen Klotz noch einen moralischen Anspruch für alle Beteiligten gesetzt. Wie die Frauen Frauen bleiben sollen, so die Homosexuellen Homosexuelle und so weiter. "Identität" nennt man das, ein Wort, von dem Sonja Margolina nichts hören möchte, weil sie gesehen hat, wie viele - gelinde gesagt - unmoderne Verhaltensweisen es schützt. Aus dem nämlichen Grund räumt auch Benhabib den individuellen Rechten den Vorrang vor der kulturellen Identität ein. Damit sichert sie den einzelnen Gruppenangehörigen ein Mindestmaß an Menschenwürde, das es ihnen ermöglicht, diskursethisch zu deliberieren.

Diese Menschenwürde ist allerdings eine westliche. Manche nichtwestliche Kulturen meinen, Verprügeln, Beschneiden und Kinderehen schadeten der Menschenwürde nicht. Für solche Fälle hält Benhabib einen Satz bereit, der selbst den überrascht, der weiß, daß ein bekannter Diskursethiker Diskursverweigerer zu virtuellen Selbstmördern erklärt hat: "Die Diskursethik verlangt, daß in der Zivilgesellschaft über solche Praktiken öffentlich debattiert wird und Prozesse diskursiver Willensbildung und Meinungsänderung stattfinden, die einen normativen Bann über diese Praktiken verhängen." Debatten nicht als Mittel der Normfindung, sondern der Normdurchsetzung? Gut, daß wir schon an Menschenrechte glauben. Heidenknäblein dürfte solch eine naive westliche Selbstgerechtigkeit aber zu schaffen machen.

Da sie die Menschenrechtsweltordnung Gruppenzugehörigkeit nur als "befähigende Voraussetzung für die individuelle Wahl" begreift, kann Benhabib auch die Staatsangehörigkeit als Problem der individuellen Entscheidung verstehen. Zwar müssen staatlich organisierte Gruppen nicht jeden aufnehmen, der sich ihnen anschließen will. Der Rhein ist eben zu kurz für die gesamte Erdbevölkerung. Aber sie haben die moralische Pflicht, jedes Aufnahmebegehren individuell zu prüfen. Das richtet sich gegen Drittstaatenregelung des deutschen Asylrechtes, steht jedoch schon als Rechtspflicht im deutschen Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913. Über dieses Gesetz hat sich Benhabib indessen kaum Gedanken gemacht. Sonst könnte sie nicht schreiben, es lege "die Vererbbarkeit der Staatsbürgerschaft" fest und habe den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit für Polen und Juden unmöglich machen sollen. Der Jurist fragt sich, wie das Abstammungsprinzip das leisten konnte, knüpft es doch an die Staatsangehörigkeit und nicht an die ethnische oder religiöse Zugehörigkeit der Eltern eines neuen Erdenbürgers an. Er würde auch prüfen, ob nicht, wie beim Besitz, die Aufrechterhaltung des Ist-Zustandes ein Gesichtspunkt wäre, der beim Staatsangehörigkeitsrecht zu berücksichtigen ist.

Aber Benhabib ist nicht Juristin, sondern Moralistin. Und moralisch ist die Zurückweisung von Menschen tatsächlich schwer zu begründen, seit der griechische Philosoph Carneades die Welt mit der Frage gequält hat: Zwei Schiffbrüchige klammern sich an eine Planke, die nur einen trägt; darf der eine den anderen ins Meer stoßen? Er darf nicht, weil alle Leben gleichwertig sind. Wenn das so ist, werden freilich sämtliche Unterscheidungen zwischen Menschen moralisch anfechtbar, auch die zufälligen nach dem Geburtsort oder nach der Intelligenz. Moralisch kann man dann nur noch fragen, wie jemand damit fertig wird, daß ihn der Zufall unter die - alphabetisch - Amerikaner, Dummen, Hutus oder Russen geworfen hat. Aber das ist eine extrem westliche, um nicht zu sagen: typisch deutsche Frage, die nur gefährliche Auswege offenläßt: in der Innerlichkeit in die Aktion oder in die Naturphilosophie. Amerikanische Philosophen scheinen mehr auf Bewegung, Augenschein und Statistiken zu setzen. Benhabib zeigt, wie anregend sich damit argumentieren läßt. Wer wissen will, wie die Amerikaner das Problem "Menschenrechte gegen Souveränität" diskutieren, der lese diese Schrift.

GERD ROELLECKE

Seyla Benhabib: "Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit". Politische Partizipation im Zeitalter der Globalisierung. Horkheimer Vorlesungen. Aus dem Amerikanischen von Ursula Gräfe. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1999. 121 S., br., 18,90 DM.

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