Für gewöhnlich versteht man die Welt, in der man lebt. Man kommt zurecht, auch wenn man im Einzelnen manches nicht versteht. Das ist in der Regel kein Problem – aber gelegentlich wird es zum Problem. Und das kann Folgen haben, bis dahin, dass man „die Welt nicht mehr versteht“, oder dass sich der Verdacht regt, unterhalb unseres Verstehens gähne der Abgrund des eigentlich gar nichts Verstehens? Ist „zu verstehen“ nur eine Gewohnheit, die uns lieb geworden ist?
In den vorliegenden Beiträgen wird „Nicht Verstehen“ aus verschiedenen Perspektiven angegangen: jenen von Literaturwissenschaft, Philosophie, Religionsphilosophie, Wissenschaftstheorie, Theologie, Kunst-, Film- und Medienwissenschaften, Kulturwissenschaft und Psychologie.
Inhaltsverzeichnis:
OUVERTÜRE – Literatur.-
ORIENTIERUNG – Philosophie und Wissenschaftstheorie.-
VERDICHTUNG – Religionsphilosophie und Religion.-
EXEMPLA – Bild und Macht.-
ENTFALTUNGEN – Film und Narration.-
Nachwort Dank.-
AutorInnen und HerausgeberInnen
In den vorliegenden Beiträgen wird „Nicht Verstehen“ aus verschiedenen Perspektiven angegangen: jenen von Literaturwissenschaft, Philosophie, Religionsphilosophie, Wissenschaftstheorie, Theologie, Kunst-, Film- und Medienwissenschaften, Kulturwissenschaft und Psychologie.
Inhaltsverzeichnis:
OUVERTÜRE – Literatur.-
ORIENTIERUNG – Philosophie und Wissenschaftstheorie.-
VERDICHTUNG – Religionsphilosophie und Religion.-
EXEMPLA – Bild und Macht.-
ENTFALTUNGEN – Film und Narration.-
Nachwort Dank.-
AutorInnen und HerausgeberInnen
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.08.2006Unverstanden
Umrisse einer anderen hermeneutischen Einstellung
Die Welt verstehen wollen - das klingt nach einem ehrenwerten Motiv, und keine Begründung der Wissenschaften wird auf dieses Argument verzichten. Die Frage ist aber: Was machen wir in der Zwischenzeit? Offenbar müssen wir, solange wir nicht voll und ganz, nicht endgültig verstanden haben, mit dem Phänomen des Nichtverstehens leben. Verstehen ist nicht Verstandenhaben, sondern eine Vorläufigkeit, ein Unterwegssein. Und da das Verstehen stets Dunkelzonen des Nichtverstehens miterzeugt, wird uns dieses Provisorium erhalten bleiben.
Ein in der eleganten Reihe der Zürcher Edition Voldemeer erschienener Sammelband erinnert daran, dass wir über beträchtliche Routine verfügen, wenn es gilt, mit dem Nichtverstehen zurechtzukommen. Vorab Religion und Kunst lassen sich als „Gestaltungen” des Nichtverstehens begreifen - als Kompensationen und, schärfer noch, als institutionalisierte Widerstände gegen ein überwältigendes, gegen ein schnelles, ein voreiliges und illusionäres Verstehen, das die Herausforderung seiner Gegenstände unterläuft und die Probleme entsorgt, anstatt sich ihnen gewachsen zu zeigen. Nichtverstehen - das ist Herausforderung und Demütigung des Verstehens zugleich.
Das längst etablierte Naserümpfen über das vereinnahmende, im Zweifelsfall auch gewaltbereite (Tom Holert) Verstehen speist sich aus einer an Heidegger und Derrida, in diesem Fall auch an Wittgenstein geschulten Hermeneutikkritik. In ihrer aktuellen Variante will diese Kritik nun als „Ethik der Alterität” (Dieter Mersch) oder auch als „Kunst des Nichtverstehens” (Werner Kogge) aus der Haltung der Animosität herausfinden und Position beziehen. Vermittelnd - und theoriegeschichtlich angemessen - wirbt Philipp Stoellger für eine „andere hermeneutische Einstellung”.
Schweben über dem Abgrund
Wie diese in der Praxis aussehen könnte, deutet Hans-Jörg Rheinberger in seinen couragiert vorgetragenen Thesen an. Rheinbergers „alternative Epistemologie” folgt dem aus wissenschaftsgeschichtlicher Sicht plausiblen Grundgedanken, dass ernsthafte Forschung keineswegs immer schon weiß, was sie nicht weiß.
Die experimentelle Vernunft, die mit der Gegebenheit der Fremdwelt ernst macht, statt sie zu trivialisieren, bezieht ihre Kriterien allerdings nicht aus einer kohärenten Wissenschaftstheorie, sondern aus der kulturellen Verfasstheit der menschlichen Dinge. Diese aber kommen dem Verstehen keineswegs entgegen, im Gegenteil: Als luftige Gebilde schweben die Improvisationen der Kultur - mögen sie nun Kunst oder Religion heißen, Wissenschaft oder Philosophie - über dem Abgrund des Nichtverstehens.
RALF KONERSMANN
JUERG ALBRECHT, JÖRG HUBER, KORNELIA IMESCH u.a. (Hrsg.): Kultur Nicht Verstehen. Produktives Nichtverstehen und Verstehen als Gestaltung. Edition Voldemeer, Zürich/Springer Verlag, Wien, New York 2005, 347 Seiten, 29 Euro.
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Umrisse einer anderen hermeneutischen Einstellung
Die Welt verstehen wollen - das klingt nach einem ehrenwerten Motiv, und keine Begründung der Wissenschaften wird auf dieses Argument verzichten. Die Frage ist aber: Was machen wir in der Zwischenzeit? Offenbar müssen wir, solange wir nicht voll und ganz, nicht endgültig verstanden haben, mit dem Phänomen des Nichtverstehens leben. Verstehen ist nicht Verstandenhaben, sondern eine Vorläufigkeit, ein Unterwegssein. Und da das Verstehen stets Dunkelzonen des Nichtverstehens miterzeugt, wird uns dieses Provisorium erhalten bleiben.
Ein in der eleganten Reihe der Zürcher Edition Voldemeer erschienener Sammelband erinnert daran, dass wir über beträchtliche Routine verfügen, wenn es gilt, mit dem Nichtverstehen zurechtzukommen. Vorab Religion und Kunst lassen sich als „Gestaltungen” des Nichtverstehens begreifen - als Kompensationen und, schärfer noch, als institutionalisierte Widerstände gegen ein überwältigendes, gegen ein schnelles, ein voreiliges und illusionäres Verstehen, das die Herausforderung seiner Gegenstände unterläuft und die Probleme entsorgt, anstatt sich ihnen gewachsen zu zeigen. Nichtverstehen - das ist Herausforderung und Demütigung des Verstehens zugleich.
Das längst etablierte Naserümpfen über das vereinnahmende, im Zweifelsfall auch gewaltbereite (Tom Holert) Verstehen speist sich aus einer an Heidegger und Derrida, in diesem Fall auch an Wittgenstein geschulten Hermeneutikkritik. In ihrer aktuellen Variante will diese Kritik nun als „Ethik der Alterität” (Dieter Mersch) oder auch als „Kunst des Nichtverstehens” (Werner Kogge) aus der Haltung der Animosität herausfinden und Position beziehen. Vermittelnd - und theoriegeschichtlich angemessen - wirbt Philipp Stoellger für eine „andere hermeneutische Einstellung”.
Schweben über dem Abgrund
Wie diese in der Praxis aussehen könnte, deutet Hans-Jörg Rheinberger in seinen couragiert vorgetragenen Thesen an. Rheinbergers „alternative Epistemologie” folgt dem aus wissenschaftsgeschichtlicher Sicht plausiblen Grundgedanken, dass ernsthafte Forschung keineswegs immer schon weiß, was sie nicht weiß.
Die experimentelle Vernunft, die mit der Gegebenheit der Fremdwelt ernst macht, statt sie zu trivialisieren, bezieht ihre Kriterien allerdings nicht aus einer kohärenten Wissenschaftstheorie, sondern aus der kulturellen Verfasstheit der menschlichen Dinge. Diese aber kommen dem Verstehen keineswegs entgegen, im Gegenteil: Als luftige Gebilde schweben die Improvisationen der Kultur - mögen sie nun Kunst oder Religion heißen, Wissenschaft oder Philosophie - über dem Abgrund des Nichtverstehens.
RALF KONERSMANN
JUERG ALBRECHT, JÖRG HUBER, KORNELIA IMESCH u.a. (Hrsg.): Kultur Nicht Verstehen. Produktives Nichtverstehen und Verstehen als Gestaltung. Edition Voldemeer, Zürich/Springer Verlag, Wien, New York 2005, 347 Seiten, 29 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Einen "ansehnlichen und schön gestalteten Beitrag zu einer Hermeneutik vor der Hermeneutik in eloquent-erfrischenden Gedankenwindungen" sieht der "als" zeichnende Rezensent in diesem Band mit 24 Beiträgen aus den Bereichen Philosophie, Religion, Literatur und Bildmedien. Darin setzen sich die Autoren mit dem Nicht-Verstehen auseinander, wozu die Fragen gehören, ob sich Verstehen und Nicht-Verstehen ausschließen oder bedingen und ob das Verstehen vom Nicht-Verstehen oder vom Vorverständnis ausgeht. "Gar nicht immer missverständlich" sei da geschrieben worden, stellt der Rezensent fest, und findet lauter lobende Worte: "illuster", "anregend", "eingänglich".
© Perlentaucher Medien GmbH
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