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Wer die Geschichte einer Wissenschaft verstehen will, tut gut daran, die bahnbrechenden Fragestellungen und ihren - offenen oder latenten - Wettbewerb ernst zu nehmen - in ihnen verkörpern sich die Bewegung des Wissens und der Kampf der Begriffe. Renate Schlesier spürt in ihrem Buch dieser Bewegung und diesem Kampf nach - in und an den Werken großer Gelehrter, die die Religion, die Mythen, Rituale und Kulte der Antike erforscht und ihre Bedeutung interpretiert haben: Karl Otfried Müller, Otto Jahn, Jane Ellen Harrison, Eduard Meyer, Claude Levi-Strauss, Jean-Pierre Vernant u. a. m. Es entsteht…mehr

Produktbeschreibung
Wer die Geschichte einer Wissenschaft verstehen will, tut gut daran, die bahnbrechenden Fragestellungen und ihren - offenen oder latenten - Wettbewerb ernst zu nehmen - in ihnen verkörpern sich die Bewegung des Wissens und der Kampf der Begriffe. Renate Schlesier spürt in ihrem Buch dieser Bewegung und diesem Kampf nach - in und an den Werken großer Gelehrter, die die Religion, die Mythen, Rituale und Kulte der Antike erforscht und ihre Bedeutung interpretiert haben: Karl Otfried Müller, Otto Jahn, Jane Ellen Harrison, Eduard Meyer, Claude Levi-Strauss, Jean-Pierre Vernant u. a. m. Es entsteht so ein imponierendes Panorama anthropologischer Denkstile und Verfahrensweisen: Wissenschaftlergeschichte als Wissenschaftsgeschichte.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.1995

Bachofen zeugte Meuli, Meuli zeugte Burkert
Renate Schlesier treibt die Wissenschaftsgeschichte der Altertumskunde als Wissenschaftlergeschichte

"Die Ehe ist eine Institution, deren Wagnis Claude Lévi-Strauss dreimal auf sich nahm." Hilft uns diese Feststellung zu einem besseren Verständnis der "Traurigen Tropen" oder der "Strukturalen Anthropologie"? Ja, meint Renate Schlesier. In ihrer jüngsten Veröffentlichung "wird mit der Möglichkeit experimentiert, Wissenschaftsgeschichte als Wissenschaftlergeschichte zu schreiben".

Das Experiment hat seine Reize, wie die vorliegende Sammlung von Aufsätzen der Verfasserin demonstriert. Elf religionswissenschaftliche Arbeiten aus den Jahren 1980 bis 1994, zusammengestellt unter dem Titel "Kulte, Mythen und Gelehrte", geben ein bunt schillerndes Panorama der "Anthropologie der Antike seit 1800" (so der etwas akademischere Untertitel des Werkes), dessen Leuchtkraft den Leser zunächst mühelos in Bann zu schlagen vermag: Von Georg Friedrich Creuzer (1771 bis 1858) bis hin zu Jean-Pierre Vernant (geboren 1914), über die Zwischenstationen Otto Jahn (1813 bis 1869), Hermann Usener (1834 bis 1905), Jane Ellen Harrison (1850 bis 1928), Eduard Meyer (1855 bis 1930) und Claude Lévi-Strauss (geboren 1908), erzählt die Verfasserin Geschichten und Vorgeschichten vom bösen und vom bannenden Blick, von olympischer und chthonischer Religion, von Matriarchat und Monotheismus und von der École Pratique des Hautes Études in Paris.

Als Erzählerin muß man Frau Schlesier höchstes Lob zollen: Bei ihr wird philologische Akribie zu einer Stilqualität. Ihre Sprache ist genau und macht keinerlei Konzessionen an die wohlfeilen Modejargons, die sich allenthalben anbiedern (so ist beispielsweise kein einziges Mal vom "Diskurs" die Rede); ihre Liebe zum Detail - des Textes, des Umfeldes, des Hintergrundes - läßt sie ausdrucksstarke Bilder malen, wie man sie in der anämischen und zugleich von Klischees strotzenden Wissenschaftsprosa unserer Zeit nur noch selten findet. Sie ist manchmal einfach witzig - hier verdient ihre maliziöse Darstellung der Methoden des Strukturalismus, angewandt auf die vergleichende Mythenanalyse, besonders hervorgehoben zu werden.

Willkommen und für das interessierte Publikum wie für den Spezialisten gleichermaßen hilfreich sind auch die drei umsichtig gestalteten Anhänge: eine "Forscher-Chronologie zur Anthropologie" (hier überschneidet sich manches mit der ersten Prosopographie des "Handbuchs religionswissenschaftlicher Grundbegriffe"); eine Auswahlbibliographie von Zeitschriften, Buchreihen, Lexika und Institutionen, die die Erforschung der antiken Anthropologie betreiben; schließlich ein allgemeiner bibliographischer Überblick, in dem biographische Nachschlagewerke sowie Studien zur Geschichte der Altertumswissenschaft, der Religionswissenschaft, der Anthropologie der Antike, der ethnologischen Anthropologie und einzelner Universitäten (Basel, Berlin, Bonn, Frankfurt am Main, Göttingen und Tübingen) aufgelistet werden.

Trotzdem kann man dem Buch kein uneingeschränktes Lob zollen. Die häufige Brillanz und durchgehende Genauigkeit der Darstellung stehen in einem eigentümlichen Kontrast zu dem Dunkel, in das größere Funktionszusammenhänge getaucht bleiben. Hier offenbart sich Renate Schlesiers größte Qualität zugleich als ihre größte Schwäche: Von der (gelegentlich überbelichteten) Aufnahme mikroskopischer Details müßte zur Erhellung des Bildganzen fortgeschritten werden; dies aber unterbleibt. Da sich zudem weder Einstellung noch Blickwinkel der Betrachtungsweisen der Verfasserin je ändern, hat der Leser am Ende das Gefühl, eine Menge einander ähnelnder Momentaufnahmen zu besitzen, die er nicht in einen größeren Rahmen einzuordnen vermag. Dabei ist es nicht nur so, daß der Rahmen fehlte - man erfährt nicht einmal, wo er verlaufen sollte.

Ein weiteres Ärgernis betrifft eine methodologische Prämisse, die zunächst dank ihrer Einfachheit überzeugt, bei fortschreitender Lektüre aber zunehmend trivial wirkt. Es scheint zwei, und nur zwei, Grundvariablen zu geben, die die anthropologische Erforschung der Antike der letzten zweihundert Jahre bestimmt haben und mit deren Hilfe man das Treiben der Anthropologen restlos erklären kann: die Schulzugehörigkeit (Usener zeugte Dieterich, Dieterich zeugte Deubner, Fustel de Coulanges zeugte Durkheim, Durkheim zeugte Mauss; Bachofen zeugte Meuli, Meuli zeugte Burkert: so lauten drei der scheinbar alles erklärenden und ad nauseam wiederholten Mantras) und die Polpräferenz: Es gibt vier Bipolaritäten, innerhalb deren es um die Frage nach der Henne und dem Ei, also um die letztlich nicht zu entscheidende Frage der zeitlichen Priorität untrennbar miteinander verbundener Phänomene geht: Kultus oder Mythus? Staat oder Religion? Matriarchat oder Patriarchat? Chthonische oder olympische Religion? Die Möglichkeit, daß diese Fragen falsch gestellt sein könnten, wird nicht erörtert. Alles, was außerhalb dieses grobmaschigen hermeneutischen Rasters liegt, scheint nicht zu interessieren und wird gar nicht erst zur Kenntnis genommen.

Der Versuch, "Wissenschaftsgeschichte als Wissenschaftlergeschichte zu schreiben", muß am Ende als gescheitert erklärt werden. Vielleicht war Renate Schlesier sich dessen bewußt, als sie die vorliegende Aufsatzsammlung veröffentlichte: sie wollte nämlich, so heißt es im Vorwort, vor allem "zur Weiterarbeit anregen". Dies ist ihr zweifellos gelungen. Es ist ihr hoch anzurechnen. LUC DEITZ

Renate Schlesier: "Kulte, Mythen und Gelehrte". Anthropologie der Antike seit 1800. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1994. 361 S., br., 28,90 DM.

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