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Peter Gay, einer der renommiertesten Kulturhistoriker Amerikas, bietet in diesem Buch eine Fülle von neuen Einsichten in das Wesen des Menschen und die Natur seiner Aggression. Er filtert die Ereignisse des Jahrhunderts durch die Zeugnisse seiner Denker, Künstler, Schriftsteller, Satiriker, Studenten und Politiker und deckt das Zusammenspiel von Aggression und sozialem Wandel auf. Gleichzeitig entwirft er ein neues Bild der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts.

Produktbeschreibung
Peter Gay, einer der renommiertesten Kulturhistoriker Amerikas, bietet in diesem Buch eine Fülle von neuen Einsichten in das Wesen des Menschen und die Natur seiner Aggression. Er filtert die Ereignisse des Jahrhunderts durch die Zeugnisse seiner Denker, Künstler, Schriftsteller, Satiriker, Studenten und Politiker und deckt das Zusammenspiel von Aggression und sozialem Wandel auf. Gleichzeitig entwirft er ein neues Bild der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996

Gefühle, die Geschichte machen
Peter Gay plaudert über den Haß / Von Franziska Augstein

Der junge Herr Fröhlich konnte nicht wissen, welche Bedeutung das Wort einmal haben würde, das er als die englische Übersetzung seines deutschen Namens in seinen neuen amerikanischen Paß eintragen ließ. Der Tag ist viele Jahre her - aus der Gegenwart, dem Zeitalter der "Gay Parades", besehen, hat Peter Gays amerikanische Karriere schon mit einer Heiterkeit ihren Anfang genommen.

Seitdem hat der Historiker seine Arbeit als fröhliche Wissenschaft betrieben. Der zweite Teil seiner Essaysammlung "Freud lesen" heißt nicht zufällig "Unterhaltsames". Gay zählt das "Spielerische" zu den höchsten Begabungen eines Intellektuellen. Davon zeugen nicht nur sein lebhafter Stil und sein Sinn für das Paradoxe - auch seine Bücher sind im Lauf der Zeit immer mehr zu Spielwiesen geworden: Da hüpft Gay von einem Thema zum nächsten, schnuppert hier, lugt dort hinein, fängt so manche Grille und scheint überhaupt die Geschichte immer auch ein bißchen als ein Universalkuriosum zu betrachten.

Zu Beginn der achtziger Jahre guckte er sich ein Thema aus, das seiner Neigung zum Querfeldeinpalavern entgegenkommt. Als Spezialist der Aufklärung gefeiert, wandte er sich dem neunzehnten Jahrhundert zu. Inzwischen hatte er eine psychoanalytische Lehrausbildung absolviert, Freuds Theorie ist ihm in seiner Arbeit seitdem Hebel und Angelpunkt zugleich. Gays sechsbändige historische Serie, deren dritte Folge jetzt in einer Übersetzung vorliegt, beschäftigt sich mit der Geschichte der Affekte von 1820 bis 1914. Durch die Sphären von Politik und Kultur hindurch sucht er, das bürgerliche Sinnen und Trachten in seinem Grund auszuforschen. Welch ein grandioses Thema das ist: Die Gefühle, die Geschichte machten!

Im ersten Band des Großprojekts legte Gay dar, daß das Sexualleben des neunzehnten Jahrhunderts überall und sogar in England ausschweifender gewesen sei, als die Nachwelt es den prüden Puritanern zugestehen mochte. Im zweiten Band, der von der Liebe handelt, versuchte er die viktorianische Ehe von dem Leumund zu befreien, eine verkrampfte Gemeinschaft in der Lustfeindlichkeit gewesen zu sein: Sex und Zärtlichkeit seien durchaus zusammengegangen. Obgleich die Thesen auf Großbritannien und die Vereinigten Staaten gemünzt waren, machte Gay Abstecher in andere Länder, besonders nach Deutschland, Frankreich und Österreich. Gelegentlich warf er auch einen Blick nach Holland, Spanien und Italien. Während er mit dem ersten Buch offene Türen einrannte, wurde das zweite schon brummiger aufgenommen.

Keine Liebe ohne Haß: Der dritte Band handelt von der Aggression. Auf englisch beschäftigt er sich mit der "Kultivierung des Hasses", auf deutsch mit dem "Kult der Gewalt" - "Kultur der Gewalt" wäre besser gewesen, aber weil das Buch vom Hundertsten ins Tausendste schweift, finden sich genug Anlässe, den deutschen Titel zu entschuldigen. Im Einklang mit Freud hält Gay die Aggression für allgegenwärtig: Sie schlummert in der Liebe, befeuert das Durchsetzungsvermögen und entlädt sich im Akt der Gewalt. Folglich hat die gesamte Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts es verdient, Erwähnung zu finden. Gays Spielwiese ist noch nie größer gewesen.

Um dem Leser die Tiefe des Raums vor Augen zu führen, beginnt der Autor seine Geschichte mit einem Kapitel über die Mensur in Deutschland: Auf dem Paukboden wurde die aggressive Energie der studentischen Jungmänner in geregelte Bahnen gelenkt: Das bürgerliche Zeitalter, so der Grundgedanke des Buches, sei bestrebt gewesen, den Haß zu "kultivieren", indem es ihn reglementierte. Aber weil die Töchter Tusneldas einen Schmiß sexy fanden, habe das Moment der Libido in den blutigen Schlägereien auch eine Rolle gespielt.

Dann beschreibt Gay, wie Gewalttätigkeit im neunzehnten Jahrhundert gerechtfertigt worden sei: Die Anhänger des Sozialdarwinismus erklärten die Friedfertigkeit zu einer Schwäche, die mit dem Untergang bestraft wurde. Die gängigen Ansichten maskuliner Tugend sahen den Mann als chevaleresken Kampfhahn. Und schließlich wurden alle Fremden in den Rassentheorien der Zeit als hassenswerte Gestalten vorgeführt. Alle drei Positionen legitimieren die Gewalt. Es ist allerdings seltsam, daß Gay die Moral ganz übergeht, schließlich wird Brutalität doch gern damit begründet, das Opfer habe es verdient. Außerdem fragt man sich, was an der Liste typisch sein soll. Den Sozialdarwinismus gab es in früheren Epochen noch nicht. Aber der Haß auf kulturelle Außenseiter und das Lob des Kämpfertums sind so alt wie die Geschichte selbst.

Soweit ist das Buch klar strukturiert und wenig überraschend. Vom zweiten Kapitel an ändert sich das aber. Denn nun werden wir ins bunte Leben hineingezogen. Die Zeit, über die er schreibt, hat Peter Gay hübsch schwungvoll charakterisiert: "Der Wettbewerb wurde säkularisiert, die Rassenzugehörigkeit dramatisiert, die Mannhaftigkeit demokratisiert. Aus Sünden wurden Verbrechen, aus Verbrechen Krankheiten, aus Krankheiten Sozialprobleme." Mit Verve schreibt der Autor immer, aber so prägnant faßt er sich selten.

Er liebt es nämlich, zu erzählen: die Debatten über die Todesstrafe und die Frauenemanzipation; die Geschichte des Wahlrechts und der Gefängnisse; die Revolution von 1848; der Cäsarismus Napoleons III.; Bismarcks Karriere; der Sport; der Humor; Doktor Semmelweis' Einsicht in die Ursache des Kindbettfiebers - alle diese Dinge und viele mehr behandelt Gay, immer unterhaltsam, immer auch ein bißchen an der Peripherie seines Themas. Was nicht als offene Gewalt verbucht wird, findet als sublimierte oder konstruktive Aggression seinen Platz.

Selbst die Gegner von Gewalt und Unterdrückung sind in Wahrheit natürlich im Haß erfahrene Aggressoren im Schafspelz: Die amerikanischen Industriellen Carnegie und Rockefeller legten es darauf an, einander in der Gründung von Wohlfahrtseinrichtungen auszustechen. Die politischen und sozialen Reformbewegungen der Epoche brachten "eigentlich nichts anderes hervor als die Ersetzung primitiver Gewaltanwendung durch raffiniertere". Das klingt nach Michel Foucault. Gay sagt es nicht so, aber er scheint Foucaults Ansichten von der Modernisierung der Repression mit Norbert Elias' berühmter Idee von der Verfeinerung der Sitten verkoppelt zu haben.

Sigmund Freud kommt natürlich auch zu seinem Recht. Peter Gay ist zugute gehalten worden, daß er die Psychoanalyse der Geschichte ganz unaufdringlich betreibe. Das wenige, was er sagt, reicht freilich hin, jeden Gegner des Systems zu amüsieren: Das "Komplikationsamt", das in Charles Dickens' "Little Dorrit" der Aufgabe nachgeht, jede Aktion zu vereiteln, sei "der institutionalisierte Todestrieb". Bismarcks Bemerkung, er könne vor Wut platzen, bezeichnet Gay als ein "körperliches Symptom" und das Ergebnis "angestauter Aggressivität". Die deutschen Männer, die nostalgisch an ihre Studententage zurückdachten, hätten ihre guten Erinnerungen "weitgehend der Verdrängungsarbeit" zu danken. In Wirklichkeit seien sie von Sorgen geplagt gewesen: "Die Abschlußexamen, die Wut der Eltern, denen exorbitante Rechnungen von Schuhmachern oder Getränkehändlern ins Haus flatterten, und die allgegenwärtige Gefahr, von der betrogenen Ortsschönheit mit einer Vaterschaftsklage überzogen zu werden".

Während der Autor plaudert, wird der Leser allmählich muffelig. Peter Gay weiß so viel, daß es ganz unmöglich ist, seine Bücher ohne Gewinn zu lesen. Das gilt auch für "Kult der Gewalt". Aber manchmal ist ein Bleistift eben nur ein Bleistift, und manchmal möchte man geradewegs und ohne Verzug von der Exposition bis zum Finale eines Gedankengangs transportiert werden. Das ist bei Gay aber nicht zu haben. Statt dessen ergeht er sich in Abrissen zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts; sein Thema verliert er dabei immer mal wieder aus den Augen. Dann muß Bismarck "in seiner bekannten aggressiven Art das Wort" ergreifen, damit Gay zumindest terminologisch wieder bei der Sache ist.

Immer wieder handelt er nicht vom Bürgertum, sondern von der Aristokratie, vom Staat an sich oder von klassenübergreifenden Verhältnissen. Nirgendwo erklärt er, warum die Gewalt, die er beschreibt, typisch für die untersuchte Zeit gewesen sein soll, die er im übrigen monolithisch betrachtet, als habe sich zwischen 1820 und 1914 mentalitätsgeschichtlich nicht viel getan. Aus der Perspektive einer freudianischen Geschichtsschreibung ist das auch so: Das Es ist ewig. Unverständlich bleibt aber, wozu einer sich dann die Mühe macht, das neunzehnte Jahrhundert eigens zu betrachten. Die einzigen Themen, über die Gay kein Wort verliert, sind die Kirche und der Krieg. Die Abwesenheit des letzteren ist so absonderlich, daß es dafür nur eine gute Erklärung geben kann: Der Autor mag die Absicht haben, dem Sujet einen ganzen Band zu widmen, vielleicht sogar zum Abschluß des gesamten Projekts, das damit von Eros bis Tod gelaufen wäre.

Viele interessante Details sind in "Kult der Gewalt" zu lesen. Gays Gelehrsamkeit gebührt höchster Respekt. Wer weiß schon, daß Gottfried Keller in den Marlitt-Romanen "etwas von dem göttlichen Funken" erblickte oder daß der "Kampf ums Dasein" bereits 1871 in Büchmanns "Geflügelte Worte" aufgenommen wurde?

Weil das Buch so ansprechend geschrieben ist, würde es sich als eine eigenwillige Einführung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts gut machen. Über das gestellte Thema - sei es nun Aggression, Gewalt oder der Haß - ist darin allerdings nicht viel Neues zu lernen. Weil sich Gay in seiner fröhlichen Wissenschaft so sehr vertrödelt, wird das Gebiet seiner Recherche ihm unter der Hand zum Steinbruch, den man nur aufsucht, um davonzutragen, was nützlich ist. An der Masse der Funde hat man dann aber schwer zu schleppen.

Peter Gay: "Kult der Gewalt". Aggression im bürgerlichen Zeitalter. Aus dem Englischen von Monika Noll, Rolf Schubert, Ulrich Enderwitz. 862 S., geb., 98,- DM.

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