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  • ISBN-13: 9783472057994
  • Artikelnr.: 00591744
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.12.2004

Grundrechte und polizeiliche Nothilfe
Ein Kommentar zum Grundgesetz behandelt den Fall Daschner

Bruno Schmidt-Bleibtreu, Franz Klein+, Kommentar zum Grundgesetz, 10. Auflage, Luchterhand Fachverlag, München 2004, 2297 Seiten, 115 Euro.

Aktuell ist die Lektüre eines Grundgesetzkommentars immer; aktuell im Sinne von "auf dem neuesten Stand" ist eine Ausgabe, wenn sie die jüngste Rechtsprechung berücksichtigt hat, wie es die von Hans Hofmann und Axel Hopfauf koordinierte Überarbeitung ausgiebig tut. Wer noch vor dem erstinstanzlichen Urteil wissen will, wie der Fall Daschner mit Blick auf den Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes zu bewerten ist, findet in dem Abschnitt "Allgemeine Ausprägung der Menschenwürdegarantie" auf der Seite 132 unter der Randnummer 17 ("Typische Verletzungen der Menschenwürde - Folterproblematik") eine bemerkenswerte Einschätzung.

"Im Zusammenhang mit der Anklageerhebung gegen den stellvertretenden Polizeipräsidenten von Frankfurt/M. und einen seiner polizeilichen Mitarbeiter wegen des Vorwurfs der Androhung von Folter ist bezüglich einer Verletzung der Menschenwürde des Tatverdächtigen zu differenzieren", leitet Hofmann, der diesen Abschnitt verfaßt hat, seine verfassungsrechtlichen Überlegungen zu dem Fall ein, der gerade gerichtlich aufgearbeitet wird. Hofmann ist Ministerialrat im Bundesministerium des Innern. Sein Minister und dessen Haus sind sowohl für die Polizeifragen des Bundes zuständig als auch für den Schutz der Verfassung im breitesten Sinne des Wortes, weswegen jeder Bundesinnenminister sich gerne "Verfassungsminister" nennen läßt. Die Annahme, der Ministerialrat habe nur die Funktionsfähigkeit der Polizei im Blick, ist daher unbegründet, nach der Tradition seines Hauses muß er die Funktionsfähigkeit und Wirkungsmächtigkeit des Grundgesetzes ebenso und erstrangig im Blick haben.

Bei der Androhung von Folter in diesem Fall "kommt es zur Kollision des Menschenwürderechts, des Rechts auf körperliche Unversehrtheit sowie rechtsstaatlicher Gewährleistungen aus Artikel 20 Absatz 1 des Tatverdächtigen mit der Menschenwürde, dem Recht auf Leben und Persönlichkeitsfreiheit und ebenfalls rechtsstaatlicher Gewährleistungsrechte im Sinne polizeilicher Hilfeleistungsansprüche auf seiten des entführten Kindes. Bei einer Orientierung an Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes kann hier den bedrohten Rechtsgütern des entführten Kindes unter besonderer Berücksichtigung seines Lebensrechts ein Vorrang vor dem Recht auf körperliche Unversehrtheit des Tatverdächtigen gegeben werden." Hofmann sieht "in dieser Konstellation eine ähnliche Situation der Rechtsgüterabwägung wie bei der Anwendung eines sogenannten finalen Rettungsschusses". Dieser sei durch polizeiliche Ermächtigung legitimiert. "Die Androhung von Gewaltanwendung bleibt im Rahmen der polizeilichen Nothilfemaßnahmen zugunsten des entführten Kindes noch weit hinter den Folgen eines finalen Rettungsschusses zurück, der sogar die Tötung des Täters erlaubt. Diese Rechtsgüterabwägung dürfte auch und gerade im Rahmen der Prüfung des Merkmals der ,Verwerflichkeit' gemäß Paragraph 240 Absatz 2 des Strafgesetzbuches bei der Anklage gegen die Polizeikräfte dazu führen, daß man die Drohung mit körperlicher Gewalt zur Rettung des Lebens eines Entführungsopfers nicht als verwerflich einstufen kann."

Folgt man Hofmanns Hinweis zu seinen Erläuterungen zur Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit dem Artikel 2 des Grundgesetzes, dessen Absatz 2 Satz 1 für jedermann das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verbürgt, so liest man auf Seite 179, Randnummer 19: In der Androhung von Gewalt sei im erwähnten Fall "eine Nothilfehandlung zur Rettung des Kindes zu sehen, die die Androhung des Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz rechtfertigt, wenn kein anderes Mittel zur Verfügung steht, um das Leben des Kindes zu retten".

Im selben Abschnitt erwähnt Hofmann auch, daß selbst nach der Europäischen Menschenrechtskonvention - "falls kein anderes Lösungsinstrument zur Verfügung steht" - eine Tötung bereits gestattet sei, um jemanden rechtmäßig festzunehmen oder an der Flucht zu hindern. Dies aber sind, so kommt es einem Unbeteiligten vor, geringwertigere Zwecke als die Rettung eines unschuldigen Kindes.

Die von den Kommentatoren erreichte Aktualität ihrer Neuausgabe hat allerdings einen Preis: Kommt das Gericht im Fall Daschner, kommen gar die höheren Instanzen zu einem Urteil, das den Einlassungen des Kommentars widerspricht, so ist bald eine neue - "überarbeitete" - Auflage fällig. GEORG PAUL HEFTY

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