dem Titel "Körperkultur und Moderne" entwirft nun die Literaturwissenschaftlerin Anne Fleig "Robert Musils Ästhetik des Sports" anhand von dessen kulturkritischen Sport-Essays "Als Papa Tennis lernte" (1931) und "Kunst und Moral des Crawlens" (1932) sowie seines Opus magnum, des "Mann ohne Eigenschaften". Um Musils Werke plausibel im Sportdiskurs der zwanziger Jahre zu kontextualisieren, skizziert Fleig die essayistisch-avantgardistische Sportdebatte dieser Zeit, die zu großen Teilen, wenngleich nicht ausschließlich in dem von Alfred Flechtheim 1921 begründeten Magazin "Querschnitt" geführt wurde, in dem auch Musils Tennis- und Schwimm-Essays erschienen.
Dass die sogenannte künstlerische Avantgarde gesellschaftlich gesehen jedoch gar keine Vorreiterrolle einnahm, sondern schon damals wie heute dem Technik- und Wissenschaftsdiskurs in gewisser Weise hinterherhinkte, zeigt, wenn auch nicht ausdrücklich mit dieser Schlussfolgerung, Fleigs Blick auf das Zusammenspiel von Körper, Technik und Naturwissenschaften seit dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert, veranschaulicht unter anderem am sogenannten Taylorismus und der Psychotechnik: Während die nach dem Ingenieur Frederick W. Taylor benannte amerikanische Denkart menschliche Bewegungsabläufe und industrielle Arbeit eng miteinander verband und somit auf einer Rationalisierung des Körpers basierte, verknüpfte die industrielle Psychotechnik angewandte Psychologie und Arbeitswissenschaft "im Dienste der Kulturaufgaben" (so Hugo Münsterberg in seinem Hauptwerk "Grundzüge der Psychotechnik", 1914). Der "Querschnitt" lieferte also wenige Jahre später Autoren wie Alfred Döblin, Gottfried Benn, Kurt Pinthus, George Grosz, Mascha Kaleko oder Gertrude Stein eine geeignete Plattform zur Wahrnehmung kultureller Anliegen, bei deren Umsetzung jedoch der Bezug zum Sport - man denke an die technisch-ästhetisch für den Kunstdiskurs seit Kleist relevante Figur des Fechters beziehungsweise dann des Boxers - oft nur als Vergleich zur mitunter tragisch empfundenen und zugleich euphorisierten Dichterexistenz diente. So etwa bezeichnete Benn in der "Weltbühne" das Dichten 1926 als eine Art "Aktion am Sandsack: allein und ohne Partner".
Auch Musils Sport-Essays tragen, so Fleig, "Züge poetischer Selbstreflexion", indem "das Denken von Bewegung und das Denken als Bewegung" eine "produktive Verschränkung" eingehen und "Muster essayistischer Selbstreflexion" werden - eine Beschreibung, die sich selbstredend auf den "Mann ohne Eigenschaften" anwenden lässt. Der Essay, so lässt uns Musils Roman-Erzähler wissen, ist "die einmalige und unabänderliche Gestalt, die das innere Leben eines Menschen in einem entscheidenden Gedanken annimmt". Anders gesagt: Beim Essay geht es nicht um die unzähligen, immer wieder gescheiterten Versuche, um das "anthropotechnisch" (Peter Sloterdijk) bedingte Üben, sondern um die Gestalt oder den Abdruck, den diese Gedankenbewegungen im Kunstwerk hinterlassen, also das Kunstwerk selbst.
So überzeugt auch weniger Fleigs These von Ulrichs "Krise der Männlichkeit", die dieser hinter der "Maske des Sports" verbergen will, die ihrerseits ein Äquivalent seiner "Eigenschaftslosigkeit" sein soll, als vielmehr die ästhetische Schlagkraft, die in diesem unvollendet gebliebenen Werk steckt. Ulrich lässt den Leser schon früh wissen: "Man kann tun, was man will, es kommt in diesem Gefilz von Kräften nicht im Geringsten darauf an!", um dann dem in seinem Ankleidezimmer hängenden Punchingball "einen schnellen und heftigen Schlag" zu versetzen, "wie es in Stimmungen der Ergebenheit oder Zuständen der Schwäche nicht gerade üblich ist".
Auch wenn das dritte Themenheft des "Querschnitts" zum Sport aus dem Jahr 1932 mit einem Beitrag unter dem Titel "Weltreligion des 20. Jahrhunderts" eröffnete, bei dem der Autor das christliche "Kreuz-Symbol" von der "Kugelgestalt" des Balles abgelöst sah; auch wenn Ulrich, wie Fleig ausführt, durch eine Zeitungsmeldung über ein "geniales Rennpferd" ziemlich bald davon Abstand nimmt, ein "bedeutender Mann" werden zu wollen, um stattdessen "Urlaub vom Leben" zu nehmen - nach der in vielerlei Hinsicht erhellenden Lektüre der Fleigschen Studie sowie der weltumspannenden, medial vermittelten Präsenz von sportlichen Ereignissen und dem Körperkult ist man am Ende doch erleichtert, dass es Musil noch um einiges mehr ging als um eine reine Ästhetik des Sports.
FRIEDERIKE REENTS
Anne Fleig: "Körperkultur und Moderne". Robert Musils Ästhetik des Sports. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 2008. 358 S., geb., 98,- [Euro].
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