in corpore sano" verdichtete die Symbiose von Körper und Seele auf ein Schlagwort.
Das christliche Mittelalter behielt der Seele die Unsterblichkeit vor und konnte sich, als Jahrtausend ohne Sport, eine ausgewogene Pflege von Körper und Geist nicht denken. Peter Dinzelbacher formuliert dementsprechend: "Es gibt keine Epoche in der europäischen Geschichte, die die Seele mehr auf- und den Körper mehr abgewertet hat als das Mittelalter." Demgegenüber wies unlängst Jacques Le Goff eine widersprüchliche Haltung der mittelalterlichen Christen zum Körper nach, der ebenso gepriesen wie gedemütigt worden sei. Anders als der französische Mediävist, der seine "Geschichte des Körpers im Mittelalter" (F.A.Z. vom 30. März 2007) als "totale Geschichte" angelegt hat, beschränkt sich Dinzelbacher in einem neuen Buch auf die Einbeziehung des Leiblichen und Sinnlichen in die Religiosität der Epoche; trotz ihrer thematischen Enge führten ihn seine Studien zu dem allgemeinen Urteil, dass allem Körperlichen im mittelalterlichen "age of spirituality" "faktisch ein entschieden größeres Gewicht zukam als im heutigen Leben".
Diese Behauptung würde sich wohl nicht einmal in einer diachronisch konzipierten Vergleichsstudie erhärten lassen. Überzeugend belegt Dinzelbacher indessen, dass in der Mentalität des hohen und späten Mittelalters der Leib zum Instrument des individuellen Seelenheils gebraucht wurde, ja dass er zu seinem religiösen Zweck gequält, verwundet, ausgeblutet, ausgehungert und geradezu zerbrochen werden musste. Viele Gläubige verstanden die Aufforderung zur "imitatio Christi" wörtlich, nahmen ihr Kreuz auf sich, ließen sich ans Holz heften (oder trieben sich selbst die Nägel durch die Gliedmaßen), brannten sich mit einem glühenden Messing das Kreuz auf die Haut oder banden sich ein mit Eisennägeln gespicktes Kreuz mit dem Christusmonogramm auf den Rücken.
Obgleich Leib und Seele wie teilweise schon in der vorchristlichen Antike als konträre Wesen angesehen wurden, setzte sich die theologische Lehre von der Unkörperlichkeit der Seele bei den gewöhnlichen Gläubigen offenbar kaum durch. Vielmehr erscheint diese immer wieder selbst in menschlicher Gestalt, nackt oder auch bekleidet. Nicht nur in Texten, sondern auch in Bildern, vor allem den Szenen des Jüngsten Gerichts, ist die Seele körperlich dargestellt. Schwer erträglich dürften für die meisten modernen Leser die zahlreichen Berichte über die Brautmystik sein, bei der sich die weiblich gedachte Seele oder die Mystikerin selbst mit dem männlichen Gott vereinigt. Ihrem Beichtvater Johann soll die preußische Heilige Dorothea von Montau (gestorben 1394), Mutter von neun Kindern, geradezu pornographisch ihre Begegnungen mit dem himmlischen Bräutigam geschildert haben: Christus habe sie "bald mit Liebesdornen, bald mit Pfeilen, bald mit Lanzen und Speeren" verletzt. Dorothea sah "wie zwei neue und schöne Lanzen in ihr Herz gestochen waren, deren Schäfte sehr lang waren und von ihrem Herzen aufsteigend bis zum wunderbar geschmückten Himmelsthron reichten".
In einer anderen Vision sprach der Herr zu Dorothea: "Oft geschieht es, dass ein fleischlicher Gemahl sich so an seiner Braut zeigt, dass sie darüber ihren Freunden genug zu berichten hat. Auch ich will dir jetzt Gewalt antun, dass du deinen liebsten Freunden genug zu erzählen hast. Ich habe sieben Tage lang in dein Herz viele süße Liebespfeile geschossen. Nun habe ich in dein Herz harte, finstere, riesige Lanzen gesteckt, damit du und deine Freunde wirklich wissen und offen zugeben können, dass du einen potenten und ernstzunehmenden Bräutigam hast."
Zeugnisse dieser Art interpretiert Dinzelbacher als diagnosefähige Aussagen einer somatisch kranken Frau, ohne zu bedenken, dass es sich ebenso gut um Gewaltphantasien von Dorotheas Seelenführer handeln könnte. In dem Buch vermisst man auch sonst eingehende Textanalysen. Der Autor will eine der Moderne fremd gewordene Mentalität vor Augen führen, ohne eine Antwort darauf zu bieten, weshalb man sich dann für das Mittelalter interessieren soll. Eine klare Position zu den historischen Diskursen der Gegenwart nimmt er nicht ein.
Sein Buch besteht aus dreizehn älteren, thematisch nicht immer einschlägigen Abhandlungen, die je nach ihrem ursprünglichen Kontext eine verschiedene theoretische Färbung aufweisen; methodisch geschulte Leser quälen sich mit den so entstandenen Widersprüchen. Ein überzeugender Beitrag der deutschen Mittelalterforschung zur internationalen Diskussion um Körper und Raum ist Dinzelbachers Buch deshalb nicht.
MICHAEL BORGOLTE.
Peter Dinzelbacher: "Körper und Frömmigkeit in der mittelalterlichen Mentalitätsgeschichte". Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2007. 347 S., 8 Abb., br., 32,90 [Euro].
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