Produktdetails
  • btb
  • Verlag: btb
  • Abmessung: 190mm
  • Gewicht: 203g
  • ISBN-13: 9783442721627
  • ISBN-10: 3442721628
  • Artikelnr.: 24288663
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.05.1995

Mädchen mit Perlenohrgehänge
Jochen Schimmang führt über "Königswege"

Königswege sind Wege, die zum Glück oder wenigstens zum Einverständnis mit sich selbst führen. In Jochen Schimmangs neuem Buch, das unter dem Titel "Königswege" erschienen ist, darf man dergleichen dreimal miterleben. Auf knapp zweihundertsechzig Seiten bietet das schön geschriebene Buch drei Geschichten, die durchaus unterschiedlich sind, aber darin übereinstimmen, daß sie Wege zu sich selbst und zu unterschiedlichen Arten und Graden von Glück zeigen.

In der ersten Geschichte reist der Kunsthistoriker Vandenberg, ein vierzigjähriger Universitätsprofessor und Vermeer-Experte, nach Den Haag, um im Mauritshuis wieder einmal Vermeers "Mädchen mit dem Perlenohrgehänge" zu sehen: ein Bild, das eine junge Frau zeigt, die den Betrachter des Bildes über die linke Schulter anzublicken scheint, mit leicht geöffneten Lippen und einem äußerst vieldeutigen Gesichtsausdruck.

Vermeers Frau soll - Schimmang zufolge - das Bild nach dem Tod des Meisters an einem geheimen Ort gefunden haben und soll nicht nur überrascht, sondern beunruhigt gewesen sein. Was für eine Geschichte mochte zu diesem überaus ansprechenden Bild geführt haben? Welche Erfahrungen mochten in diesem vieldeutigen Gesichtsausdruck aufgehoben sein?

Auch Schimmangs Vermeer-Experte wird seit Jahren von diesen Fragen umgetrieben und immer wieder nach Den Haag gezogen. Dieses Mal erschließt sich ihm das Bild. Im Nachdenken über Vermeers Werdegang und über seine eigene Entwicklung glaubt er zu erkennen, was Vermeer auf jenem Bild festgehalten hat: den Blick einer Frau, die einen Mann in seinem Innersten erkennt. Und dann folgt natürlich eine wunderbare Liebesgeschichte, die diese Vermutung zur Gewißheit werden läßt.

Was der Kunsthistoriker Vandenberg für eine Nacht gewinnt, das findet in der folgenden Geschichte der Archivar Schlesinger dank des unversehens ihm zuteil werdenden Glücks, aus dem Beruf aussteigen zu können, für immer. Noch mehr als die erste ist die zweite Geschichte ein modernes Märchen, in dem ein braver Beamter zu einem abenteuerlichen Motorradfahrer wird, endlich eine Braut findet und mit ihr in ein immer größer werdendes Glück fahren darf.

Von dieser Märchenhaftigkeit rückt die dritte Geschichte wieder etwas ab. Zwei Jahre nach jenem erkenntnisreichen Besuch in Den Haag nimmt der Kunsthistoriker Vandenberg in einer norddeutschen Provinzstadt an der Kür einer Schönheitskönigin teil - und entdeckt bei dieser Gelegenheit, daß Glück (oder wenigstens Zufriedenheit) auch aus Zurückhaltung, aus einem Rückzug im entscheidenden Moment resultieren kann.

Das klingt zugegebenermaßen ein bißchen nach beginnender Altersweisheit und höherer Moral. Aber von einer moralisierenden Redeweise ist Schimmang denkbar weit entfernt. Seine durchaus ironisch gehaltenen und oft lakonisch formulierten Geschichten sind stark erotisch, und das obszöne Vokabular, das man heutzutage für die Organe und Spielarten der körperlichen Liebe hat, wird nicht nur ungeniert, sondern mit sichtlicher Freude verwendet. Erstaunlicherweise verliert es in Schimmangs Erzählungen seine gemeinen Beiklänge und gewinnt eine geradezu natürliche Selbstverständlichkeit und Urbanität. Urbanität, die der Vielfalt des Lebens mit freundlicher Aufgeschlossenheit begegnet, ist überhaupt ein Kennzeichen dieser einnehmend erzählten Geschichten, deren Lektüre fast wieder daran glauben läßt, daß man auch heutzutage noch glücklich werden könnte. HELMUTH KIESEL

Jochen Schimmang: "Königswege". Schöffling & Co., Frankfurt am Main 1995. 259 S., geb., 38,- DM.

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