Produktdetails
  • Verlag: Hoffmann und Campe
  • Seitenzahl: 511
  • Abmessung: 49mm x 145mm x 214mm
  • Gewicht: 742g
  • ISBN-13: 9783455112573
  • ISBN-10: 3455112579
  • Artikelnr.: 07557758
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.05.1999

Zwiespältiger Charakter
Kennedys Schwächen, deren Folgen

Seymour M. Hersh: Kennedy. Das Ende einer Legende. Aus dem Amerikanischen von Markus Schurr, Heike Schlatterer und Norbert Juraschitz. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1998. 512 Seiten, 49,90 Mark.

Der amerikanische Journalist Seymour Hersh legte unter dem Titel "The Dark Side of Camelot" 1996 eine neue Kennedy-Biographie vor, die das Ergebnis von fünf Jahren Recherche ist. Der Verfasser führte mehr als 1000 Gespräche mit Menschen, die Kennedy kannten und für ihn gearbeitet hatten. Hersh, der 1970 wegen seiner Reportage über das amerikanische Massaker im südvietnamesischen My Lai mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, will zeigen, daß Kennedys Privatleben und seine persönlichen Obsessionen die Staatsgeschäfte und die Außenpolitik sehr viel stärker beeinflußten als bislang bekannt sei. Und dennoch: Ein klar konturiertes Bild der unbestrittenen charakterlichen Schwächen des 35. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika entsteht nicht. Es bleibt verschüttet zwischen unwichtigen Details, Mutmaßungen und überquellendem Material. Der Enthüllungsjournalist stößt an seine Grenzen, denn wer alles erzählt, erzählt nichts.

Die Promiskuität und die Sexeskapaden des Präsidenten sind hinlänglich bekannt; sie werden noch einmal aus der Sicht eines Voyeurs betrachtet, wohl um auch die Verkäuflichkeit des Buches zu sichern; ein ganzer Stab war seit 1992 an der Darstellung beteiligt, deren Fernsehrechte schon vor der Veröffentlichung verkauft wurden. Historiker werden die Feststellungen Hershs nicht bestreiten können, daß der Erfolg bei den Präsidentenwahlen im Herbst 1960 nicht frei von Manipulationen war. Aber das war in jenen Tagen üblich, so daß eine übermäßige Empörung heute fehl am Platze erscheint. Noch in der Nacht hatte der damalige Mitbewerber, Vizepräsident Richard M. Nixon, sich geschlagen gegeben und das Wahlergebnis anerkannt, obwohl auch er vom Wahlbetrug überzeugt war. Im Zentrum der Darstellung steht jedoch das Verhältnis Kennedys zu Kuba. Kennedy fühlte sich durch das Fiasko der Schweinebucht gedemütigt, weshalb er Überlegungen zuließ, die auf eine gewaltsame Vernichtung Castros zielten. Diese von Hersh akribisch nachgezeichneten Pläne sind eine Schande für die amerikanische Diplomatie und die höchsten staatlichen Verantwortungsträger. An diesem Beispiel wird die Zwiespältigkeit von Kennedys Außenpolitik deutlich, die sich in seinem Charakter widerspiegelte. Er trieb den Antikommunismus aus innenpolitischen Erwägungen auf die Spitze, gleichzeitig bereitete er im geheimen eine Politik des Ausgleichs und der Entspannung vor. Diese Widersprüchlichkeit begründete auch das Engagement der Vereinigten Staaten in Vietnam, eine kriegerische Auseinandersetzung, die Kennedy nach seiner Wiederwahl 1964 beenden wollte. Diese Ambivalenz zeigt sich ferner bei seinen Verbindungen zur Mafia, weil er andererseits seinen Bruder Robert unterstützte, der das organisierte Verbrechen unerbittlich verfolgte. Aus der Darstellung Hershs wird deutlich, daß es ebendiese politische Zwiespältigkeit war, aus der jene Gewalt hervorging, der Kennedy schließlich zum Opfer fiel.

Sehr überzeugend sind die Passagen, in denen Hersh davon berichtet, welche Anstrengungen Robert Kennedy unternahm, um das Bild seines Bruders vor der Geschichte zu bewahren. Ohne Wissen der Beteiligten wurden im Oval Office, im Cabinett War Room und in den Wohnräumen des ersten Stocks des Weißen Hauses die Gespräche auf Bänder aufgezeichnet, die nunmehr in der John F. Kennedy Library in Boston lagern. Bis Mai 1976 hatte die Familie Kennedy Verfügungsgewalt über diese Tonbandaufzeichnungen, die zweifelsfrei manipuliert wurden, um historische Wahrheiten zu verschleiern. Dieses Detail offenbart, wie sehr die Kennedys Gesetze mißachteten, wie sie selbstverständlicherweise von der Manipulierbarkeit der Menschen ausgingen; dies hat etwas mit der finanziellen Unabhängigkeit und dem unvorstellbaren Einfluß zu tun, die Grundlage des Aufstiegs dieser amerikanischen Familie irischer Herkunft waren. Interessant für den deutschen Leser sind auch die Bemerkungen Hershs zur Struktur der Regierung, die darunter gelitten habe, daß sich die Berater immer im Wettlauf um die Gunst des Präsidenten befunden hätten. Die Sorglosigkeit, mit der sich der Präsident in den Verstrickungen zwischen Mafia, CIA und FBA bewegte, ist für einen nichtamerikanischen Leser konsternierend. Doch liegen die 1000 Tage seiner Amtszeit weit zurück, berühren unsere Gegenwart nicht mehr. Gerade die kritische Darstellung Hershs, die nunmehr in der deutschen Übersetzung vorliegt, unterstreicht die historische Zäsur und befördert den historischen und geistigen Abstand zum 35. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, dessen Mythos zunehmend verblaßt. Plutarch meint, das Glück hebe einen gemeinen Charakter durch glänzende und ausgezeichnete Taten noch hervor. Der Abschluß des Vertrages über die Einstellung oberirdischer Kernwaffenversuche im Jahr 1963, mit dem international die unser Zeitalter verändernde Entspannungspolitik eingeleitet wurde, bleibt in der Nachbetrachtung das große Verdienst Kennedys. Ein zwiespältiges Buch.

JOACHIM BECKER

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