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In seinem Buch »Kein Frühling« erzählt Peter Kurzeck die Nachkriegsgeschichte eines oberhessischen Dorfes bis in die fünfziger Jahre hinein: nur über ein paar unverdrossene Feldwege zu erreichen, eine Bevölkerung aus Kleinbauern, Handwerkern, Eisenhütten- und Ziegeleiarbeitern, jeder mit seinem überkommenen Achtzehn-Stunden-Tag, jeder zeitlebens sein eigener Knecht, mürrisch und schlecht ernährt, vor Fremden verschlossen - »die Menschen, von denen ich leben gelernt habe« - diese Welt seiner Kindheit hat Peter Kurzeck in seinem Werk festgehalten. »Kein Frühling« ist das Buch, von dem Kurzeck in…mehr

Produktbeschreibung
In seinem Buch »Kein Frühling« erzählt Peter Kurzeck die Nachkriegsgeschichte eines oberhessischen Dorfes bis in die fünfziger Jahre hinein: nur über ein paar unverdrossene Feldwege zu erreichen, eine Bevölkerung aus Kleinbauern, Handwerkern, Eisenhütten- und Ziegeleiarbeitern, jeder mit seinem überkommenen Achtzehn-Stunden-Tag, jeder zeitlebens sein eigener Knecht, mürrisch und schlecht ernährt, vor Fremden verschlossen - »die Menschen, von denen ich leben gelernt habe« - diese Welt seiner Kindheit hat Peter Kurzeck in seinem Werk festgehalten. »Kein Frühling« ist das Buch, von dem Kurzeck in seiner großen autobiographischen Chronik »Das alte Jahrhundert« immer wieder erzählt, weil er die achtziger Jahre hindurch daran gearbeitet hat.
Autorenporträt
Peter Kurzeck ist 1943 in Böhmen geboren. Aufgewachsen in Staufenberg bei Gießen. Lebt in Frankfurt am Main und in Uzès (Südfrankreich). Für sein literarisches Werk wurde Kurzeck mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Georg-Christoph-Lichtenberg-Preis 2007.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2007

Umfassende Gelassenheit
Warum dem Schriftsteller Peter Kurzeck die Zeit nicht lang genug sein kann

Man sagt, Frauen und Männer unterschieden sich in der Art, wie sie einen Weg beschrieben. Eine männliche Wegbeschreibung bestehe aus Himmelsrichtungen und geschätzten Entfernungen. Eine Frau erkläre einen Weg anhand optischer Auffälligkeiten. Würde diese Theorie zutreffen, müsste der Schriftsteller Peter Kurzeck über ein erzweibliches Wegbeschreibungsgen verfügen: Am Telefon erklärt, nein, dichtet er den Weg zum "Kasino" der Sparkasse Calw, wo ein kleiner Empfang zu seinen Ehren stattfindet, weil er als Hermann-Hesse-Stipendiat in der Hermann-Hesse-Stipendiatenwohnung drei Monate lang ungestört und sorgenfrei arbeiten darf. Kurzecks Wegbeschreibung ist eine vorliterarische Vignette: Man solle über die Brücke mit dem Hermann-Hesse-Denkmal spazieren, nach dem ersten Fachwerkhaus hinter der Brücke links in die schön gepflasterte Straße einbiegen, dann die erste Möglichkeit wieder links in den Hinterhof der alten Apotheke, dort finde man ein Tor, wo man eingelassen werde, sei man nur würdig genug.

Kurzeck ist ein Erinnerungs- und ein Beschreibungsgenie. Zwischen den Hermann-Hesse-Gesellschaft-Vertretern und anderen Stützen der Calwer Gesellschaft kommt Kurzeck in der Kreissparkasse nach der unvermeidlichen Frage nach seinen Arbeitsgewohnheiten sofort ins detailselige Erzählen, ins spontane Prosa-Dichten: Wie er nach der ersten morgendlichen Schreibschicht aus dem Fenster auf den Hügel Richtung Kloster Hirsau schaue, wo er sich förmlich schon spazieren gehen sehe, denn dann breche er sofort zu seinem ersten Spaziergang auf, aufgehalten nur durch einen Espresso im Café "Wendland". Ein paar Stunden Spaziergang und Ruhepause, dann folgt die zweite Schicht, bei der er sich in der Nacht zum Aufhören zwingen müsse, denn mit zu wenig Schlaf schreibe es sich morgens viel schwerer, zu schwer. Er erzählt, wie er es nach einer Lehre zum Einzelhandelskaufmann bei der US-Besatzungsmacht in Gießen zum Personalchef brachte und neunhundert Angestellte betreute. Der Sparkassendirektor hebt anerkennend eine Braue, als verliehen diese handfesten Qualifikationen eine besondere, eben auch schriftstellerische Dignität. Dann habe er, Kurzeck, eines Morgens, am 19. August 1971 - das Datum ist unvergesslich - gleich nach dem Aufwachen mit unerschütterlicher Gewissheit gewusst, dass er seinen Job hinschmeißen müsse, um seine produktivsten Stunden von nun an der Schreibarbeit zu widmen. Als er umgehend bei seinem Chef anrief, um seine Entscheidung mitzuteilen, dachten dieser zunächst, er wolle mehr Geld. Der Chef konnte kaum glauben, dass Kurzeck diesen Job aufgeben würde, nur um Bücher zu schreiben.

Minutenstau

Geschrieben hat Peter Kurzeck, geboren 1943 in Böhmen und aufgewachsen nach der Vertreibung in Staufenberg bei Gießen, eigentlich schon immer. Aber dann wurde es ernst. Bis 1979 der erste Roman im Verlag Roter Stern erschien, hatte Kurzeck viele tausend Seiten mit einem "ewigen Buch" gefüllt, aus denen er auswählte, redigierte, umschrieb und schließlich 350 Seiten zum Roman erklärte. Der Romantitel ist selbst schon ein kurzes Gedicht: "Der Nussbaum gegenüber vom Laden in dem du dein Brot kaufst. Die Idylle wird bald ein Ende haben!" Der Autor Kurzeck war mit diesem ersten Buch eigentlich schon ganz da, voll entwickelt und von der ersten bis zur letzten Zeile sprachtrunken. Der Vergleich mit Proust und Joyce, den die Kritik ins Spiel brachte, ist Kurzeck heute eher unangenehm. Er mache doch etwas ganz anderes, und Leser abschrecken würde der Vergleich auch, sagt Kurzeck im Calwer Café beim geliebten Espresso, der einzigen Droge, die er sich nach überwundener Alkohol- und Zigarettensucht gönnt. Er sieht aus wie ein Mischwesen aus einem geläuterten Mackie Messer und einem gefallenen Engel, mit dem schmalen Schnurrbart und dem Einstecktuch, die Gutmütigkeit in Person.

Immerhin gibt es literarische Entsprechungen zu den beiden klassischen Autoren, die sich nicht von der Hand weisen lassen: Mit dem Franzosen teilt er den Erinnerungsfuror und mit dem Iren die Technik des unendlichen Bewusstseinsstroms. Aber da hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Der immer fast kindlich staunende Grundduktus seiner Prosa erinnert eher an Eichendorff, die mäandernde, mit fortschreitenden Wiederholungen arbeitende Oberfläche an Thomas Bernhard. Kurzecks Prosa will die Zeit aufhalten, oder eher noch: das unerbittliche Verstreichen der Zeit erträglich machen, in dem ab und zu eine Ahnung vom großen Zusammenhang und vom Wesen des Bewusstseins aufblitzt. "Schon wieder zwei Minuten mehr, die eilig an mir vorbei sind", heißt es im jüngsten Roman "Oktober und wer wir selbst sind". Und bisweilen sind seine Zeitreflexionen mystisch: "Und musst stehen bleiben und dir den Augenblick merken. Für immer. Dein Leben, den Herbst, die Straßenecke, den heutigen Tag. Das bin ich."

In seinem zweiten Roman "Das schwarze Buch" (1982) beschreibt Kurzeck den Weg des Vertreters Merderein in die Alkoholsucht und wieder hinaus. Mit dem Vertreter hat Kurzeck nicht nur das Geburtsdatum gemeinsam. Der Roman endet mit dem Appell, die eine Sucht durch eine andere, produktivere, nämlich das Schreiben, zu ersetzen: "Lang genug gewartet! Geboren am 10. Juni 1943 in Böhmen, Himmel wolkenlos, laßt mir Zeit und ich werde mich sogar noch an meine Geburt erinnern! Und jetzt fang endlich an mit deiner Geschichte!"

Und seitdem hat Peter Kurzeck sein "ewiges Buch" in eine Reihe autobiographischer Romane ausgeformt, die in ihrer Musikalität und Spracheleganz mit Sicherheit zum Schönsten gehören, was die Gegenwartsliteratur zu bieten hat. In "Kein Frühling" von 1987 erinnert sich Kurzeck an die Kindheit in Staufenberg. Ein Ich löst sich auf im kollektiven Dorfkosmos von unendlichen Geschichten. Der Roman ist jetzt wieder aufgelegt worden, mit zusätzlichen Passagen, für die er 1991 separat mit dem Alfred-Döblin-Preis geehrt wurde. "Keiner stirbt" erzählt wiederum aus den fünfziger Jahren in Gießen. Mit seinem fünften Roman eröffnete er einen neuen autobiographischen Anlauf und machte die Jahre 1983/84 zum Gegenstand, die Trennung von seiner Frau, mit der er eine Tochter hat. "Übers Eis" (1997), "Als Gast" (2003), "Ein Kirschkern im März" (2004), "Oktober und wer wir selbst sind" (2007) sind die Bände dieser auf eine Tetralogie angelegten Romanreihe. Aber es kann gut und gern sein, dass der Autor den Erzählstrom nicht unterbrechen kann und irgendwann ein, zwei oder fünf weitere 1984-Bücher schreibt.

Dass Kurzecks Schreiben seine innerste Energiequelle in der Mündlichkeit des Erzählens hat, zeigt eine wunderschöne, gerade im Supposé-Verlag erschienene CD-Sammlung "Ein Sommer, der bleibt". Hier erzählt der Schriftsteller, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, ohne Manuskript. Man wird in einen Erinnerungsstrudel gezogen und ertappt sich bei dem Wunsch, eine Kurzeck-CD zum Einschlafen aufzulegen, so beruhigend ist die Dichterstimme. Man vertauscht sich als Kurzeck-Fan probeweise mit dessen Tochter, deren Einschlafrituale so oft erzählt werden. Verlässlich ist Kurzecks Fähigkeit, nach der vierten, fünften Erzählgabelung und verschachtelten Fußnoten wieder auf den Hauptstrang zurückzukommen. Aber der Zuhörer wäre sogar bereit, sich mit dem Erzähler im Erinnerungsgeflecht zu verlieren.

Dauersog

Kurzecks Bücher sind, wenn man sie mit Musik vergleicht, eher Klangflächenkompositionen als durchkonstruierte Symphonien. Das Bedürfnis nach gefügter Handlung entsteht gar nicht erst bei der Lektüre, so sehr wird man von der Sprachbewegung mitgeführt. Durch die häufige Auslassung von Verben und die Partizipialsätze entsteht ein genau kalkuliertes Lesetempo, ein Rhythmus, der einen angenehmen Sog erzeugt. Peter Kurzeck ist ein Meister der austarierten Sprachrhythmik.

Kurzeck erzählt in dem kleinen Calwer Café druckreif von seiner Wohnung im südfranzösischen Uzès und dass eines seiner nächsten Bücher, nicht das, an dem er gerade arbeitet, sondern ein noch zukünftigeres, in Südfrankreich spielen wird. Wie er in den neunziger Jahren dort mit einer Freundin, einer Schriftstellerin, ein Haus gesucht habe und dann, als das Haus ausgesucht war, beide plötzlich gemerkt hätten, dass sie nicht zusammenleben wollten. Daraufhin habe er sich eine Wohnung gesucht, in einem Haus, wo André Gides Großmutter lebte. Seitdem verbringt er den größten Teil des Jahres in Uzès, und nur ein paar Monate schaue er in Frankfurt nach dem Rechten, denn dort verändere es sich alles so schnell, fast schneller, als man schauen kann, sagt Kurzeck.

Ein bisschen muss man an "Tausendundeine Nacht" denken, nur eben in einer okzidentalen Version, der Schriftsteller als männliche Scheherazade, aber eine, die nur von sich erzählt - und dennoch wird es nie langweilig. Das Suchtpotential, das in den Texten steckt, erfasst den Leser, man lässt sich davontragen und umschmeicheln, genießt die Intensität des Zeitlichen, die Kurzecks Prosa herstellt.

Bescheiden stellt sich Kurzeck für ein Foto neben die Hermann-Hesse-Skulptur auf der Brücke, mit einem Knirps in der Hand. Hesses Bücher hätten ihn als Jugendlichen schnell gelangweilt - aber er respektiere den Kollegen, auch weil erbauliche Bücher heute unterschätzt würden. Um zwei, drei Ecken herum könnte man Kurzecks Bücher auch erbaulich nennen: indem sie die Abgründigkeit der verstreichenden Zeit zeigen, die durch die geglückte literarische Einfassung eine scheinhafte, kunstvolle Dauer erhält. In dieser Scheinhaftigkeit leuchtet bei Kurzeck etwas auf, was kaum auf den Begriff zu bringen ist. Man könnte es umfassende Gelassenheit nennen, jedenfalls ist es etwas Mystisches. In der Kurzeck-Prosa bleibt oft wie durch Zauberhand die Zeit stehen: dies oder das ist einfach schön, Kurzeck schreibt es auf, und der Leser wird süchtig.

MARIUS MELLER

Peter Kurzeck: "Kein Frühling". Roman. Verlag Stroemfeld/Roter Stern 2007, 589 Seiten, 28 Euro.

Peter Kurzeck: "Ein Sommer, der bleibt". 4 CDs. Supposé 2007, 27,89 Euro.

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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Rezensent Jörg Magenau begrüßt, ja bestaunt diese erweiterte Neuauflage des Romans von 1987, in dem Peter Kurzeck seinen Informationen zufolge im Wesentlichen die Nachkriegszeit im Dorf Staufenberg beschreibt, wo der Autor 1946 als böhmischer Flüchtling mit Mutter und Schwester angekommen ist. Magenau lauscht einigermaßen gebannt den Stimmen, mit deren Hilfe sich Kurzeck hier aus unterschiedlichsten Perspektiven das Panorama dieses Dorf und seinen Übergang ins Industriezeitalter noch einmal erschreibt. Auch spricht der Rezensent von Heimatliteratur, jenem Genre, das 1987 noch als sehr unzeitgemäß galt, dem Kurzeck aus seiner Sicht jedoch Erstaunliches abzutrotzen versteht und deren "Vergänglichkeitstrauer" ihm augenscheinlich ans Herz sehr greift. Auch, er weil diese Prosa mit ihren schwebenden, oft auf Verben verzichtenden Sätzen als "so etwas wie Musik" wahrnimmt.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Ein einziger, fast besessener Versuch des fassungslosen Autors, sich jenes alten Ortes zu vergewissern, der über Jahrhunderte hinweg unverändert blieb, von keinem Zipfel der Moderne gestreift wurde - und nun, in rasend schneller Zeit, verschwunden ist."
DIE ZEIT