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Gaus hat die deutsche Nachkriegsgeschichte zu seinem Lebensthema gemacht. Oder präziser: Das Innenleben der Deutschen in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts. So ist er auch in der Lage, genaue Analysen über den Zustand der deutschen Einheit zu liefern. Dieser Band versammelt Kommentare aus acht Jahren.

Produktbeschreibung
Gaus hat die deutsche Nachkriegsgeschichte zu seinem Lebensthema gemacht. Oder präziser: Das Innenleben der Deutschen in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts. So ist er auch in der Lage, genaue Analysen über den Zustand der deutschen Einheit zu liefern. Dieser Band versammelt Kommentare aus acht Jahren.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.1998

Pflichtlektüre für Stasi-Offiziere
Leitartikel des einfachen SPD-Mitglieds Günter Gaus

Günter Gaus: Kein einig Vaterland. Texte von 1991 bis 1998. Mit einem Vorwort von Friedrich Schorlemmer und einem Gespräch mit Daniela Dahn. edition ost, Berlin 1998. 220 Seiten, 29,80 Mark.

Unmittelbar nach seiner Amtszeit als Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der Regierung der DDR mokierte sich Günter Gaus in einem "ZEIT"-Interview über den duckmäuserischen bundesdeutschen Autofahrer, der mit ängstlichem Blick zur Tachonadel auf den Transitstrecken zwischen Berlin und dem Bundesgebiet "fast ein Verkehrshemmnis" gebildet habe. Gaus, der sich als Privilegierter nicht an die Geschwindigkeitsbeschränkung zu halten brauchte, führte dieses Verhalten nicht etwa auf die schikanösen Radarfallen der Volkspolizei oder die in der Tat furchteinflößende Kontroll- und Abfertigungsmaschinerie an den Grenzübergangsstellen zurück, sondern vielmehr auf die Angstmacherei eines Teiles der westdeutschen Medien. Dementsprechend lautete sein damaliges Plädoyer: Die Westdeutschen müssen ihre innere Einstellung zur DDR überwinden und aufhören, sie nur als Polizeistaat zu betrachten. Kein Wunder, daß in einer 1988 an der MfS-Hochschule enstandenen Diplomarbeit die Publikationen von Gaus zur Pflichtlektüre für die Führungsoffiziere westdeutscher Agenten erklärt wurden.

Günter Gaus ist kein "Wendehals". Er sieht keinen Anlaß, früher eingenommene Positionen in seinen aus den letzten sieben Jahren ausgewählten veröffentlichten Texten auch nur ansatzweise zu korrigieren. Gaus hatte offenbar auch keine Einwände, daß Friedrich Schorlemmer im Vorwort von "einem heftigen Streit" zwischen beiden im Frühjahr 1989 im Ost-Berliner Metropolhotel berichtet: "Mir war sein wohlwollend-verständnisvolles Verhalten gegenüber der DDR-Führung und ihrer hartnäckigen Perestroika-Verweigerung nicht nur zu weitgehend, sondern sehr befremdlich, weil da einer sprach, der in diesem eingemauerten Lande (seit dem 13. August 1961) mit Atemnot nicht 28 Jahre hatte leben müssen. Meine Geduld war am Ende, zumal die Ausrede nicht mehr galt, Moskau ließe keine Öffnung zu." Schorlemmer, der durch sein widerständiges Verhalten zu DDR-Zeiten mit der Stasi-Krake einschlägige Erfahrungen sammeln konnte, irritiert zudem die Schlußstrich-Mentalität von Gaus. Solch eine "gnädige" Beurteilung führe zur Selbstrechtfertigung von jedwedem Opportunismus. Deshalb sei Gaus vor manchem seiner Bewunderer zu warnen.

Doch Schorlemmer will damit nicht mißverstanden werden. Er "goutiere" das Buch sehr. Offenbar weil er, ebenso wie Gaus, die "Vereinigung der beiden Nachkriegsgesellschaften" für rundum mißglückt hält, denn eine Mischung von Selbsttäuschungen, Irrtümern und konzeptioneller Kurzatmigkeit habe den "Anschluß" des armen deutschen Staates an den reichen begleitet. Über die immensen Transfersummen und die daraus - ungeachtet aller nicht zu bestreitenden Unzulänglichkeiten - resultierenden verbesserten Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern verlieren Gaus und Schorlemmer als selbsternannte "Anwälte der kleinen Leute" hingegen kein Wort. Solche Töne sind Balsam für die Ohren der hauptsächlichen Verlierer der Einheit, die heute zwischen 50 und 60 Jahre alt sind. Unter ihnen befinden sich allerdings nicht wenige, die zu DDR-Zeiten keineswegs "kleine Leute" waren.

Bei den meisten abgedruckten Texten handelt es sich um Leitartikel, die in der linkssozialistischen Wochenzeitung "Freitag" erschienen sind, zu deren Mitherausgebern Gaus gehört. Dabei beschäftigt sich das bekennende "einfache SPD-Mitglied" Günter Gaus auch mit den Führungsetagen seiner Partei. So bescheinigt er Oskar Lafontaine "erkennbar mehr Verstand" als Gerhard Schröder, der dafür jedoch die Leute vergessen machen könne, daß er Sozialdemokrat sei. Die Grünen ermunterte Gaus schon im März 1998, sich in den Koalitionsverhandlungen teuer zu verkaufen und keine Kompromisse einzugehen, nur weil Schröder und Fischer ihre Gelegenheit nutzen wollen und damit die "Ära Kohl" verlängern würden. Die hinreichend bekannten Animositäten zwischen Helmut Schmidt und Gaus oder mit seinem Nachfolger in der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin, Klaus Bölling, bleiben selbstredend nicht unerwähnt.

Gleichsam als Trophäe wird als erster Text ein Redeentwurf für den 3. Oktober 1991 präsentiert, den der damalige Bundesratspräsident Henning Voscherau bei Gaus bestellt und als für ihn unbrauchbar an den Autor zurückgesandt hatte. Wer diesen Entwurf liest, kann sich die Lektüre weiter Teile des Buches ersparen, denn es wimmelt in der Folge nur so von Wiederholungen und Paraphrasierungen seiner Kassandrarufe. Lediglich die selbstgefällige und sich am eigenen Duktus berauschende Sprache des studierten Germanisten Gaus wird immer unerträglicher. Er grüßt fortwährend - wie er es mit zynischem Unterton nennt - die aufgestellten "Geßlerhüte", um sich scheinbar unangreifbar zu machen. So macht er zwar aus seiner Geringschätzung der Bürgerrechtler keinen Hehl, doch er sichert sich beispielsweise in seiner Polemik gegen Jürgen Fuchs mit der entlarvenden doppelbödigen Bemerkung ab, die "aggressive Verteidigungsapparatur" des SED-Regimes habe Fuchs Böses angetan.

Der 1995 im "Stern" erhobene Vorwurf von Hartmut Jäckel, einem langjährigen Freund von Gaus, jener habe sich geweigert, Unterlagen von Robert Havemann über die Grenze zu transportieren, sowie ebenfalls im "Stern" veröffentlichte Aktenauszüge über Gaus-Gespräche in Ost-Berlin trafen ihn schwer. Er hielt daraufhin sein "Schlußwort" zur "Aktenfledderei" in einem ganzseitigen, im Buch wiedergegebenen "Freitag"-Artikel, den das "Neue Deutschland" sogleich in voller Länge übernahm. Gaus äußerte darin, er gedenke nicht, jemals wieder auf Veröffentlichungen aus Akten der DDR über Gespräche zu reagieren, an denen er beteiligt gewesen war. Schade eigentlich, daß er sich wohl auch der Forschung nicht als Zeitzeuge zur Verfügung stellen will, denn die kryptisch verfaßten SED-Akten lassen sich in der Regel erst nach der Befragung der beteiligten Akteure korrekt interpretieren. Wie soll man sonst zum Beispiel den Wahrheitsgehalt eines Vermerks von Karl-Eduard von Schnitzler ergründen, der in seiner Eigenschaft als Vizepräsident der Leipziger Dokumentarfilmwoche Gaus zu einem Höflichkeitsbesuch empfangen hatte? Schnitzler notierte darin in einem Postskriptum, im Laufe des Gesprächs habe Gaus beiläufig, ohne ein Lächeln zu verbergen, erwähnt, er hätte "eigentlich gegen das Hissen der Westberliner Fahne" protestieren müssen. Gaus verweist in seinem "Aktenschlußwort" auf die durchschnittlich 120 Berichte, die er jedes Jahr nach Bonn geschickt hatte. Es wäre sicher interessant, die Version Schnitzlers über den Gesprächsverlauf mit dem amtlichen Report des Ständigen Vertreters zu vergleichen.

Neuigkeitswert haben in dem Buch vor allem zwei Mitteilungen von Gaus. So beansprucht und belegt er sein Urheberrecht für die Metapher von der "Gnade der späten Geburt", die Helmut Kohls Redenschreiber bei ihm abgekupfert hätten. Von Daniela Dahn auf seine mit der DDR ausgehandelten Abkommen angesprochen, fühlt sich Gaus ob der vielen erreichten Erleichterungen für die "Menschen in Ost und West" ins rechte Licht gesetzt und ergänzt: "Kenner nennen die Autobahn Berlin-Hamburg nur die Gaus'sche Autobahn." Eine Bezeichnung, die sich indes bisher im allgemeinen Sprachgebrauch noch nicht voll durchgesetzt hat.

In seiner Schlußbemerkung bezeichnet sich Gaus als einen "nichtpraktizierenden Anarchisten". Hier sind Zweifel erlaubt. Denn Anarchisten pflegen sich nicht, wie er, stets auf der Höhe des Zeitgeistes zu tummeln. Gaus bekannte sich als Vordenker einer falsch verstandenen Entspannungspolitik zu Honeckers Zeiten ausdrücklich zur äußeren und "inneren" Anerkennung der DDR. Heute dürfte er zu denen gehören, die es - so kürzlich Hermann Rudolph - als eine Provokation des Zeitgeistes empfinden, wenn man bekennt, sich über die Wiedervereinigung noch freuen zu können.

GUNTER HOLZWEISSIG

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