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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.05.2012

Hochzeit, Hausbau, Heldentod

Wipperfürth ist eine Kleinstadt im Bergischen Land. Von 1869 bis zum Zweiten Weltkrieg nahmen zwei Fotografen ihre Mitbürger auf. Ihr Archiv hat sich auf 40 000 Glasplatten erhalten - eine einzigartige Quelle.

Von Tilman Spreckelsen

Photographie" - das ist der fettgedruckte Blickfang, der fast die Hälfte der Anzeige einnimmt. Darunter steht, in sehr viel kleineren Lettern: "Von heute ab finden jederzeit in meinem neuerbauten Glashause Aufnahmen statt." Datiert ist das Zeitungsinserat mit "Wipperfürth, den 15. Mai 1870", unterschrieben mit "Theodor Meuwsen". Ein gelernter Buchbinder, geboren 1839 in Wipperfürth im Bergischen Land, verheiratet, ein Sohn, gestorben irgendwann nach 1900 - bis vor kurzem gab es keinen Grund, sich für den gründlich vergessenen Herrn Meuwsen zu interessieren, der in dem Inserat vor bald 150 Jahren seine Dienste als Fotograf angeboten hat.

Bis Erich Kahl, der Vorsitzende des Heimat- und Geschichtsvereins Wipperfürth, vor zwei Jahren von einem Sensationsfund berichten konnte: Nach langwierigen Verhandlungen sei es gelungen, das Archiv von Meuwsen und seinem Nachfolger Emil Hardt von dessen Erben zu übernehmen - darunter Objektive, Lampen, eine Kamera und weiteres Zubehör, vor allem aber etwa 40 000 Glasplattennegative. All dies hatte jahrzehntelang auf dem Dachboden des ehemaligen Wohn- und Geschäftshauses der Fotografen gelagert, und dass es überhaupt in diesem Umfang auf uns gekommen ist, grenzt an ein Wunder.

Zumal der Zugriff direkt auf die Negative unbestreitbare Vorteile mit sich bringt. "Wir kennen unendlich viele fahl gewordene Bilder", sagt Bodo von Dewitz, Kurator im Kölner Museum Ludwig und Experte für Fotografiegeschichte, "Bilder, die eingeklebt worden und durch die Klebstoffe und Pappen ruiniert worden sind." Aber auch die beiden Fotografen hätten das Ihre dazu getan, dass die mehr als hundert Jahre alten Bilder heute so frisch wirkten: "Wir haben es hier mit einem hervorragenden Wissen und Können zu tun, sonst wäre da nicht diese Bildqualität erhalten geblieben", sagt Dewitz.

Ein Mitglied des Heimat- und Geschichtsvereins ist seither damit beschäftigt, die Glasnegative, die in ihren historischen Pappschachteln nun auf dem Dachboden des Wipperfürther Rathauses lagern, zu säubern, zu scannen, als Positive sichtbar zu machen und in eine Datenbank zu überführen. Bislang ist ein knappes Viertel in dieser Weise aufgearbeitet, und was dabei zum Vorschein gekommen ist, lässt nicht nur die Freunde der Wipperführther Stadtgeschichte aufhorchen: Meuwsen und Hardt haben, so scheint es, nicht nur einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung ihrer Stadt im 1870 "neuerbauten Glashause" gesehen, dem Atelier mit seitlichem Lichteinfall im obersten Stockwerk, sondern sie waren mit ihrer Ausrüstung auch unterwegs, wo immer in Wipperfürth und Umgebung irgend etwas geschah, was dokumentiert werden sollte.

Wie viel Gelegenheit es dafür gab, überrascht dann doch. Wipperfürth, in einer Urkunde des Jahres 1134 erstmals erwähnt, rühmt sich zwar, die älteste Stadt im Bergischen Land zu sein, war aber im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert allenfalls für die nähere Umgebung von Bedeutung - noch heute ist nicht jedem geläufig, wo das schmucke 25 000-Einwohner-Städtchen mit dem schönen Marktplatz eigentlich liegt.

Umso interessanter ist der dokumentarische Blick, den Meuwsen und Hardt auf ihre Nachbarn richten, auf Straßenzüge, Feiern, Theateraufführungen oder Baumaßnahmen, wenn etwa die Pfarrkirche restauriert oder ein Staudamm errichtet wird. Die Fotos, die jetzt ans Licht gekommen sind, zeigen Stuckateure vor dem 1911 neu erbauten (und in den 1980er Jahren glücklicherweise vor dem Abriss geretteten) Lehrerseminar, einen Knaben, Bauern auf dem Feld, Vereine beim Umzug oder zwei Schlachter in einem Hinterhof vor einem toten Schwein. Natürlich sind auch spektakuläre Momente festgehalten wie die rauchenden Trümmer am Morgen nach dem Stadtbrand oder der Besuch des Kaisers am 16. Oktober 1913 - der Monarch zeigte sich damals ein paar Minuten lang auf dem Rücksitz eines hinten offenen Autos, dann fuhr er weiter.

Am faszinierendsten aber sind die Bilder, die im Atelier entstanden sind. Denn anders als bei Straßenszenen oder Fotos von Baumaßnahmen, die immerhin Anhaltspunkte zur Einordnung bieten, ist die Lage hier meist völlig unklar: Ein Kästchen mit Glasnegativen liefert Bilder von wildfremden Menschen vor ähnlicher Kulisse, die durchweg vertrauensvoll in Meuwsens oder Hardts Kamera schauen: Ein altes Paar, sie mit weißem Kragen und züchtig zusammengelegten Händen, er mit eisernem Kreuz und locker ausgestreckten Beinen - welche Lebensgeschichte verbirgt sich hinter diesem Bild? Oder die beiden reifen Herren, vielleicht Vater und Sohn, von denen der Ältere, verschmitzt lächelnd, einen Säugling auf den Armen wiegt, während der andere so wachsam wie finster in die Kamera blickt? Das Brautpaar, dessen weiblicher Teil aussieht wie ein verkleideter Mann? Der Radfahrer, der sein Gefährt ins Studio geschleppt hat und dort vor der Kulisse einer angedeuteten Parklandschaft posiert?

Manche der hier Porträtierten, sagt Ernst Kahl, sind immerhin von anderen Aufnahmen bekannt: zum Beispiel der Wipperfürther Arzt Alois Pollender (1799 bis 1879), dessen Forschungen für die Entdeckung des Milzbranderregers bahnbrechend waren. Oder der Fabrikant Ewald Hamm, der mit seiner Familie Anfang der 1870er Jahre Theodor Meuwsens Studio aufsuchte.

In solchen Fällen ist eine ungefähre Datierung nach dem vermuteten Lebensalter möglich, in anderen hilft der Blick auf Kleidung oder Haartracht weiter. Oder es existieren beschriftete, datierte Abzüge der Fotos etwa von Aufführungen im Lehrerseminar ("Schneewittchen" erfreute sich dort ausweislich der Bilder einer gewissen Beliebtheit). Fotografien von Schulklassen geben Hinweise, wenn die aus anderen Bildquellen bekannten Lehrer mit abgebildet sind. Und wenn Knaben als deutsche Soldaten posieren, Papierhelme auf den Köpfen und Holzgewehre in den Händen, dann lässt das ebenso auf eine bestimmte Zeit und ihr bis in die Provinz wirksames Klima schließen, wie die Atelieraufnahme eines im Studio aufgebahrten Mannes mit Pickelhaube, umstanden von vier trauernden Frauen - man stellte das "Heldentod"-Motiv als lebendes Bild nach. Und eine der Trauernden meint man in anderem Kostüm, aber vor dem selben Hintergrund, auf einem weiteren Foto als ritterlich gekleidete Germania wiederzuerkennen.

Für die Zeit nach 1900, in der Emil Hardt die Geschäfte des Fotostudios führte (und außer dem Kerngeschäft auch einen Handel mit Zigarren, Rahmen, Erbauungsbüchern und Taschenmessern betrieb), haben sich außerdem Auftragsbücher erhalten, die zu knapp 17 000 numerierten Glasnegativen den Auftraggeber, die Anzahl der bestellten Abzüge sowie die Einnahmen des Fotografen festhalten.

Es wird Jahre dauern, bis diese Informationen mit den gescannten Negativen vollständig in der Datenbank zusammengeführt werden können. Und es ist ein Jammer, dass ausgerechnet die Auftragsbücher der frühen, weniger gut durch andere Quellen belegten Jahre fehlen. Das mindert nicht den Wert des Konvoluts, das in seinem Erhaltungszustand, seiner Geschlossenheit und seiner dezidierten Konzentration auf seinen Gegenstand in Deutschland keinen Vergleich scheuen muss und so als Zeugnis einer typischen Fotografenexistenz in einer Kleinstadt weit über seinen Entstehungsort hinausreicht.

Die Aufnahmen lassen indirekt erkennen, welche Rolle ihre Urheber in der porträtierten Gesellschaft spielten: Sie waren die zentrale Instanz, wenn es etwas zu dokumentieren galt. Und wer sich zu ihnen ins Studio begab oder sie in den Wirtshausgarten rief, um eine Familienfeier zu dokumentieren, brachte ihnen Respekt und Vertrauen entgegen - die 53 Personen, die sich 1910 zur Hochzeitsfeier eines gewissen Wilhelm Schleifen im Grünen versammelt haben, schauen ausnahmslos konzentriert in die Kamera. Kein Blick schweift ab.

Es ist die unspektakuläre Ernsthaftigkeit, die diese Bilder so besonders macht. Meuwsen und Hardt, sagt Bodo von Dewitz, hätten sich offensichtlich bemüht, "den klassischen Kanon der Bildkomposition einzuhalten. Man hat sich an bestimmten Standards orientiert. So wurde ein authentisches Repertoire geschaffen, das nicht durch eine Machart verfälscht wurde. Und dass es überhaupt erhalten geblieben ist, finde ich phantastisch!"

Im Internet: Heimat- und Geschichtsverein Wipperfürth: www.hgv-wipp.de/ Literatur: "Kein der schlechtesten Oerter einer". Beiträge zur Geschichte der Stadt Wipperfürth. Hrsg. vom Heimat- und Geschichtsverein Wipperfürth, 2006.

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