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Er war ein glühender bayerischer Patriot, tiefgläubiger Jude und leidenschaftlicher Orientalist: Der in Vergessenheit geratene Karl Süßheim hat die Grenzen seiner Zeit herausgefordert wie kaum ein anderer. Er wuchs in Nürnberg auf, lebte als junger Mann lange im Nahen Osten. Sein Tagebuch verfasste er auf Italienisch, Osmanisch und Arabisch. Ob über den Aufbruch der Türkei in die Moderne, die Waffenbrüderschaft im Ersten Weltkrieg oder den Genozid an den Armeniern: Süßheims Notizen geben einzigartige Einblicke in die Ambivalenzen der deutsch-türkischen Geschichte. An der Universität München…mehr

Produktbeschreibung
Er war ein glühender bayerischer Patriot, tiefgläubiger Jude und leidenschaftlicher Orientalist: Der in Vergessenheit geratene Karl Süßheim hat die Grenzen seiner Zeit herausgefordert wie kaum ein anderer. Er wuchs in Nürnberg auf, lebte als junger Mann lange im Nahen Osten. Sein Tagebuch verfasste er auf Italienisch, Osmanisch und Arabisch. Ob über den Aufbruch der Türkei in die Moderne, die Waffenbrüderschaft im Ersten Weltkrieg oder den Genozid an den Armeniern: Süßheims Notizen geben einzigartige Einblicke in die Ambivalenzen der deutsch-türkischen Geschichte. An der Universität München unterrichtete er bekannte Wissenschaftler wie Gershom Scholem und Franz Babinger, bis die Nationalsozialisten ihn entließen. 1941 sah der zur Emigration gezwungene Professor Istanbul schließlich wieder: Mit seiner Flucht entkam er in letzter Minute dem Holocaust. Die erste Biografie über Süßheim erkundet die Möglichkeitsräume eines deutsch-jüdischen Lebens in einer Welt voller Vielfalt und Ambiguität - und voll von deren Feinden.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensentin Christiane Schlötzer liest Kristina Milz' Biografie des von den Nazis verfolgten Orientalisten Karl Süßheim mit Spannung. Süßheims Leben gleicht einem Märchen aus 1001 Nacht, nur dass es gut belegt ist, meint Schlötzer. Unter Verwendung von Süßheims Tagebüchern, Briefen und anderen Familiendokumenten entwirft die Autorin laut Schlötzer ein empathisches wie genaues Bild eines Gelehrten und Grenzgängers zwischen den Kulturen. Privates wie die Introvertiertheit des Wissenschaftlers sowie Gesellschaftliches wie die zunehmende Drangsalierung durch das NS-Regime behandelt Milz mit Akribie und Übersicht, so Schlötzer.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.08.2022

Wanderer zwischen den Welten
Kristina Milz porträtiert den fast vergessenen jüdischen Orientalisten Karl Süßheim (1878 – 1947), der zwischen München und Istanbul sein Glück suchte
und den Nazis nur mit knapper Not entkam. Eine anrührende Geschichte über einen diplomatischen Patrioten und ewigen Außenseiter
VON CHRISTIANE SCHLÖTZER
Personalakten vergessen nichts, in denen der Münchner Universität ist die Schande dokumentiert. „Auf meine Einladung fand sich heute Herr Prof. Süßheim bei mir ein“, protokollierte Rektor Leo Zumbusch am 29. Mai 1933. Er fragte also Karl Süßheim, außerordentlicher Professor der Orientalistik, ob er „seine nichtarische Abstammung anerkenne“. Damit war der Jude Süßheim, geboren 1878 in Nürnberg, der auf Formularen zur Staatsangehörigkeit „Bayer“ angab, von der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) entlassen. Das Nazi-Gesetz zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ beendete Hunderte akademische Karrieren, ohne nennenswerten Widerstand aus den Hochschulen.
Der Mann, der hier seiner Existenz beraubt wurde, hatte zuvor lange um Anerkennung gekämpft, trotz eines Ausnahmetalents, das ihm ermöglichte, Türkisch, Persisch und Arabisch in solcher Perfektion zu beherrschen, dass er Muttersprachler beeindruckte. Seine ausführlichen Tagebücher verfasste er jahrzehntelang neben Italienisch in den orientalischen Sprachen. Diese Tagebücher sind ein historischer Schatz, der nach eher zufälliger Entdeckung in der Berliner Staatsbibliothek schon vor einer Weile von zwei Orientalisten der Universität Leiden gehoben wurde. Ihrer Übersetzergeduld ist eine auszugsweise Übertragung ins Englische zu verdanken. Eine angemessene Ehrenrettung für den vergessenen bayerischen Orientalisten aber leistet erst die eindrucksvolle, quellenstarke Biografie der Münchner Historikerin und Turkologin Kristina Milz.
Sie folgt den Spuren Süßheims mit wissenschaftlicher Akribie und offener Empathie. Von mindestens 21 Tagebüchern wurden bislang 13 gefunden, für die Jahre 1903 bis 1924 und 1936 bis 1940. Milz nutzt daneben Korrespondenzen des Vielschreibers Süßheim, unter anderem mit der Prominenz der jungtürkischen Bewegung, die das Osmanische Reich hinwegfegte, und private Briefe aus dem Familien- und Freundeskreis. Ein Leitmotiv der Biografin ist Süßheims Existenz als Grenzgänger, dem es gelingt, politische und persönliche Widersprüche auszuhalten, in einer Welt, die immer mehr nach Eindeutigkeit verlangt.
Das gilt für sein nahöstliches Interessensgebiet wie für sein bayerisches Umfeld, wo er früh spürt, was es bedeutet, als Jude einer Minderheit anzugehören. Die Tagebücher sind in nüchternem Ton gehaltenen, als sei Süßheim Reporter seines Lebens. Das nimmt der Wucht der Ereignisse nichts. Ein Erlebnis von 1916: Auf einer Zugfahrt zum Chiemsee nutzt ein Historikerkollege Süßheims Hut als Aschenbecher. Auf die Frage, was er da tue, antwortet er: „Ist ja nicht mein Hut.“ Jahre später wird der Mann sich der Bekanntschaft mit Hitler rühmen.
1916, mitten im Ersten Weltkrieg, werden Nahostexperten gebraucht, es könnte Süßheims große Zeit sein. Berlin flirtet mit dem Islam, mit einem „Jihad made in Germany“. Aufstände von Marokko bis Indien, im Auswärtigen Amt erdacht, sollen die Kolonialmächte Frankreich und England schwächen. Aber Süßheim misstraut jeder politischen Indienstnahme einer Religion, auch die deutsch-türkische Hurra-Waffenbrüderschaft ist ihm suspekt. Gerade weil er die Mächtigen in Istanbul so gut kennt wie kaum ein anderer Deutscher zu seiner Zeit. Bei osmanischen Delegationsbesuchen – auf Schloss Herrenchiemsee – ist er denn auch als genialer Übersetzter gefragt. Dabei fällt ihm die „Respektlosigkeit“ der deutschen Offiziere auf, die hinter dem Rücken der Türken „lange und laut“ über deren angebliche „Ahnungslosigkeit“ lästern.
Wie kam es, dass ein Bayer sich so gut im Orient auskannte? Karl Süßheim wurde in eine liberale jüdische Familie hineingeboren. Der Vater war Hopfenhändler, der Großvater mütterlicherseits, David Morgenstern, 1848 der erste jüdische Landtagsabgeordnete in Bayern. Die wohlhabende Familie ermöglicht ein Geschichtsstudium an mehreren deutschen Universitäten. Bei Sprachstudien in Istanbul und Kairo begegnet er schließlich den führenden jungtürkischen Revolutionären. Er unterstützt ihre Kritik an der Willkürherrschaft des Sultans. Auch Mehmed Talat wird zu einem „Freund“. Talat, der später als Innenminister in Istanbul diktatorisch regieren und für den Genozid an den Armeniern 1915/16 verantwortlich sein wird. Milz hält es Süßheims intellektueller „Redlichkeit“ zugute, dass er, tief enttäuscht, Talats verbrecherische Rolle klar benennt. Aber der genaue Beobachter bleibt, wie häufig, im persönlichen Urteil ambivalent. Als Talat im Berliner (!) Exil 1921 von einem jungen Armenier ermordet wird, notiert er: „Auch wenn ich einen Freund verloren habe – es ist Gerechtigkeit geschehen.“
Süßheim muss nicht an die Front, er wird in München als Militärzensor eingesetzt. Trotz geforderter Geheimhaltung kopiert er Briefstellen in sein Tagebuch, auch eine Fundgrube. Der Weg in einen bezahlten Beruf aber erweist sich als äußert schwierig. Jahrelang drängt Mutter Clara in Briefen daher auf eine „reiche Heirat“. Für Süßheim kommt nur eine Jüdin infrage, doch der in seine Bücher verliebte scheue Mann blitzt trotz reger Ballbesuche immer wieder ab. Milz widmet sich auch dieser privaten Seite und gibt so Einblicke in eine Gesellschaft, die nur ein paar Jahre später von den Nazis ausgelöscht werden wird. Die Liebe fürs Leben findet er, mittlerweile außerordentlicher Professor, erst mit 49 Jahren. Für sie wirft er alle Vorsätze über den Haufen. Karolina, genannt Ina, ist Katholikin, 27 Jahre jünger, unvermögend, Tochter von Lederhändlern aus Niederbayern. Man kann sich vorstellen, wie die Familien der Eheleute miteinander fremdelten. Aber Ina, klug und beherzt, wird bis zum bitteren Heimatverlust an seiner Seite bleiben.
Die Biografin vermutet, Süßheim habe sich einer gläubigen Katholikin näher gefühlt als seinen oft indifferenten Glaubensgenossinnen. Denn nach Gleichgültigkeit in jungen Jahren nimmt er sein Judentum inzwischen so ernst, dass er auf einer jüdischen Erziehung der beiden Töchter – geboren 1929 und 1934 – beharrt. Auch noch, als der Besuch einer jüdischen Schule zur Belastung für die Familie wird. Die Alltagsdiskriminierung ist gewaltig. In ihrem oberbayerischen Urlaubsort Miesbach wird die Familie aus der Pension gejagt, weil ein Gast keine Juden dulden will.
Süßheim versucht, „reflexhaft dem absoluten Wahnsinn mit größtmöglicher Normalität zu begegnen“. So geht er zwei Tage nach dem Novemberpogrom 1938 in die vertraute Staatsbibliothek, wo ein Mitarbeiter den jüdischen Professor auffordert, das Gebäude sofort zu verlassen. Einen Tag später wird er festgenommen und ins KZ Dachau gebracht. In seinem Tagebuch hält er dies später in Arabisch fest, damit es außer ihm niemand lesen kann. „Als sie zu mir kamen, sagte ich: Ich bin Jude und nicht, dass ich ein Judenschwein sei.“ Daraufhin schlugen sie ihn, mit der Faust ins Gesicht und den Nacken, „etwa 20 Mal insgesamt“. Es gibt auch eine arabisch beschriftete Lagerzeichnung. Ein einzigartiges Dokument. Nach zwei Wochen wird er entlassen. Süßheim ist überzeugt, die Haft sollte dazu dienen, die Juden zur Auswanderung zu bewegen und zu berauben.
Süßheim will nicht weg, aber längst drängen türkische Freunde, mit denen Ina korrespondiert, er solle sich in die Türkei retten. Staatsgründer Atatürk hatte vor seinem Tod 1938 bereits zahlreiche deutsche Professoren eingeladen, neue türkische Universitäten aufzubauen. Darunter sind viele, die sich vor den Nazi retten, Juden, Sozialdemokraten. Aber mittlerweile will die Türkei keine weiteren europäischen Juden aufnehmen. Die Freunde werden für „Karl Süßheim Bey“, wie sie ihn respektvoll nennen, auch diese Hürde überwinden. Es wird eine hochdramatische Flucht. Als eine der letzten jüdischen Familien aus München können Ina und Karl Süßheim mit ihren Töchtern im Juni 1941 emigrieren, bevor die Deportationszüge rollen.
Dieses Leben eines Bayern wirkt wie eine orientalische Märchenerzählung, im Gegensatz zu Geschichten aus 1001 Nacht ist sie bestens belegt. Zu entdecken ist ein Suchender, der im Laufe eines langen, turbulenten Gelehrtenlebens sich von eurozentristischen, ja rassistischen Vorstellungen von Okzident und Orient verabschiedet, bis er „Orient“ in Anführungszeichen schreibt. Als Augenzeuge erlebt er parallel, wie in seiner Heimat alle Gewissheiten verschwinden. Sein Bruder Max ist als Sozialdemokrat in die Münchner Räterevolution involviert. Mit dem Bruder ist der konservative Professor selten einig, das ändert nichts an der Zuneigung der beiden. Milz staunt, dass auch Max Süßheim, ein vielschichtiger Sozi in Lederhosen, vergessen zu sein scheint.
Die Biografin sprach noch mit Karl Süßheims erster Tochter Margot, die bis 2020 in New York lebte. Die jüngere, Gioconda, starb 2006 in den USA. Deren Tochter Lisa R. D’Angelo wusste bis zu einem Besuch in der Türkei mit 13 nicht, dass ihr Großvater Jude war. Erst als sie den Davidstern auf dessen Grab sah, erzählte ihr die Mutter davon. Karl Süßheim, der weltläufige bayerische Patriot, hat München nie wiedergesehen, er starb 1947 in Istanbul.
Die LMU, an der diese Dissertation entstand, täte gut daran, sich darüber hinaus an einen außergewöhnlichen Gelehrten zu erinnern, und dies nicht nur ihrem Archiv zu überlassen. Dort findet sich auch ein Briefwechsel mit Ina Süßheim, die elf Jahre lang vergeblich um Wiedergutmachung kämpfte, bis sie eine kleine Entschädigung für entgangenes Witwengeld erhielt.
Ein Kollege von der Uni
nutzt Süßheims Hut 1916
als Aschenbecher
Schon früh hinterfragte
der Orientalist die Vorstellungen
von Orient und Okzident
Genialer Wissenschaftler, der im Deutschen Reich zu wenig Wertschätzung erfuhr. Karl Süßheim um die Jahrhundertwende (links) und seine beiden „Heimaten“: Blick auf Istanbul 1941 (oben), Hitler in München 1940 (unten).
Fotos: Privatnachlass Karl Süßheim, Margot Suesheim (New York) und Familie, Knorr+Hirth / SZ Photo, Scherl/SZ Photo
Kristina Milz:
Karl Süßheim Bey (1878 – 1947). Eine Biografie über Grenzen. Metropol-Verlag, Berlin 2022.
787 Seiten, 44 Euro.
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