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»Eine fulminante Biografie.« Neue Zürcher Zeitung
Im Alter von 25 Jahren gründet er 'Die Fackel', die er von 1911 bis 1936 ganz allein schreibt, die 'Letzten Tage der Menschheit' werden zur radikalen Abrechnung mit dem Weltkrieg, die 'Dritte Walpurgisnacht' nimmt es auf mit der Hitlerei. Kraus, geboren 1874 im böhmischen Jicín, gestorben 1936 in Wien: Für die einen war er Gott, für andere der leibhaftige Gottseibeiuns. Sein Name ist legendär geblieben, doch wofür er stand, das verblasst mehr und mehr. Jens Malte Fischer holt ihn mit der ersten großen Biografie seit Jahrzehnten in die…mehr

Produktbeschreibung
»Eine fulminante Biografie.« Neue Zürcher Zeitung

Im Alter von 25 Jahren gründet er 'Die Fackel', die er von 1911 bis 1936 ganz allein schreibt, die 'Letzten Tage der Menschheit' werden zur radikalen Abrechnung mit dem Weltkrieg, die 'Dritte Walpurgisnacht' nimmt es auf mit der Hitlerei. Kraus, geboren 1874 im böhmischen Jicín, gestorben 1936 in Wien: Für die einen war er Gott, für andere der leibhaftige Gottseibeiuns. Sein Name ist legendär geblieben, doch wofür er stand, das verblasst mehr und mehr. Jens Malte Fischer holt ihn mit der ersten großen Biografie seit Jahrzehnten in die Gegenwart. Persönlichkeit und Werk, Freund- und Feindschaften, Sprüche und Widersprüche zeigen einen der größten Schriftsteller in seiner Zeit und darüber hinaus.
Autorenporträt
Jens Malte Fischer, geboren 1943, war bis zu seiner Emeritierung 2009 Professor für Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
Rezensionen
Eine hervorragende Biografie über den legendären Schriftsteller und scharfzüngigen Gründer von 'Die Fackel'. Mainhattan Kurier 20220628

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.03.2020

Der Bürgerwelt zum Hass bestellt

Einfach macht er es seinen Lesern nicht, aber näher kennenlernen sollte man ihn: Jens Malte Fischer führt durch Leben und Werk von Karl Kraus.

Von Helmut Mayer

Es gibt zwei schöne Dinge auf der Welt: Der ,Neuen Freien Presse' angehören oder sie verachten. Ich habe nicht einen Augenblick geschwankt, wie ich zu wählen hätte." Auch deshalb nicht, weil das liberal-bürgerliche Wiener Leitblatt der Monarchie zu lange gewartet hatte, dem jungen Kritiker Karl Kraus, der gerade dabei war, sich einen Namen zu machen, ein Angebot zu unterbreiten. Das war im Jahr 1898, und im Frühjahr darauf erschien die erste Nummer der "Fackel". Siebenunddreißig Jahrgänge sollte sie schließlich umfassen, beendet erst durch den Tod ihres Herausgebers, der sie ab 1911 allein verfasst und sich mit ihr zu einem der großen Autoren der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts geschrieben hatte: zum größten Satiriker deutscher Sprache, wie die geläufige Ehrenformel lautet, die freilich - mangels Satirikern vergleichbaren Ranges - etwas zu glatt ist, um das Abgründige und den Furor dieses Werks zu treffen, und zudem einige von dessen Facetten übergeht.

Er wurde auch zu einem Autor, der seine Leser überforderte, die "abwärts fortgeschrittenen Zeitgenossen, / im Lauf nur lesend, weil der schwarze Fluch / sie antrieb, auf dem Laufenden zu sein", wie er es nach zwanzig "Fackel"-Jahren formulierte: "Wer soll's denn fassen, daß den seitenlangen / Periodenbau ein Atemzug durchweht,/ wenn er an Asthma leidet? Dieses kommt / vom vielen Laufen." Und auch weil solchen Laufens nicht weniger wurde, ist es heute vor allem der Aphoristiker, dem man außerhalb mehr oder weniger akademischer Befassungen mit Kraus begegnet, gerne auch ungenau zitiert. Dazu kommt noch dann und wann der unnachsichtige Kritiker der Presse, eben des "schwarzen Fluchs", und vielleicht der Autor der "Letzten Tage der Menschheit". Aber schon kaum mehr der angesichts der Machtergreifung Hitlers an den eigenen satirischen Mitteln verzweifelnde und doch zu furiosen Texten auflaufende Autor der "Dritten Walpurgisnacht"; kaum wirklich der tiefe Hasser aller fortschrittsfrohen, die Natur schändenden Bürgerlichkeit - samt den vermeintlich nicht-bürgerlichen Varianten linker Provenienz - in allen ihren Ausprägungen; nicht der Dichter, der Dramatiker und der Sprachlehrer und -beschwörer, dem jede Redensart, wie er es über den von ihm verehrten Johann Nestroy schrieb, einen Gedanken abwarf.

Da fällt zu vieles weg, und eine Biographie kann sich daran bewähren, es wieder in ein Bild des Autors zu fügen. Jens Malte Fischer, emeritierter Münchener Professor für Theaterwissenschaft und als Kenner von Kraus seit vielen Jahren ausgewiesen, hat nun seine seit langem erwartete Biographie vorgelegt. Stattlich ist ihr Umfang geworden, mehr als tausend Seiten, womit sie aber immerhin schmäler ist als jene von Edward Timms, deren zweiter Band mit einiger Verspätung vor vier Jahren auch auf Deutsch erschien (F.A.Z. vom 24. September 2016). Der mittlerweile verstorbene Timms, auswärtiges Mitglied in der Gemeinde altgedienter Kraus-Scholaren, hatte sich von seinem Material fast erdrücken lassen. Naheliegend war es deshalb, von Jens Malte Fischer eine Darstellung zu erwarten, die etwas mehr von ihrem Gegenstand zurückzutreten vermag und prägnanter verfährt.

Dieser Wunsch ist allerdings nicht ganz in Erfüllung gegangen. Wobei man gleich hinzufügen muss: nicht unbedingt zum Nachteil der Leser. Dass Fischer weit ausholt, wenn es um gesellschaftliche, kulturelle, mediengeschichtliche und näherhin politische Kontexte von Kraus' Laufbahn als Autor geht, das kommt dem Verständnis dieser Laufbahn oft durchaus zugute. Zumal es auch relevant ist für seine Behandlung der gegen Kraus in Stellung gebrachten Vorwürfe. In Kurzform lauten die: jüdischer Antisemit, Sexist, Reaktionär.

Fischer bewegt sich sicher über dieses verminte Terrain, hält fest, was unabweisbar ist: dass Kraus es sich bis 1933 nicht nehmen ließ, "Juden aller Konfessionen" aufs Korn zu nehmen, weil er Antisemitismus lediglich als Restproblem einer noch nicht restlos gelungenen Assimilation ansah, und dass in Kraus' Verfluchungen der bürgerlichen Vergewaltigung innerer wie äußerer Natur die Frauen vor allem in den frühen Jahren nun einmal auf die Seite von Natur und Sinnlichkeit gerieten, womit sie zu adorierten Opfern eines fatalen Frauenlobs wurden (das aber gerade nicht bedeutete, dass die Männer, selbst die geistbeladenen, besser abschnitten).

Aufwendiger ist dann die Behandlung der Frage, auf welche die Biographie natürlich zulaufen muss: wie die "reaktionäre" Parteinahme für den österreichischen Ständestaat unter Dollfuß (dann Schuschnigg) als letztes Bollwerk gegen die Nationalsozialisten und die mit ihr einhergehende, seit Mitte der zwanziger Jahre schon sich einspielende, vernichtende Kritik an der Sozialdemokratie, der Kraus den Verrat an allen Idealen zugunsten der Teilhabe an der Bürgerwelt vorwarf, zu verstehen und einzuschätzen sind. Dahinter steckt das Problem, Fischer benennt es einmal treffend, dass ein "Antipolitiker, für den der Gedanke erst jenseits der Gemeinschaft anfängt" (Kraus) und dessen Kritik an der den Fortschritt hinuntertaumelnden Gesellschaft um einiges tiefer ansetzte als jedes Parteiprogramm, sich politisch positionierte. Er war tatsächlich einer, auf den man in dieser Hinsicht - sieht man von der kurzen Phase der Annäherung an die Sozialdemokraten nach dem Ersten Weltkrieg ab - nicht bauen konnte, der aber gegen den Faschismus wie gegenüber jeder Brutalität immun war.

Bei Fischer findet man diese und andere Konstellationen gut dargestellt, auch hinreichend mit Zitaten versehen. Es kommt ihm dabei zu Hilfe, dass er sich die schwierige Aufgabe des Biographen, im chronologischen Fortgang mehrere Fäden gleichzeitig abzuwickeln - die entstehenden Texte, die Feindschaften, die Prozesse, die Freunde, die Frauen, die Vorlesungsprogramme und so fort -, etwas erleichtert. Er belässt es nicht bei Vor- und Rückblicken, wie sie bestimmte Gegenstände unumgänglich machen, sondern setzt recht entschieden auf thematisch separierte Kapitel, ob nun etwa zum Theater, zu den Gegnern, Freunden, zum Dramatiker und Lyriker, aber auch zum Motiv des Ursprungs, über Kraus und Berlin oder in einem spät eingeschobenen Abschnitt zu Aphorismus, Zitat und Sprachdenken.

Das unterläuft gewisse Kunstansprüche an eine Biographie, nähert sich vielmehr der Form eines Handbuchs zu Leben und Werk. Wozu dann auch, dieser Form entsprechend, eine gewisse Indifferenz des Autors gegen Wiederholungen zählt. Naturgemäß gehört manches in mehrere thematische Ausfällungen: So liest man etwa in einem Abschnitt über "Konfessionelle Irritationen" - Kraus, der 1899 aus der Israelitischen Kultusgemeinde ausgetreten war, ließ sich 1911 taufen, um dann 1923 (und nur dies machte er öffentlich) aus der Kirche wieder auszutreten - noch einmal über Max Reinhardt und das "Salzburger Große Welttheater", was man zuvor schon im Abschnitt über Reinhardt als bête noire von Kraus gelesen hatte.

Fischer kann durchaus bündig formulieren, hin und wieder demonstriert er es. Aber im Ganzen ist das Streben nach Prägnanz gerade nicht die Maxime, der er folgt. Eher umständlich und behäbig ist der Stil, und zu wenig von dem, was der Autor sich mit beeindruckender Belesenheit zurechtgelegt und recherchiert hat, wurde darauf geprüft, ob es denn wirklich im Text stehen (bleiben) sollte. Da wird dem Kapitel über "Die letzten Tage" eine Editions- und Aufführungsgeschichte angehängt, werden die Schauspieler, die zu Lebzeiten von Kraus in dessen Theaterstücken spielten, alle mit Kurzbiographien vorgestellt, muss der Sitzplan der von Kraus organisierten Privataufführung von Wedekinds "Die Büchse der Pandora" durchgegangen werden, da erfahren wir sogar Ort und Art des Todes einer von Fischer geschätzten Kraus-Interpretin, und wenn der Autor aus dem "Chor der Psychoanalen" zitiert ("Es welken die Wiesen / es gibt Analysen / uns macht man nichts vor . . ."), so muss dabei stehen, dass "Kraus mit diesen und anderen Invektiven die Bedeutung, die Leistung und die Größe der Freud'schen Psychoanalyse nicht angemessen erfasst hat". Die Leserin darf sich dann wieder setzen.

Seufzer über des Autors souveräne Abstandnahme von Bündigkeit kann man da oft nicht unterdrücken. Im Kapitel über das Ursprungsmotiv bei Kraus liest man etwa: "Der Verdacht liegt durchaus nahe, dass Kraus sich damit in jenen naturmystischen Irrationalismus einfügt, der, von Rousseau und Schelling beeinflusst, über Novalis, Schopenhauer und Bachofen weitergeleitet, gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen Höhepunkt in Nietzsche erreicht und von dort in die meisten kulturpessimistischen Ideenkomplexe des beginnenden 20. Jahrhunderts einströmt." Ein Verdacht also, aus dem bezeichnenderweise nichts hervorgeht und den zumindest ein Lektor hätte jäten können, wenn der Autor sich schon von seinen Exzerpten nicht trennen konnte. Verdichtung und Verknappung wären ein naheliegendes Verfahren gewesen. So bleibt es eben beim Seufzen, neigt man dazu, auch hier bei der Lektüre manchmal "ins Laufen" zu geraten, um erst beim nächsten Kraus-Zitat einzuhalten. Selbst wenn zu konzedieren ist, dass man selbst dabei oft einiges über Kraus lernen kann.

Fischers Buch wird durch die Fülle der in ihm ausgebreiteten Kenntnisse auf einige Zeit das Feld behaupten. Aber jüngere Literaturwissenschaftler müssen sich von ihm nicht erdrückt fühlen, es lässt - vielleicht schon mit Blick voraus auf den hundertsten Todestag von Kraus - noch Platz für eine Biographie, die konzis verfährt.

Jens Malte Fischer: "Karl Kraus". Der Widersprecher. Biografie.

Zsolnay Verlag, Wien 2020. 1104 S., Abb., geb., 45,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2020

Fackel und
Magie
Der Widersprecher: Jens Malte Fischers Biografie
erschließt Karl Kraus und seine Welt neu
VON LOTHAR MÜLLER
Er hatte nicht nur Leser, er hatte Anhänger. Er hatte nicht nur Gegner, er hatte Feinde. Seine Anhänger schlug er nicht nur mit seinen Schriften in seinen Bann, sondern zugleich mit seiner Stimme, im Vortragssaal. Er errichtete ein Stimmtheater, in dem er Shakespeare, Jacques Offenbach und seine eigenen Gedichte und Artikel aufführte. Zu den Lesern seiner Zeitschrift Die Fackel, die er von 1899 bis zu seinem Tod im Jahre 1936 herausgab, zählten Sigmund Freud und Bertolt Brecht. Er schrieb von Beginn an gegen den Ersten Weltkrieg an, gegen das „technoromantische Abenteuer“, er schwieg lange, nachdem Ende Januar 1933 in Deutschland Adolf Hitler an die Macht gekommen war. Und er führte auf der Rückseite seiner öffentlichen Existenz ein Privatleben, dessen Umrisse erst nach seinem Tod hervortraten.
In jeder Biografie steckt ein Selbstporträt ihres Verfassers. Er wählt seinen Gegenstand ja nicht von ungefähr, und auch nicht den Einfallswinkel, aus dem er ihn betrachtet. Hier sieht es fast so aus, als habe sich der Gegenstand seinen Autor gewählt. Im Jahr 1963, berichtet der Germanist und Musikwissenschaftler Jens Malte Fischer am Ende seiner monumentalen Biografie über Karl Kraus, habe er als junger Student in München auf der Suche nach Literatur über Kafka aus dem benachbarten Kraus-Bestand einen Band aus der Werkausgabe des Kösel Verlages gegriffen, gelesen und seitdem habe das Interesse an diesem Autor in seinem Leben einen festen Platz.
Mehr als ein halbes Jahrhundert liegt die Urszene zurück, aus der Fischers Dissertation über Karl Kraus hervorging, immer wieder hat er über ihn geschrieben, nun liegt die Summe vor. Der Literaturhistoriker hat darin nicht das erste und nicht das letzte Wort. Er gibt die Form vor, die sich mit der Nacherzählung von Lebensstationen nicht begnügt, sondern die Biografie zu einer Monografie über das Werk ausweitet. Sie erschließt im Modell „Karl Kraus und eine Zeit“ den Autor neu.
Der Literarhistoriker Fischer liefert die Exkurse zur Poetik von Aphorismus, Epigramm und Phrase, er bestückt das Kaleidoskop der Minibiografien von Zeitgenossen, etwa August Strindberg, Frank Wedekind oder Otto Weininger. Er blättert die Theatergeschichte, besonders die des Burgtheaters auf und bettet die Polemik gegen die Presse in die Geschichte der Zeitungen in Österreich ein. Aber Ton und Einfallswinkel der Darstellung entstammen nicht der akademischen Gelehrsamkeit, sondern dem Umstand, dass hier ein nachgeborener Kraus-Anhänger schreibt.
Sein Unternehmen ist ein Projekt der Rettung. Lang ist es her, dass Helmut Qualtinger das Riesen-Weltkriegsdrama „Die letzten Tage der Menschheit“ gekürzt in ein Ein-Mann–Stimmentheater verwandelt, der Regisseur Hans Hollmann es, ebenfalls gekürzt, an zwei Abenden auf die Bühne gebracht hat. Was Die Fackel betrifft, so gibt es inzwischen eine frei zugängliche digitale Ausgabe, auf die Fischer nachdrücklich verweist.
Zur Rettung vor dem Vergessen tritt die Rettung vor dem Kopfschütteln über Karl Kraus, das schon zu Lebzeiten begann. Sein Verhältnis zum Judentum, dem er entstammte, wurde dem „jüdischen Selbsthass“ zugeordnet. Warum stand im Zentrum seiner Attacken auf den „Untergang der Welt durch schwarze Magie“ die politisch liberale Wiener Neue Freie Presse, nicht aber die Phalanx der völkisch-nationalen und antisemitischen Blätter? Warum trat er 1934 für Engelbert Dollfuß ein, der in der Krise der österreichischen Republik den Abbau der demokratischen Institutionen vorantrieb?
„Der Widersprecher“ heißt diese Biografie im Untertitel. Sie zeigt Karl Kraus als Widersacher seiner Feinde, etwa Maximilian Harden, Alfred Kerr oder Anton Kuh, der Zeitungsherausgeber Moriz Benedikt und Imre Békessy (ihm galt die Parole „Heraus aus Wien mit dem Schuft!“). Sie zeigt ihn aber auch im Widerstreit mit sich selbst, und manchmal sieht sich der Biograf gezwungen, Kraus die Gefolgschaft zu verweigern. Das fällt ihm einigermaßen leicht im Blick auf die Polemik „Heine und die Folgen“ (1910), in der Kraus Heine arg verzeichnen muss, um ihn zum Ahnherrn der Sprache des landläufigen Feuilletons machen zu können.
Es fällt ihm aber schwer, wenn es um den Kern der intellektuellen Existenz seines Helden geht. Dazu gehören der frühe Abschied vom Judentum und das Plädoyer für radikale Assimilation, aber auch Spott und Hohn gegen jüdische Zeitgenossen. Um die Nähe seiner Rhetorik zum rassistischen Antisemitismus scherte Kraus sich nicht, weil er diesen unter- und sich überschätzte. Fischer muss im Blick auf den Nationalsozialismus dieses bittere Fazit ziehen. Zugleich gelingt ihm, im Blick auf den erst postum vollständig publizierten Essay „Die dritte Walpurgisnacht“, die Korrektur der Legende, Karl Kraus habe zu Hitler geschwiegen.
Zu Recht spielen die Frauen im Leben von Karl Kraus in der Biografie eine große Rolle, allen voran Sidonie Nádherný von Borutin, als Liebespartnerin wie als Adressatin zahlloser Briefe. Sie eine selbstbewusste Frau, kein „süßes Mädel“. Da Fischer aber stets das gesamte kulturelle Feld ausmisst, in dem Kraus sich bewegt, kommt auch die zeitgenössische Idolisierung der „Kindsfrau“ ins Spiel, etwa – mit dem Akzent auf „Kind“ – durch den von Kraus verehrten Poeten Peter Altenberg.
Was „Sittlichkeit und Kriminalität“ betraf, hat Kraus stets die Homosexuellen mit dem Argument verteidigt, wo sich Mündige einig seien, habe der Staat nichts zu suchen. Noch nicht lange sind die Akten des Prozesses öffentlich zugänglich, in dem der Architekt Adolf Loos 1928 zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde, weil er zwei Mädchen unter vierzehn Jahren „zu unzüchtigen Positionen animierte und sie in solchen zeichnete“. Weitergehende Vorwürfe erkannte das Gericht wegen Zweifel an den Zeugen nicht an. Die von Fischer angeführte Liste von Kulturschaffenden, die für Loos eintraten oder wie Karl Kraus zu dem Prozess schwiegen, ist beeindruckend.
Dieses Buch korrigiert
die Legende, Karl Kraus
habe zu Hitler geschwiegen
Jens Malte Fischer:
Karl Kraus.
Der Widersprecher.
Biografie. Zsolnay
Verlag, Wien 2020.
1104 Seiten, 45 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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