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Immer stimmt irgendetwas nicht. Wenn die Freundin Zoé plötzlich fremd wirkt, ihre Stimme ein ungewohntes Timbre aufweist, weil sie sich, wie sich endlich erweist, für einen Job beim Radio einem Sprechtraining unterzogen hat. Wenn sich nach Jahren der Fernbeziehung die langersehnte Nähe zu Sam nicht einstellt, weil sich die Liebenden nur übers Telefon kannten und sich ihre wahren Stimmen nicht synchronisieren wollen. Oder wenn der Vater es nicht übers Herz bringt, die von der verstorbenen Mutter gesprochene Ansage auf dem gemeinsamen Anrufbeantworter zu löschen - und damit ihre Stimme auf ewig…mehr

Produktbeschreibung
Immer stimmt irgendetwas nicht. Wenn die Freundin Zoé plötzlich fremd wirkt, ihre Stimme ein ungewohntes Timbre aufweist, weil sie sich, wie sich endlich erweist, für einen Job beim Radio einem Sprechtraining unterzogen hat. Wenn sich nach Jahren der Fernbeziehung die langersehnte Nähe zu Sam nicht einstellt, weil sich die Liebenden nur übers Telefon kannten und sich ihre wahren Stimmen nicht synchronisieren wollen. Oder wenn der Vater es nicht übers Herz bringt, die von der verstorbenen Mutter gesprochene Ansage auf dem gemeinsamen Anrufbeantworter zu löschen - und damit ihre Stimme auf ewig verschwinden zu lassen.

Die acht ungleichen Frauenstimmen dieser alle Sinne ansprechenden Geschichten erzählen von Momenten, in denen Nähe und Entfremdung ineinander vibrieren. Wo eine winzig kleine Verschiebung im Gefüge allesentscheidend ist und Liebe in Skepsis umschlägt, Befangenheit in Zutrauen. Momente, die Raum für befreiend Neues schaffen.
Autorenporträt
Maylis de Kerangal, geboren 1967 in Toulon, zählt zu den einflussreichsten Gegenwartsautorinnen Frankreichs. Sie hat zahlreiche Romane, Essays und Erzählungsbände veröffentlicht. Für ihren 2010 erschienenen Roman Die Brücke von Coca wurde sie mit dem Prix Médicis ausgezeichnet, Die Lebenden reparieren gewann zahlreiche Preise und wurde 2016 verfilmt. Kerangal lebt mit ihrer Familie in Paris. Andrea Spingler, geboren 1949 in Stuttgart, ist seit 1980 als freie Übersetzerin tätig. Sie hat unter anderem Werke von Marguerite Duras, Alain Robbe-Grillet, Patrick Modiano, Jean-Paul Sartre, André Gide ins Deutsche übertragen. 2007 wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Preis für herausragende deutsch-französische Übersetzungen ausgezeichnet, 2012 mit dem Prix lémanique de la traduction. Sie lebt in Oldenburg und Südfrankreich.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension

"Irritierende Schlaglichter" werfen Maylis de Kerangals Erzählungen für Kritiker Helmut Böttiger - und zwar im bestmöglichen Sinne, bewundert er doch die literarische Kraft, mit der die Geschichten über Goldgräberstädte in den USA brillieren. Dabei gelingt es ihr immer wieder, Unausgesprochenes zu evozieren, oder Geheimnisse, die kurz aufscheinen, ohne erklärt zu werden, wie die titelgebenden Kanus. Handlung gibt es nicht viel, so Böttiger, die besonders eigenwillig-melodische Sprache reicht, um ihn zu überzeugen. So kann er den Band in seiner Mischung von poetischem Reiz und melancholischer Menschenbeobachtung nur weiterempfehlen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.06.2023

Risse
in der
Wirklichkeit
In Frankreich gilt
Maylis de Kerangal als eine
der bedeutendsten
Autorinnen ihrer Generation.
Ihr betörender
Erzählband „Kanus“ zeigt
sehr genau, warum
VON HELMUT BÖTTIGER
Die Erzählungen von Maylis de Kerangal haben etwas Kristallines, eigenartig Funkelndes, sie entwickeln einen verführerischen Reiz. Das ist umso verblüffender, als es mit der Handlung gar nicht so viel zu tun hat. Auch die fast ausnahmslos weiblichen Hauptfiguren stehen nicht so eindeutig im Mittelpunkt, wie man es erwartet könnte. Es geht eher um die Perspektive und um einzelne Phänomene, die eine Eigendynamik erzeugen, um ein ästhetisches Surplus.
Die scharfkantige und poetische Sprache von Maylis de Kerangal evoziert weitaus mehr, als das vermeintliche Thema umfasst. Nach einigen Romanen, die zum Teil auch ins Deutsche übersetzt wurden, ist dies nun ihr erster Erzählungsband, und er wurde, wie alle ihre Bücher, in Frankreich bei Erscheinen sehr stark wahrgenommen und bekräftigte ihren Ruf als eine der bedeutendsten Autorinnen der mittleren Generation.
Die unverwechselbare, ungewohnte Art, wie de Kerangal die Gegenwart seziert, zeigt sich wie programmatisch im längsten der acht Prosastücke dieses Bandes mit dem Titel „Mustang“. Die französische Ich-Erzählerin folgt ihrem amerikanischen Mann aus Paris in den Mittleren Westen der USA. Er holt sie vom Flughafen ab, und schon bei dieser ersten nächtlichen Fahrt greifen mehrere Räder ineinander: „Plötzlich stellte Sam das Autoradio laut, weil er eine hörbare Frequenz entdeckt hatte, eine Stimme drang durch das Rauschen, stilisiertes Bluegrass, Mandoline und Gitarre, verblüffende, ideale Nasalierung, und passte sich sofort der Situation an wie ein Verstärker, das Wageninnere nahm die Dimension der Außenwelt an, die Prärie kam herein, und die Landschaft verschluckte uns mit einem Happs.“
Der Alltag in Golden, Colorado, entzieht sich den europäischen Normen. Diese Welt ist eine andere, und der „Mustang“, der alte Straßenkreuzer, ist eines der Bilder dafür. Der Text geht jedoch über bloße Entgegensetzungen hinaus. Im zeitgenössischen, mit allen Anzeichen deprimierender Urbanität und kapitalistischen Zivilisationsschrotts behafteten Amerika stößt die Erzählerin noch auf etwas anderes.
Golden ist eine frühere Goldgräberstadt, an der Hauptstraße gibt es einen Laden mit Edelsteinen und alten Zeugnissen der früheren indigenen Kultur. Unaufdringlich zieht sich durch die gesamte Geschichte eine Metaphorik des Überzeitlichen, die sich mit der großräumig zubetonierten Landschaft und der Gesichtslosigkeit der Städte kreuzt. Das gemeinsame Kind hat eine Vorliebe für Dinosaurier, die Mineralogin im Laden schenkt der Erzählerin als Talisman einen blaugrünen Amazoniten, und auch der Unfall mit dem Ford Mustang in einem irisierenden und nachwirkenden Schlussbild gehört in diesen Zusammenhang.
Maylis de Kerangal folgt in ihren Erzählungen immer wieder den Rissen in der Wirklichkeit. Dabei spielen sinnliche Eindrücke, die sich abseits des Gewohnten bewegen, eine besondere Rolle. Ein zentrales Moment ist, wie bei der Nasalierung des Bluegrass-Sängers im Autoradio, die menschliche Stimme. Sie nimmt in den meisten dieser Texte an bestimmten, eine neue Wendung markierenden Stellen etwas Künstliches, Fremdes an und setzt die gewohnten Wahrnehmungsmuster außer Kraft.
Eine andere der Ich-Erzählerinnen beschreibt anfangs ihr neues Radio, „ein Optalix Vintage in einem schönen Orange“, mit für diese Autorin charakteristischen, genauen technischen Details und einem assoziationsreichen Fachvokabular. Zunächst geht es ihr wieder darum, wie Sam im amerikanischen Mustang, „eine hörbare Frequenz“ auf UKW zu finden. Die Geschichte dreht sich dann vor allem um die Wiederbegegnung mit ihrer alten Freundin Zoé, die sie schon lange nicht mehr gesehen hat.
Etwas irritiert sie dabei an Zoé, und dann merkt sie, dass sich deren Stimme mittlerweile anders anhört: „Tatsächlich saß Zoé mir gegenüber wie eine Doppelgängerin ihrer selbst, ohne dass ich erkennen konnte, woher diese Dissonanz kam – ich hatte bloß das Gefühl, fieberhaft an dem gezackten Rädchen eines Transistorradios zu drehen, um das Rauschen nicht mehr zu hören und die richtige Frequenz meiner Freundin wiederzufinden.“
Es ist typisch für diese Erzählungen, dass in ihnen durch bestimmte Motive eine poetische Spur gelegt wird, die anders verläuft als das eigentliche Geschehen. Sie zeigt, dass man automatisch mehr aus der Realität ausklammert, als man gemeinhin glaubt. Einmal soll die Erzählerin in einem etwas exzentrischen Tonstudio das Gedicht „Der Rabe“ von Edgar Allan Poe lesen. Sie lernt dabei nicht nur auf dem Schall-Spektogramm eine Art Kerbe in ihren Stimmbändern kennen, die in regelmäßigen Intervallen wiederkehrt, sondern auch das Wesen des Raben selbst – des berühmten von Edgar Allan Poe in der Literatur genauso wie auch des echten in der Natur. In einer anderen Geschichte kann die Tochter ihren Vater endlich davon überzeugen, die Stimme der vor fünf Jahren gestorbenen Mutter auf dem Anrufbeantworter zu löschen, und auch hier hängt eine Verunsicherung mit ungewohnten Freiräumen zusammen.
Maylis de Kerangals Erzählungen in „Kanus“ sind Geheimnissen auf der Spur, und eines davon liegt auch im Titel des Buches: „Kanus“. In keiner einzigen Geschichte ist ein Kanu in irgendeiner Weise zentral. Mit der Zeit merkt man aber, dass in jeder Geschichte eines vorkommt, meist so beiläufig, dass man es leicht überliest. So trägt die Zahnärztin im ersten Text ein kleines Kanu aus vergoldetem Metall als Anhänger. Auf der Brücke über den Clear Creek in Golden sieht die Ich-Erzählerin kurz Kanus unten auf dem Fluss, und nach der Abiturfete in der Erzählung „after“ findet die Erzählerin im zurückgelassenen Müll auch den Prospekt eines Kanuverleihs.
Etwas hellhöriger wird man dann aber, wenn die beiden skurrilen Damen im Tonstudio die verschiedenen Stimmen, die sie aufnehmen, unter bestimmten Schlagwörtern registrieren. Es sind Charakterisierungen wie „Dekolleté, Revolution, kurzsichtig oder Zigarillo“. Und über die Stimme der betreffenden Ich-Erzählerin heißt es: „helles Kanu auf dunklem Ozean“. Es ist ein Bild, das nicht sehr befrachtet wird, aber insgeheim für das Selbstgefühl der Protagonisten bei Maylis de Kerangal steht. Im Text „Ontario“ schließlich blitzt die Bedeutung des Kanus noch einmal auf ganz ähnliche Weise auf.
Wie mit einem unterirdischen Geflecht werden die einzelnen Stücke dieses Bandes zusammengehalten, ohne dass dies näher ausgeführt werden müsste. Die Erzählungen von Maylis de Kerangal sind betörende, irritierende Schlaglichter mitten aus unserer Gegenwart – und mit Erkenntnisschüben, die nur die Literatur aus Wörtern und Sätzen herausholen kann.
Sinnliche Eindrücke, die sich
abseits des Gewohnten bewegen,
spielen eine besondere Rolle
Die Erzählungen legen
eine poetische Spur, die anders
verläuft als die Handlung
Scharfkantige und poetische Sprache: die französische Schriftstellerin Maylis de Kerangal.
Foto:  Joel Saget/AFP
Maylis de Kerangal: Kanus. Erzählungen. Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 163 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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»Die Erzählungen von Maylis de Kerangal sind betörende, irritierende Schlaglichter mitten aus unserer Gegenwart - und mit Erkenntnisschüben, die nur die Literatur aus Wörtern und Sätzen herausholen kann.« Helmut Böttiger Süddeutsche Zeitung 20230627