Produktdetails
  • Verlag: Volk und Welt
  • 2. Aufl.
  • Seitenzahl: 288
  • Deutsch
  • Abmessung: 190mm
  • Gewicht: 342g
  • ISBN-13: 9783353008954
  • ISBN-10: 3353008950
  • Artikelnr.: 24178419
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.1995

Mommsen und andere Machos
Auch Rolf Hochhuth lehrt jetzt Alte Geschichte

Rolf Hochhuth bezeichnet sein neues Werk als "Erzählung". Das ist es kaum. Vielmehr bietet er einen pseudohistorischen Essay, eine Attacke auf Livia und Tiberius, eine Ehrenrettung ihrer Opfer. Zugleich führt er einen zornigen Angriff auf die deutsche Althistorie seit Mommsen, wettert gegen die Prüderie des neunzehnten Jahrhunderts, verteidigt fanatisch Frauenrechte und Sexualität. Wie stets präsentiert er ein Stück provozierender Literatur.

Angesichts einer durch sprunghafte Themenwechsel, zahllose Wiederholungen und komplizierte Perioden gekennzeichneten Textstruktur müssen zunächst die wichtigsten Themenkreise des Buches benannt werden: Es behandelt die Familien- und Nachfolgepolitik im julisch-claudischen Haus von Oktavians problematischer Adoption durch Cäsar bis zur Ermordung der Mutter Neros. Hochhuth will dabei vor allem "die Liquidierung der Augustus-Nachkommen im Zusammenhang" thematisieren. "Wie alles anfing: Cäsars Testament wird gefälscht" findet man erst im letzten Abschnitt des Buches. Im Anschluß an Schmitthenner und Rosendorfer wird dabei unterstrichen, daß Oktavian, wie Schmitthenner ermittelte, "nicht der an erster Stelle von Cäsar eingesetzte Erbe" war, es aber gleichwohl verstand, dieses Erbe allein zu beanspruchen und zu politisieren.

In das Zentrum der Ausführungen aber rückt sogleich Livia. Sie wird zunächst mit immer neuen Vorwürfen eingedeckt: Diese "mörderische Erbschleicherin", "Giftmörderin", "wahrhaft tierisch-egoistische Stief-und Schwiegermutter" hat angeblich "alle männlichen Augustus-Erben: drei Enkelsöhne, zwei Schwiegersöhne und sogar die Männer der zwei Enkelinnen aus dem Wege geräumt und ihre Frauen verbannt".

Im zweiten Teil des Werks aber wird dieses Monster dann zu einer politisch motivierten Rächerin. Nun versucht Livia nach Hochhuth "zwei Ziele anzupeilen: Rache für die besiegten Ihren, die Republikaner, am Mordbrenner von Perugia. Zweitens Vernichtung der Erben des Siegers Augustus, damit ihr Sohn Tiberius den Thron erhalte! Livia hat diesem ihrem Twen-Traum - schon mit neunzehn stieg sie im sechsten Monat (!) aus ihrem ersten Ehebett ins zweite, in das des Mörders ihres Vaters und aller freien Republikaner - von 38 vor Christus bis 29 nach Christus gedient, also achtundsechzig Jahre! Und als sie starb - war sie am Ziel." So hat dies meines Wissens bisher noch niemand gesehen.

In einer Variation dieser These hält es Hochhuth für "einzigartig . . . in der gesamten Weltgeschichte: Daß einem Kaiser fünf Kronprinzen sterben, damit der von ihm gehaßte Stiefsohn Nachfolger werden kann". Hochhuth schuf hier eine scheinbare Beweiskette, wobei es ihn nicht stört, daß vier ihrer fünf Glieder (die angeblichen Ermordungen von Marcellus, Agrippa, L. und C. Caesar) lediglich auf Insinuation und auf Gerüchten beruhen. Es versteht sich, daß dabei zugleich ein völlig neues Augustus-Bild entsteht: Oktavian-Augustus ist ein "Erbschleicher", "Heimtücker" und "Killer", "Leibtrottel", "Hampelmann", ein "komisch wehrloses Ehemännchen". Tiberius kommt demgegenüber als "Vieh" oder als "die Bestie von Capri" noch einigermaßen günstig weg.

Mit echter Sympathie nimmt sich Hochhuth dagegen der Opfer der Politik von Livia, Augustus und Tiberius an. Die "Abschlachtung" von Cäsars Sohn Caesarion ist für ihn das Schlimmste "an Undank, was die alte Welt kennt". Bei den Verbannungen der Augustus-Tochter Julia und der Augustus-Enkelin Julia, in die auch Ovid verwickelt wurde, wischt er zu Recht die Vorwürfe von Ehebruch und Unsittlichkeit weg und betont die politischen Zusammenhänge. Auch das Schicksal der Gattin des Germanicus, Agrippina, und deren Kinder wird mit große Anteilnahme beleuchtet.

Hochhuths zweite Leitfrage lautet: "Warum Historiker, speziell deutsche, speziell jene des 19. Jahrhunderts - Mommsen-Epigonen allesamt -, mit Leidenschaft Partei für jene Giftmischerin Livia und ihren Ältesten: den Thron-Usurpator Tiberius ergreifen und sie von der Mordanklage - ohne jeden Beweis - freisprechen." Seine Antwort: "Frauen, weil sie Frauen waren, derart in der Geschichtsschreibung ins Unrecht zu setzen - das war allein dem 19. Jahrhundert vorbehalten: Ergebnis des ,Sitten'-Miefs der heuchlerischen Victoria-Zeit." Kronzeuge dafür ist ihm zunächst "Geheimrat Mommsen aus Charlottenburg", der "Reichshohepriester aller Spießer". Nach Hochhuth war dieses "Genie" (immerhin!) "von Vorurteilen und ,sittlichen' Voreingenommenheiten besessen".

Hochhuths haßerfüllte Diskriminierungen zog sich Mommsen deshalb zu, weil er es wagte, Livias angebliche Morde entweder überhaupt nicht zu erwähnen oder sie als "Klatsch" zu bezeichnen, deshalb auch, weil er sich anmaßte, "Sudeleien" von "seriösen Quellen" zu unterscheiden, ein Verfahren, das alle Vertreter der Altertumswissenschaft, seit es eine moderne Quellenkritik gibt, praktizieren. "Mommsen und andere Machos" ist die Tendenz dieser Partie. Denn auch "das Rudel deutscher Mommsen-Nachschreiber in seiner pontifikalen Hochnäsigkeit" kommt nicht besser weg.

Für den althistorischen Amateur Hochhuth wäre es darauf angekommen, die für seine Thematik grundlegenden modernen wissenschaftlichen Werke auszuwerten, nicht die von ihm favorisierten Taschenbücher von Marion Giebel, auch nicht den gewiß anregenden Tacitus-Essay von Golo Mann. Grundlegend sind nach einhelligem internationalem Urteil die Monographien von Sir Ronald Syme sowie eine ganze Reihe neurer Spezialstudien zu diesem Bereich. Wie er so richtig schreibt: ",forsch' darf einer nur reden, der erforscht hat".

Hochhuth aber fehlen für die antike Ebene wie für die Wissenschaftsgeschichte die elementarsten Voraussetzungen. Es ist hier nicht möglich, seine Fehler, Halbwahrheiten und schiefen Urteile auch nur aufzulisten. Nahezu ein Viertel des Werks besteht lediglich aus Zitaten. Dabei wäre es korrekt gewesen, die Autoren der übernommenen Übersetzungen auch zu nennen. All dies ist deshalb zu beanstanden, weil sich Hochhuth hier ja nicht in die Reihe derer stellte, die einen historischen Roman schrieben, wie Brecht, Ranke-Graves oder Wickert, sondern in jene der Historiographen.

Alles in allem: ein handwerklich wie inhaltlich wirres Buch, inkonsistent, sprunghaft. Durch ständige Wiederholungen sollen wohl die absolut gesetzten Urteile des Autors eingehämmert werden. Statt überzeugender Aufklärungshistorie bietet es Klatsch, statt Fakten häufig Fiktion: ein enttäuschendes Werk des einst so beeindruckenden Provokateurs. KARL CHRIST

Rolf Hochhuth: "Julia oder der Weg zur Macht". Erzählung. Verlag Volk und Welt, Berlin 1994. 289 S., geb., 29,80 DM.

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