Produktdetails
  • Bibliothek der Romane
  • Verlag: Steidl
  • Seitenzahl: 140
  • Abmessung: 200mm
  • Gewicht: 260g
  • ISBN-13: 9783882436723
  • Artikelnr.: 23982740
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.01.2000

Scharfschattige Freiheitssucher
Hermann Kestens Debüt erscheint, aus gegebenem Anlass, erneut

Auf Hermann Kestens "Josef sucht die Freiheit" stieß ich zuerst, ziellos stöbernd, in der Bibliothek der Villa Massimo in Rom. In den südlichen Zauber der heiligen Stadt passte das abgestoßene Büchlein mit dem Pappeinband ebenso wie in die dortige zerzauste Emigrantenbibliothek, seit den 50er Jahren bestückt mit den Büchern Durchreisender aller Couleur. Doch haftete dem Roman für mich ein wenig jenes Arom guter Gesinnung an, das beispielsweise auch Böll zu der Art von Jugendlektüre macht, die man irgendwann hinter sich oder für immer verpasst hat. Gleichwohl: "Josef sucht die Freiheit", Debüt-Roman Hermann Kestens, der 1927 erstmals im Vorabdruck der "Frankfurter Zeitung" erschien, dem Autor seinerzeit den Kleist-Preis einbrachte und ihn mit einem Schlag berühmt machte, ist nun bei Steidl in einer schön gebundenen Ausgabe erneut erschienen.

So alt wie das Jahrhundert, jährt sich Hermann Kestens Geburtstag heute zum hundertsten Male. Blättert man in alten Feuilletons, kann man verfolgen, mit welch großer Aufmerksamkeit die literarische Öffentlichkeit das umfangreiche Werk und Leben des Romanciers, Dramatikers, Essayisten und Lyrikers, des Lektors und Herausgebers, PEN-Präsidenten und Büchner-Preisträgern bis zu seinem Tod 1996 begleitet hat, seit Kesten mit seinen ersten Romanen und Theaterstücken von sich reden machte. Jean Amery hat einmal betont, wie sehr man vor dem Zweiten Weltkrieg "diese jungen Leute, die sich nichts vormachen ließen, den Kesten-Hermann, den Kästner-Erich mit seinem unvergessen ,Fabian'" liebte: "Es war eine gute Zeit, literarisch. Den Döblin, Thomas Mann, Heinrich Mann, Feuchtwanger und Arnold Zweig wuchs da im Zeitraffertempo eine neue, sie ablösende Generation nach."

Dabei sind es in "Josef sucht die Freiheit" noch ganz scharfschattige Themenmenschen des Expressionismus, die Kesten mit all ihrem Pathos in eine dagegen schon ganz lakonische Erzählung einstellt. Es wird von einem Sommertag berichtet, dem dreizehnten Geburstag des Gymnasiasten Josef, der zum Scharnier zwischen Kindheit und Erwachsensein werden soll. Der Junge lebt mit seiner Mutter und zwei Schwestern zur Untermiete in einem einzigen Zimmer, in dessen Enge auch noch Onkel Roß, arbeitsloser wie -scheuer Bruder der Mutter, Unterschlupf gefunden hat. Das ererbte Vermögen ist durchgebracht und der Vater hat die Familie verlassen. So weit die Versuchsanordnung des Romans, der sich hinsichtlich seines Bedeutungshofes so weit spreizt wie die Titel seiner Dramatisierung. Sehr nüchtern und sachlich "Wohnungsnot" nannte Kesten selbst sein Stück zum Roman, als "Die heilige Familie" kam es 1930 am Berliner Theater am Schiffbauerdamm zur Uraufführung. Im Zentrum von Familie wie Wohnung steht in jedem Fall Josef, der Freiheitssucher, der an seinem Geburtstag beschließt, es sei an der Zeit, sich aus der Unwissenheit der Kindheit zu lösen. Also versteckt er sich hinter der an die Wand geklappten Matratze, auf der Onkel Roß seine Nächte verbringt, und nimmt sich vor, die Wahrheit zu erlauschen.

Während auf dem Tisch, von der Mutter liebevoll arrangiert, eine Schale Erdbeeren und eine bedeutungsträchtige Mohnblüte vergeblich auf das Geburtstagskind warten, zerbricht für Josef die Welt. Von seinem Logenplatz des Schicksals aus muss er mit ansehen, wie seine Mutter einen Jugendfreund um Geld anbettelt und ihm dafür zu Willen ist, wie seine Schwester Thinka in den Selbstmord geht und wie die andere, Luise, zum "leichten Mädchen" wird. Am Ende ist der Onkel verschwunden, sein bester Freund im Gefängnis und der dreizehnjährige Held des Romans, für den "Frühlings Erwachen" von Wedekind eben noch "ein amüsantes Buch" war, das ihn "wegen der Naivität der darin geschilderten Themen und jugendlichen Charaktere sehr erheiterte", hat alle Bezugspunkte seines Lebens verloren. Tatsächlich mutet Tragik im wedekindschen Sinne unter dem nüchternen Himmel Kestens naiv an. Schuld dagegen - lernt Josef - ist unumgänglich. Die Freiheit, die er findet, ist so die von aller Moral und Bindung. Und eine von den Menschen, die am Ende des Buches unendlich weit entfernt sind.

Im selben Jahr, in dem "Josef sucht die Freiheit" erschien, wurde Hermann Kesten Lektor des Gustav-Kiepenheuer-Verlages in Berlin. Als Sohn eines jüdischen Kaufmanns aus Ostgalizien in Nürnberg aufgewachsen, hatte er in Erlangen, Frankfurt und Rom Jura und Nationalökonomie, Geschichte, Philosophie und Germanistik studiert. Nun, als Lektor und späterer Verlagsleiter, avancierte er schnell zum Wegbereiter einer ganzen Schriftstellergeneration. Er nahm sich Josef Roths "Hiob" und des "Radetzkymarsch" an, Anna Seghers früher Romane wie dem "Aufstand der Fischer" und der "Versuche" Bertolt Brechts. Bei ihm erschienen die nachgelassenen Erzählungen Franz Kafkas, die Essays von Benn und Heinrich Mann. Und als er 1929 die Anthologie "24 deutsche Erzähler" herausgegeben hatte, sprach man von der ,neuen Sachlichkeit', die von Kesten, Joseph Roth und Erich Kästner initiiert worden war und der sich, wie er selbst stolz feststellte, "mit einigen Hauptwerken später ältere Autoren wie Heinrich Mann und Alfred Döblin anschlossen und die nach dem Zweiten Weltkrieg auf Sartre und Camus gewirkt hat wie schon vorher auf Isherwood und Auden".

Kesten selbst ging 1933 in die Emigration erst nach Amsterdam, dann in die Vereinigten Staaten. Nach dem Krieg lebte er lange Jahre, heimatlos geworden, zwischen Rom und New York, bis er sich schließlich 1977 bei Basel niederließ. Anlässlich des 85. Geburtstages Kestens bekannte Marcel Reich-Ranicki in dieser Zeitung: "Den jungen Lesern sagt freilich sein Name nicht mehr viel." Man könne sich wohl sogar wundern, dass dieser Autor "einst im Mittelpunkt unserer literarischen Öffentlichkeit stand". Und in der Tat hat der Faschismus wohl endgültiger, als das im Nachkriegsdeutschland zunächst scheinen wollte, eine ganze Generation von Autoren letztlich um ihre Wirkung gebracht, indem Tod und Emigration ihre Kultur engagierten, gebildeten Schreibens zerstörte. Carl Amery: "Viele aus diesem Nachwuchs hat die Geschichte nur geistig geköpft. Andere wurden physisch aus der Welt gestoßen." Doch Einiges des einmal umfangreichen Werkes Hermann Kestens ist noch lieferbar. Von seinen Romanen ist außer dem Debüt - das neben der Neu- auch in einer preiswerten Taschenbuchausgabe vorliegt - das Casanova-Buch noch immer empfehlenswert und als Spur jener verlorenen Epoche die Kollegenporträts, die der Band "Dichter im Café" versammelt.

Bevor "Josef sucht die Freiheit" und damit die Erzählung jenes schrecklichen Tages zu Ende geht, trifft der Held zufällig und im Vorübergehen seine erste, vierzehnjährige Liebe. Noch einmal hellt der Horizont sich in der Geschichte des Mädchens auf, die Kesten in die Handlung einschaltet. Dann weist der völlig desillusionierte Josef auch sie von sich. Es berührt seltsam, dass Kesten noch fast sechzig Jahre nach dem Erscheinen des Buchs in der entsprechenden Rubrik des F.A.Z-Fragebogens ihren Namen als den ihm liebsten nennt: Gina.

THOMAS HETTCHE

Hermann Kesten: "Casanova". Roman. Ullstein Verlag, Berlin 1981. 451 S., br., 9,80 DM.

Hermann Kesten: "Dichter im Café". Ullstein Verlag, Berlin 1983. 437 S., br., 12,80 DM.

Hermann Kesten: "Josef sucht die Freiheit". Roman. Ullstein Verlag, Berlin 1984. 131 S., br., 6,80 DM.

Hermann Kesten: "Josef sucht die Freiheit". Roman. Steidl Verlag, Göttingen 1999. 144 S., geb., 20,- DM.

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