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In Europa bleibt das Reden über die eigene Gesellschaft nach wie vor einem methodologischen Nationalismus verhaftet. Die vielfachen Verflechtungen und Austauschprozesse zwischen europäischen und außereuropäischen Ländern geraten selten in den Blick. Der vorliegende Band lädt dazu ein, die europäische Geschichte im Kontext von Kolonialismus und Imperialismus neu zu denken, und öffnet den Blick auf transnationale und postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften.
Rezension:
Verflechtungsgeschichten statt Nationalgeschichte
In Europa bleibt das Reden über die
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Produktbeschreibung
In Europa bleibt das Reden über die eigene Gesellschaft nach wie vor einem methodologischen Nationalismus verhaftet. Die vielfachen Verflechtungen und Austauschprozesse zwischen europäischen und außereuropäischen Ländern geraten selten in den Blick. Der vorliegende Band lädt dazu ein, die europäische Geschichte im Kontext von Kolonialismus und Imperialismus neu zu denken, und öffnet den Blick auf transnationale und postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften.

Rezension:
Verflechtungsgeschichten statt Nationalgeschichte

In Europa bleibt das Reden über die eigene Gesellschaft nach wie vor einem methodologischen Nationalismus verhaftet. Der Band bietet Ansätze, die europäische Geschichte im Kontext von Kolonialismus und Imperialismus neu - transnational - zu denken.

Der Wandel der Herrschaftsverhältnisse im Zuge der Globalisierung wird von Michael Hardt Hardt und Toni Negri als "Empire" gekennzeichnet, um mit diesem Begriff den Unterschied zum Imperialismus alter Prägung zu markieren. Auf der anderen Seite wird, insbesondere von weiten Teilen der nichtwestlichen Welt, das "global governance" gerade als Fortsetzung des Imperialismus, als Re-Kolonialisierung begriffen. So unterschiedlich die Deutungen auch ausfallen - die aktuelle Globalisierungsdebatte kann doch dazu beitragen, neue Perspektiven auf eine imperiale Vergangenheit zu eröffnen, die nach wie vor ihre Schatten auf die Gegenwart wirft.

Die Autoren des Bandes diskutieren Ansätze, die aus postkolonialer Sicht den Blick auf die Verwobenheit der europäischen Welt lenken. Es wird eine Kritik an der Vorstellung formuliert, dass die europäische/westliche Entwicklung abgekoppelt vom 'Rest' der Welt verlaufen sei und daher aus abendländischen Besonderheiten heraus verstanden werden könne. Stattdessen wird in den Beiträgen die spätestens seit dem 19. Jahrhundert unauflösbare Verflechtung der europäischen und außereuropäischen Welt zum Ausgangspunkt einer Geschichtsschreibung gemacht, die sich nicht mehr in nationalen Teleologien verdichtet. Denn transnationale Beziehungen kennzeichneten nicht nur das Verhältnis Europas zu den außereuropäischen Kulturen, sondern waren gleichermaßen typisch für die innereuropäische Konstellation bzw. die Interaktion nichtwestlicher Gesellschaften untereinander.

Aus der Sicht von Historikern, Soziologen, Politologen, Ethnologen, Indologen und Kulturwissenschaftlern wird der Versuch unternommen, die Geschichts- und Kulturwissenschaften transnational zu erweitern, um die häufig unterrepräsentierten Aspekte innereuropäischer Vergangenheit wieder stärker zu berücksichtigen.
Autorenporträt
Sebastian Conrad, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Assistent am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin.

Shalini Randeria ist Professorin für Soziologie an der Universität München.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.04.2003

Das Heulen
des Ägypters
Die Welt von allen Seiten:
Postkoloniale Studien
Waren beim Orientalistenkongress in Berlin noch echte Orientalen als Sensation angepriesen worden, welche die ehrwürdigen Herren Professoren zur Veranschaulichung ihrer Referate Gebete, Tänze und dergleichen vorführen ließen, so lud man zur Tagung im Sommer 1889 nach Stockholm Ägypter schon als Gelehrte ein. Als diese jedoch ihre Beiträge in der eigenen Sprache vortrugen, war das Entsetzen groß. Er habe „nichts derart Unwürdiges von einem vernünftigen Menschen gehört”, so ein aus Oxford angereister Forscher wie „das pfeifende Heulen, das ein arabischer Student der Kairoer El-Azhar-Moschee von sich gegeben hat.” Für die Zukunft verbat er sich derart entwürdigende Beiträge für wissenschaftliche Tagungen – ein symbolträchtiges Bild für die weit verbreitete Unfähigkeit europäischer Gelehrter, mit für sie fremden Kulturen in einen wirklichen Dialog zu treten.
Man bestaunte und begaffte, gehörte man zum einfachen Volk, man idealisierte indische Spiritualität oder träumte von orientalischen Harems, gehörte man zur mehr oder weniger gebildeten Mittelschicht, man rekonstruierte Schriften und sicherte Quellen, gehörte man zu den akademischen Spezialisten. Man erschuf denFremden nach eigenen Vorstellungen. Dass die Wissenschaft lange dazu beigetragen hat, einen Orient zu erfinden, dessen wichtigste Eigenschaft es war, als negative Folie zum aufgeklärten, rationalen Okzident zu dienen, wissen wir seit Edwards Saids Buch „Orientalism” von 1978. Die in dessen Gefolge vor allem in der englischsprachigen Welt erschienenen „postcolonial studies” füllen mittlerweile ganze Bibliotheken.
Aufgeklärte Sklavenhalter
Sebastian Conrad und Shalini Randeria legen nun eine deutsche Ausgabe zentraler Texte an amerikanischen und britischen Universitäten lehrender Wissenschaftler vor. Wer möchte, kann sich in dem ausführlich und kundig eingeleiteten Band schnell und fundiert über dieses gar nicht mehr so neue Forschungsfeld informieren. Dass es sich bei den abgedruckten Texten nicht um theoretische Texte im engeren Sinn handelt, sondern das Forschungsfeld über exemplarische Arbeiten erschlossen wird, erhöht die Lesbarkeit ungemein.
Die gesammelten Beiträge beweisen, wie fruchtbar der Blick auf die europäische Aneignung der Welt in Idee und Tat auch für die europäische Geschichte sein kann. Manche im Zeichen neuerer Europalegitimationen arg geglättete europäische Entwicklung offenbart so ihre Widersprüche. So war das Zeitalter der Aufklärung, wie Michel-Rolph Troullot am Beispiel der haitischen Revolution und ihre Aufnahme in Frankreich zeigt, für viele Nicht-Europäer ein „Jahrhundert der Verwirrung”. Wie sollte man es auch verstehen, dass im fernen Paris die Menschenrechte proklamiert wurde, in Amerika aber Menschen als Sklaven gehandelt wurden? Wie konnten es Philosophen vereinbaren, von der Gleichheit aller zu schreiben, während sie selbst direkt oder indirekt von kolonialer Ausbeutung profitierten? Fragen, die auch eine primär an nationalen oder europäischen Entwicklungen interessierte Forschung beantworten sollte.
In Deutschland werden diese Ansätze von der historischen Zunft immer noch kaum rezipiert, führt die außereuropäische Geschichte, wie die Afrikahistoriker Andreas Eckert und Albert Wirz im neben der Einleitung einzigen Originalbeitrag des Bandes zum Verhältnis der Deutschen zum Kolonialismus schildern, doch ein Dasein am Rande des Interesses. Wie die breitere Öffentlichkeit hat auch die Fachwissenschaft das Problem des Kolonialismus als ein Problem der anderen, der Briten oder Franzosen ausgemacht. Letztlich ist diese Haltung ein Ergebnis des Versailler Friedens, denn damals verlor Deutschland sein kurzlebiges Kolonialreich in Afrika, China und der Südsee. Ausgerechnet die bis 1945 vehement bekämpfte alliierte „Kolonialschuldlüge” befreite die Deutschen von den sich aus dem Kolonialismus ergebenden Verpflichtungen. Und spätestens mit der Ende der fünfziger Jahre einsetzenden Welle der Dekolonisation waren die Deutschen froh darüber. Eckerts und Wirz’ Appell, auch Deutschland sei ein Teil der Moderne, die ohne ihre Wechselbeziehung zur außereuropäische Geschichte nicht verstanden werden könne, wäre breite Aufmerksamkeit zu wünschen.
Zwei kritische Bemerkungen seien gestattet: Zum einen löst der Band das Versprechen Argumente „wider den Eurozentrismus” zu liefern, nur zum Teil ein. Denn die Bedeutung für die europäische Geschichte bleibt Referenz. Dabei wäre ein Beitrag etwa zu den Auswirkungen des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 auf die Politik Siams durchaus von Interesse gewesen. Zum anderen versammelt der Band, den in den „postcolonial studies” vorherrschenden Trends entsprechend, vor allem ideen- und diskursgeschichtliche Beiträge. Der Diskurs über den Anderen ist eben leichter zu analysieren als der tatsächliche Umgang mit ihm. Auf Dauer sollte man sich damit jedoch nicht zufrieden geben. Eine globale Geschichte darf ihren Anspruch jedenfalls nicht auf die Geographie beschränken
JÜRGEN ZIMMERER
SEBASTIAN CONRAD, SHALINI RANDERIA (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2002. 398 Seiten, 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.01.2003

Wilde sind eben nicht vernünftiger
Bilanz einer Denkfigur: Wie steht es um den Eurozentrismus?

Ein Gespenst geht um in Europa: das Gespenst des Eurozentrismus. Der deutsche Außenminister, der französische Staatspräsident, der britische Premier und sogar der Papst in Rom distanzieren sich eilfertig von ihm, und zum Beweis, daß die Absage an den Eurozentrismus ernst gemeint ist, darf die Türkei der EU beitreten. Dabei ist der Eurozentrismus schon lange tot; er starb, je nach Standpunkt des Betrachters, in Pearl Harbor oder Dien Bien Phu, und zum Zeichen dafür, daß es sich um einen Untoten handelt, haben die Kritiker des Eurozentrismus das Präfix "post" auf ihr Banner gestickt.

Postkolonialismus heißt das Stichwort, das in den Vereinigten Staaten die Agenda beherrscht und derzeit von amerikanischen auf deutsche Universitäten übergreift: nicht im Kernbereich von Politik und Ökonomie, sondern an den weichen Rändern der sogenannten Kulturwissenschaft, die an die Stelle traditioneller Fächer wie Anglistik und Romanistik getreten ist. Fünfzig Jahre nach Beginn der Entkolonisierung kehrt die Kolonialherrschaft auf die Tagesordnung zurück - nicht als Tragödie, sondern als Farce: eine akademische Mode, die zumeist keinen konkreten Bezug hat zu den Realitäten der Dritten Welt, auf die man sich ständig beruft. Wenn das Unwort Moralkeule einen Sinn hat, dann wohl hier: Der Hinweis auf das Elend in Afrika oder Lateinamerika dient Globalisierungsgegnern jeder Couleur als abrufbares Zitat, um abweichende Meinungen mundtot zu machen. Dahinter steht oft eine unkritische Verklärung des oder der Anderen, die sich zu ihrer theoretischen Rechtfertigung weniger auf Marx als auf Rousseaus edle Wilde beruft - ein Produkt ebenjener Aufklärung, die aus postkolonialer Sicht in den Mülleimer der Geschichte gehört.

"Der Anti-Eurozentrismus ist ein Ticket, mit dem man weit kommt", sagte mir kürzlich eine aus Indien stammende Literaturprofessorin, die ihre Vorträge mit dem Hinweis zu eröffnen pflegt, sie sei doppelt marginalisiert: als Frau und als Inderin, die von einer Amme aus der Unterschicht aufgezogen wurde und deren Kultur mit der Muttermilch aufgesogen habe. Freilich: daß sie aus einer Brahmanenfamilie stammt, an amerikanischen Ivy-League-Universitäten lehrt und für ihre Auftritte vierstellige Honorare verlangt, kam in dieser geschönten Selbstdarstellung nicht vor. Statt dessen riet sie mir, mich als weißer Neger zu verkaufen, weil meine Großmutter Haitianerin war.

Wie weit man mit diesem Ticket reisen kann, zeigte der Erfolg des künstlerischen Leiters der letzten documenta, Okwui Enwezor, der Europas Schuldgefühle gegenüber der Dritten Welt professionell zu vermarkten verstand. Obwohl vielen Besuchern auffiel, daß ein Abgrund klaffte zwischen der Qualität der in Kassel gezeigten Kunst und deren ideologischem Anspruch, die Welt aus den Angeln zu heben, traute sich niemand, sein Unbehagen zu artikulieren, weil Okwui Enwezor durch seinen Status als Nigerianer unangreifbar schien und allen Kritikern den Wind aus den Segeln nahm. Es wäre zynisch, wollte man ihm Ken Saro Wiwa als Beispiel entgegenhalten, der sein mutiges Eintreten für Menschenrechte und Ökologie mit dem Tod bezahlte: Nicht daß Okwui Enwezor in London und New York auf der sicheren Seite lebt, ist der Punkt, sondern daß und wie er sich als Vorkämpfer der Dritten Welt geriert. "Die Durchsetzung von Bürgerrechten, die Anerkennung von Differenzen, die Propagierung von Toleranz und Respekt im sogenannten Multikulturalismus - das sind alles westliche Konzepte", sagt Bazon Brock: "Warum tut Enwezor so, als würde er mit einem Begriffsapparat antreten, der sich aus der Universale der Weltmenschheit ableitet?"

Streit um die Zentralperspektive

Natürlich: es ist richtig und notwendig, die eurozentrische Borniertheit zu überwinden und die Dritte Welt in den Blick zu nehmen, nicht als bloße Spiegelung der reichen Länder des Nordens, sondern als deren Infragestellung - je radikaler, desto besser. Dabei geht es weniger um die quantitative Erweiterung des Gesichtsfelds im Sinne einer pittoresken Multikulturalität als um die qualitative Frage, wer wen von welchem Standpunkt aus betrachtet. Doch die Kritik des imperialen Blicks, der sich zu Unrecht als Zentralperspektive ausgibt, ist nur dann überzeugend, wenn sie mit stringenten Argumenten operiert und nicht mit ideologischen Klischees, die selbst europäischer Herkunft sind. So ist - um bei der documenta zu bleiben - ein Happening noch keine Negation der etablierten Moderne, bloß weil es in Kuba oder in Brasilien stattfindet, zwei Ländern, die ebenso vom Einfluß Europas und der Vereinigten Staaten geprägt sind wie die Kunstform des Happenings, das als abgesunkenes Kulturgut längst zum Mainstream der westlichen Gesellschaft gehört. Ein theoretischer Diskurs, der diesen Widerspruch nicht reflektiert, ist nicht auf der Höhe seines Gegenstands, denn Europa hat ja nicht nur Kapitalismus, Kolonialismus und Imperialismus hervorgebracht, sondern auch deren konsequente Kritik: von der Proklamation der Menschenrechte bis zum Verbot des Sklavenhandels und von der Französischen bis zur russischen und chinesischen Revolution, die selbst in ihren radikalsten Ausprägungen noch von europäischen Vorbildern geprägt war.

Die sozialromantische Glorifizierung der Dritten Welt als Subjekt und Objekt der Revolution geht ebenso auf Ideen der Aufklärung zurück wie die Herabstufung der anderen zu Untermenschen und blutrünstigen Bestien, die bei der antisemitischen Propaganda der Nazis Pate stand. Bei Licht betrachtet, sind die Klischees von rechts und links gar nicht so weit voneinander entfernt, denn Europa war und ist der einzige Kontinent, der sich permanent selbst kritisiert und seine zivilisatorischen Errungenschaften von innen heraus in Frage stellt, was man von anderen, ethnozentrisch geprägten Kulturen so nicht behaupten kann: Man denke nur an Japan, China oder die arabische Welt.

Der Erkenntnisgewinn der postkolonialen Theorie liegt weniger in dem, was sie über die Dritte Welt zu sagen hat, als im Studium der Rückwirkungen von Kolonialismus und Imperialismus auf deren Ursprungsländer, das heißt um die Frage, wie die Wahrnehmung der anderen die Selbstbilder Europas und der Vereinigten Staaten beeinflußt hat. Aber auch das ist nicht neu, denn der Mechanismus der Projektion, die mehr über den Absender aussagt als über den Adressaten, ist aus der Freudschen Psychoanalyse seit langem bekannt. Umgekehrt ist die Heiligsprechung der Dritten Welt, gekoppelt mit der Illusion, diese habe vor der Kolonisierung im Stand der Unschuld gelebt, nicht weniger reaktionär als ihr Gegenteil, der Dünkel des Westens, fremden Kulturen nicht bloß technisch, sondern moralisch überlegen zu sein.

Sklaverei als Folklore

Die Probe aufs Exempel liefert das Buch "Jenseits des Eurozentrismus - Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften", herausgegeben von Sebastian Conrad und Shalini Randeria, das wichtige Vertreter dieser Denkrichtung vor allem aus angelsächsischen Ländern zu Wort kommen läßt. Abgesehen von Platitüden wie: "Orientreisende sahen sich als Menschen, die in den Osten selbst in seiner tatsächlichen Realität fuhren" oder "daß die englische Kolonialgeschichte nicht lediglich in Übersee, sondern gleichermaßen auf den Britischen Inseln stattfand", sind die meisten Beiträge des Bandes äußerst lesenswert und vermitteln einen guten Überblick über den Stand der postkolonialen Theorie.

So ist der von John L. und Jean Comaroff durchgeführte Vergleich zwischen den Armenvierteln Londons im neunzehnten Jahrhundert und den Wohnverhältnissen in Betschuanaland zwar zutreffend, weil in beiden Fällen Licht und Hygiene, verkörpert von Bibel und Einfamilienhaus, als Allheilmittel empfohlen wurden, aber keineswegs neu: Schon die Abolitionisten des achtzehnten Jahrhunderts zogen Parallelen zwischen dem sozialen Elend in den Metropolen und der Sklaverei in den Kolonien. Und es ist nicht nachzuvollziehen, warum die Missionsarbeit in Afrika postkolonialen Kritikern peinlich und lächerlich erscheint, bloß weil der Unterschied zwischen différence und différance (Derrida) Missionaren des neunzehnten Jahrhunderts nicht geläufig war. Hier wie anderswo auch unterlaufen antieuropäische Ressentiments die postulierte Wertfreiheit.

Ein weiterer Fokus der Diskussion ist die von Las Casas angeprangerte Ausrottung der Ureinwohner von Hispaniola und deren Ersetzung durch aus Afrika importierte Sklaven, die im Zuge der Französischen Revolution zuerst ihre Freiheit und Gleichberechtigung und später, im Kampf gegen eine von Napoleon entsandte Invasionsarmee, ihre Unabhängigkeit erkämpften: Das 1804 gegründete Haiti ist nach den Vereinigten Staaten die zweitälteste Republik Amerikas und das weltweit einzige Beispiel einer siegreichen Sklavenrebellion. Der Historiker Michel-Rolph Trouillot beklagt zu Recht, daß dieses historisch einmalige Ereignis in europäischen Geschichtsbüchern nicht vorkommt, obwohl Frankreichs Niederlage in Haiti ähnlich folgenreich war wie die in Rußland und Napoleon zum Verkauf Louisianas an die Vereinigten Staaten zwang.

Aber Trouillot schießt weit übers Ziel hinaus, wenn er den Kontext der Französischen Revolution verschweigt, ohne die der Sklavenaufstand in Haiti eine lokale Revolte geblieben wäre, und die Tatsache unterschlägt, daß England die Häfen der Kolonie blockierte und dadurch den Aufständischen zum Sieg verhalf. Hier zeigt sich einmal mehr eine fatale Tendenz zur Verabsolutierung der Dritten Welt, die ansonsten brauchbare Einsichten konterkariert, etwa wenn Dipesh Chakrabarty eine britische Impfkampagne in Indien als kolonialen Gewaltakt interpretiert - was wiederum nicht heißt, daß das zum Fetisch erklärte westliche Entwicklungsmodell über jede Kritik erhaben sei.

Der Gipfel der Verzerrung aber ist Steven Feiermans idyllische Sicht des vorkolonialen Afrika, die lokale Formen der Knechtschaft und Sklaverei zur Folklore bagatellisiert und gleichzeitig die Völkermorde in Ruanda und Biafra mit Schweigen übergeht, obwohl der Text die Kulturen der westafrikanischen Igbo und der ostafrikanischen Tutsi thematisiert. Gegen diese Gefahr ist Sheldon Pollocks brillante Analyse der Indologie im nationalsozialistischen Staat gefeit, aber insgesamt ist die Faktenbasis des Buches zu schmal, um dessen überzogenen Anspruch zu rechtfertigen, der postkoloniale Diskurs sei mehr als eine selbstreferentielle Theorie und akademisches L'art-pour-l'art.

HANS CHRISTOPH BUCH

Okwui Enwezor, Carlos Basualdo u. a. (Hrsg.): "Democracy Unrealized". Documenta 11, Platform 1. "Experiments with Truth". Documenta 11, Platform 2. Verlag Hatje Cantz, Kassel 2002. 412 S., 24 Abb. und 404 S., 57 Abb., br., je Band 30,- [Euro].

Sebastian Conrad, Shalini Randeria (Hrsg.): "Jenseits des Eurozentrismus". Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2002. 398 S., br., 24,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Recht kritisch geht Rezensent Hans Christoph Buch mit dem von Sebastian Conrad und Shalini Randeria herausgegebenen Band "Jenseits des Eurozentrismus" ins Gericht, der wichtige Vertreter dieser Denkrichtung vor allem aus angelsächsischen Ländern zu Wort kommen lässt. Zwar findet er die meisten Beiträge des Bandes "äußerst lesenswert" und betont, dass sie einen guten Überblick über den Stand der postkolonialen Theorie vermitteln. Nichtsdestoweniger hat er an den einzelnen Beiträgen dann viel herumzumäkeln. Den von John L. und Jean Comaroff durchgeführten Vergleich zwischen den Armenvierteln Londons im neunzehnten Jahrhundert und den Wohnverhältnissen in Betschuanaland hält Buch zwar für "zutreffend", aber "keineswegs für neu". Bei Dipesh Chakrabartys Interpretation einer britischen Impfkampagne in Indien als kolonialem Gewaltakt erkennt der Rezensent "einmal mehr eine fatale Tendenz zur Verabsolutierung der Dritten Welt, die ansonsten brauchbare Einsichten konterkariert". Den "Gipfel der Verzerrung" erblickt Buch in Steven Feiermans "idyllischer Sicht des vorkolonialen Afrika", die lokale Formen der Knechtschaft und Sklaverei zur Folklore bagatellisiere und gleichzeitig die Völkermorde in Ruanda und Biafra mit Schweigen übergehe. Sheldon Pollocks Beitrag über Indologie im nationalsozialistischen Staat würdigt er indes als "brillante Analyse". Insgesamt ist für Buch die Faktenbasis des Buches zu schmal, "um dessen überzogenen Anspruch zu rechtfertigen, der postkoloniale Diskurs sei mehr als eine selbstreferenzielle Theorie und akademisches L'art-pour-l'art."

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