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Produktdetails
  • Verlag: Limmat Verlag
  • Seitenzahl: 462
  • Erscheinungstermin: September 1998
  • Deutsch
  • Abmessung: 280mm
  • Gewicht: 1490g
  • ISBN-13: 9783857913228
  • ISBN-10: 3857913223
  • Artikelnr.: 24631584
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.1998

Der Teufel steigt im Pfauen ab
Aus dem Leben einer Aktiengesellschaft: Das Schauspielhaus Zürich

Charlotte Birch-Pfeiffer, von 1837 bis 1843 Prinzipalin des Zürcher Aktien-Theaters, atmete erleichtert auf, als alles vorbei war: "Mir ist zumut, als sei ich aus einer Zwangsjacke befreit, seit ich aus Ihrem Zürich fort bin. Die Hälfte oder zwei Drittel der Millionäre und Vornehmen hier sind Quietisten und verabscheuen das Theater als eine Erfindung des Teufels. Die wenigen, die es besuchen, begnügen sich mit einem Logenplatz. Alle hocken auf ihrem Geld."

Theaterdirektoren hatten es nie leicht in der Stadt Zwinglis, die erst 1834 ihr Theaterverbot aufhob. Schauspielkunst mußte hier wahrhaft und vor allem rentabel sein, nicht "zu weltstädtisch", aber weltberühmt, kurz: "allererstes europäisches Theater" auf provinziellem Niveau. So hockte das Zürcher Schauspielhaus von Anfang an zwischen Geld und Geist, Amüsement und "festlicher Erbauung". In den zwanziger Jahren hatte der Weinhändler Ferdinand Riester die Tingeltangelbühne des "Pfauen" gekauft und pompös umgebaut. Als privater Theaterdirektor konnte sich der idealistische "Menschenschinder" ein Programm leisten, das Schwänke und Modeschauen, Broch und Brecht rücksichtslos zusammenzwang. Als Riester die Pfauenbühne 1938 an die neugegründete "Neue Schauspiel AG", eine Aktiengesellschaft mit starkem städtischen Einfluß, verkaufte, trat der Pferdefuß dieser Rechtsform schon bald zutage. Der Verwaltungsrat wird, ähnlich wie in unseren öffentlich-rechtlichen Anstalten, nicht unbedingt nach künstlerischen Gesichtspunkten besetzt.

Seit mehr als fünfzig Jahren zehrt die erste Schweizer Bühne von ihrer ruhmreichen Tradition als kosmopolitische Emigranten- und antifaschistische Kampfbühne; ein Segen, der längst zum Fluch geworden ist, weil sich jede Normalität am Mythos blamiert. Zwischen 1933 und 1945, so jedenfalls geht die Legende, fanden in dieser gastfreundlichen Enklave von Humanität und Freiheit alle Unterschlupf, die in Hitlers Reich nicht mehr spielen durften oder wollten: Albert Bassermann, Therese Giehse, Ernst Ginsberg, Kurt Horwitz, Wolfgang Langhoff, Erwin Parker, Karl Paryla, Leopold Steckel. Als Deutschland seine Kultur verriet, wurden hier Brechts Stücke uraufgeführt. Als die Juden ermordet wurden, konnten Emigranten wie Leopold Lindtberg und Kurt Hirschfeld hier unbehelligt Regie führen und nach dem Krieg sogar Direktoren werden.

Dabei fehlte es nie an Gegnern. Die Nationale Front zettelte Krawalle gegen das kulturbolschewistische "Judentheater" an und warf in der Männertoilette eine Bombe gegen die "Dreigroschenoper". Auch dem Pfahlbürgertum und der Fremdenpolizei waren die "unschweizerischen" Umtriebe der Emigranten nicht geheuer, und die vaterländischen Autoren, darunter der junge Max Frisch, beklagten sich bitter und eifersüchtig über "übertriebene" Weltoffenheit und "Überfremdung". Dennoch wuchs hier im Zeichen der "geistigen Landesverteidigung" eine einzigartige Gemeinschaft zwischen Ensemble, Direktion und Öffentlichkeit. Heinrich Gretler, der "bewährte, wurzelechte Tell", versammelte die Eidgenossen gleich in der ersten Saison zum Rütlischwur wider fremden Ungeist, und die Asylsuchenden durften sich aufgenommen fühlen in ein einig Volk von Brüdern auf freiem Bühnenboden. Das Schauspielhaus bewährte sich so in schlimmen Zeiten als "moralische Anstalt" (Hans Mayer), und es verschlägt nichts, daß Oskar Wälterlin - das ist eine der Enthüllungen dieses Buchs - auf Empfehlung der Polizeibehörden zum ersten künstlerischen Direktor bestimmt worden war.

Ute Kröger und Peter Exinger haben in ihrem voluminösen Werk aus Verwaltungsprotokollen, Akten, Briefen und Theaterkritiken auch Fakten und Stimmen herausgefiltert, die den heroischen Mythos anzukratzen vermögen, etwa die antisemitischen Ressentiments in der Öffentlichkeit und die "Haarrisse" im Ensemble. Das Schauspielhaus war nie eine Arche Noah für alle Asylanten. Spätestens seit 1938 war es ein "closed shop": eine Zwangs- und Schicksalsgemeinschaft, die in der Falle saß und verzweifelt um ihr Leben spielte - bis zu zweiunddreißig Stücke pro Saison und zeitweise ohne Gage. Nach Kriegsende zerfiel das Ensemble so rasch wie der legendäre Geist, der es angespornt hatte. Hinter der Fassade der "Kontinuität" machte sich im Pfauen künstlerischer und politischer Opportunismus breit.

Schon 1947, als die Zürcher die heimgekehrten "Würstl-Emigranten" noch mit Carepaketen durchfütterten, sprach Fritz Kortner von einem "dummdreisten Provinztheater". Brecht sah mit zynischem Gleichmut, wie die antifaschistische Option im Kalten Krieg fast bruchlos antikommunistisch umdefiniert wurde. In den fünfziger Jahren war er so tabu wie die revolutionären Russen und die Moderne; selbst die Hausautoren Frisch und Dürrenmatt ließen sich kaum noch gegen ein nach "wohltätiger Erholung" lechzendes Publikum durchsetzen. Die "Fälle" Hilpert und Giehse oder das Engagement von "Kunstverbrechern" wie Werner Krauß offenbarten die Auflösung des Konsenses auch im Ensemble. "Alles, an was ich im Theater glaube, ist nicht mehr da bei euch", zürnte Maria Becker. Max Frischs "Gemeinschaft von Menschen, die wissen, warum sie spielen und wofür sie spielen" war nur mehr nostalgische Reminiszenz.

Im Zürcher Literaturstreit zwischen Emil Staiger und Frisch kündigte sich schon 1966 jener Kulturkampf an, der sich drei Jahre später, als der neue Direktor Peter Löffler die hohl gewordene "Kontinuität" explizit aufkündigt, in einem Eklat entladen sollte. Nach nur drei Monaten mußte Löffler zusammen mit seinem Kettenhund Peter Stein wieder gehen: Das Experiment, ein satt gewordenes Theater durch Provokationen aufzurütteln und zu seinen großen Anfängen zurückzuführen, war gescheitert, ehe es begonnen hatte. Damit war nun ein zweiter Mythos geboren, der von der "Gruppe Stein" und ihren Erben bis heute gepflegt wird: der von einem Theater, das hilf- und orientierungslos in den Fesseln des Establishments schmachtet.

Aber so einfach lagen die Dinge noch nie. Schon in der Abstimmung um neue Subventionen 1971 geriet das Schauspielhaus zwischen die Fronten von sozialdemokratischen Umverteilern, Verwaltungskamarilla und Züriberg; reaktionäre Kulturverächter standen an der Seite der alternativen Szene, die den "erzkapitalistischen" Kulturtempel vergesellschaften oder doch seiner Privilegien berauben wollten.

Kröger und Exinger beklagen zu Recht die kühle, oft sogar abweisende Haltung der Stadt zu ihrem Schauspielhaus, an der Inkompetenz und Parteilichkeit der lokalen Kritiker ein gerüttelt Maß an Schuld tragen sollen. Um so leidenschaftlicher und gründlicher legen die Deutsche und der Österreicher sich ins Zeug für ein Theater, das sich unbeirrt in die "liberale und demokratische Tradition, die von unseren Ländern verraten wurde", stellt. Das Zurechtrücken eines von Feinden und Dilettanten, Krämern und Nostalgikern verzerrten Bildes ist für sie ein Akt später Wiedergutmachung, und ohne dieses Wohlwollen wären ihnen wohl auch kaum die Archive geöffnet worden.

An fleißigem Aktenstudium und hochherziger Parteinahme haben es die beiden Theaterhistoriker also nicht fehlen lassen, wohl aber an einer gelassenen Souveränität, die Schneisen in das Gestrüpp der Vermerke, Protokolle und Kritiken schlagen und die "Zürcher Bedingungen" in einen allgemeineren zeit- und theatergeschichtlichen Kontext einbetten könnte. "In welchen Zeiten leben wir!" ist eine in seiner Materialfülle erschöpfende Studie über Strukturen und Entscheidungsprozesse in einem komplizierten Machtgeflecht, und mehr kann man von einem Rechenschaftsbericht zum sechzigjährigen Jubiläum einer Aktiengesellschaft kaum erwarten. Was hinter den Kulissen gespielt wurde, wissen wir nun. Aber da liegt nicht die ganze Geschichte des Schauspielhauses. MARTIN HALTER

Ute Kröger und Peter Exinger: ",In welchen Zeiten leben wir!' Das Schauspielhaus Zürich 1938 bis 1998". Limmat Verlag, Zürich 1998. 463 S., Abb., 68,- DM.

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